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Sergei Mironowitsch Kirow wurde am 1. Dezember 1934 in Leningrad durch Leonid Wassiljewitsch Nikolajew ermordet.

Nikolajew war 1904 in Sankt Petersburg geboren worden und ohne Vater aufgewachsen. Das rachitische Kind wurde nur 1,50 m groß und später vom Wehrdienst freigestellt.

Nach dem Besuch einer städtischen Schule wechselte Nikolajew schließlich an eine Ausbildungsstätte der kommunistischen Partei.

In den 1920er Jahren traf man Nikolajew auf diversen Arbeitsstellen in Leningrad an. So war er als Schlossergehilfe, als Angestellter des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol und schließlich Lehrer am Parteigeschichtlichen Institut beim Leningrader Gebietskomitee der kommunistischen Partei beschäftigt. Seit 1924 war Nikolajew Mitglied der kommunistischen Partei.

Da es jedoch zu wiederholten Auseinandersetzungen mit seinen Vorgesetzten gekommen war, wurde Nikolajew zu Beginn der 1930er Jahre aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, 1934 jedoch wieder aufgenommen. 1925 hatte Nikolajew Milda Petrowna Draule geheiratet. Das Paar hatte zwei Kinder.

Unter der Annahme, Kirow habe eine Liebesbeziehung mit seiner Frau Milda, suchte Nikolajew am 1. Dezember 1934 den Smolny auf, um ihn zu töten. Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten wurde Nikolajew an diesem Tag nicht beim Betreten des Smolny durchsucht. Auf diese Weise konnte er seinen Nagan-Revolver mit in den Smolny schmuggeln und im Inneren des Gebäudes auf Kirow schießen, der am folgenden Tag verstarb.

Stalin selbst führte die Befragung von Nikolajew durch, der den Mord an Kirow zugab.

Unter Zusammenstellung teilweise gefälschter Indizien wurde Nikolajew der Prozess wegen des Mordes an Kirow und der angeblichen Zugehörigkeit zu einer konterrevolutionären Organisation namens Leningrader Zentrum gemacht. Am 29. Dezember 1934 wurde Nikolajew gemeinsam mit 115 weiteren Personen erschossen. Seine Frau Milda wurde nun ebenfalls verhaftet und im März 1935 erschossen. Die Verhaftungswelle, die unter dem Vorwand der konterrevolutionären Betätigung nunmehr jeden Bürger im Land treffen konnte, rollte an.

Bereits am 1. Dezember 1934, dem Tag des Attentats auf Kirow, begann die sogenannte Anti-Terror-Gesetzgebung mit einer einschneidenden Direktive:

„1. Untersuchungsbehörden werden angewiesen, die Fälle jener zu beschleunigen, denen vorgeworfen wird, Terrorakte vorbereitet oder ausgeführt zu haben; 2. Justizorgane werden angewiesen, die Ausführung von Todesurteilen, die sich auf Verbrechen dieser Kategorie beziehen, nicht hinauszuzögern, weil die Möglichkeit einer Begnadigung in Betracht gezogen wird, weil das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR es nicht für möglich erachtet, Petitionen dieser Art entgegenzunehmen; 3. Die Organe des Kommissariats für Innere Angelegenheiten werden angewiesen, die Todesurteile gegen Kriminelle der obengenannten Kategorie unmittelbar nach der Verhängung der Urteile zu vollstrecken.“

(Quelle: Avel Jenukidze: Antiterror-Direktive des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR,1. Dezember 1934, zitiert nach Nikita S. Chruschtschow: Geheimrede vor dem 20. Parteitag der KPdSU, Februar 1956, in: 'Die Entthronisierung Stalins', Manchester 1956, S. 11)

Es begann die Periode der Jeschowtschina oder der Tschistka. Jeder, der tatsächlich oder potentiell oder auch nicht im Geringsten oppositionell oder politisch unzuverlässig war, konnte betroffen sein.

Stalin selbst, aufgewachsen in Konspiration und illegalem Kampf, zweifelte keineswegs daran, dass eine gewaltige Verschwörung im Gange war. Eine Verschwörung gegen die Revolution und gegen die Regierung der UdSSR. Eine Verschwörung gegen die Führung der kommunistischen Partei. Eine Verschwörung, die, wie schon all die anderen Verschwörungen, die die Geheimpolizei seit 1917 erfolgreich aufgedeckt hatte, letztendlich dem Ziel diente, den Sozialismus in der UdSSR zu beseitigen und den Kapitalismus erneut zu errichten. Darauf und nur darauf allein, arbeiteten sie alle hin, die Feinde der Sowjetunion im kapitalistischen Ausland und all ihre Helfer im Inland, die sich als emsige Kommunisten tarnten!

Er aber, Stalin, der Generalsekretär der KPdSU, der Woschd, er hatte sie alle durchschaut! Er hatte ihnen die Maske vom Gesicht gerissen und dahinter die gefletschten Zähne der Konterrevolution erkannt!

Ja, das Wachsamsein hatte er schon in frühester Jugend gelernt, denn die Konterrevolution schlief niemals. Also hatte auch er sich angewöhnt nie zu schlafen, um nicht von der Konterrevolution übertölpelt zu werden. Und wenn es so aussah, als schliefe er, so wachte er in Wahrheit, denn er hatte längst gelernt, während all der endlosen Sitzungen mit offenen Augen zu schlafen, während er scheinbar ins Nichts hinein blickte, während sie die immer gleichen Worthülsen zu seinem Lobe aussprachen, die die Angst, die nackte Angst, zu sterben oder in eines der Lager in der Nähe des Polarkreises zu wandern für die nächsten dreißig Jahre, ihnen unablässig befahl, auszusprechen.

Sie waren Ratten und Wölfe, die die Gier lenkte, sich mit den Kapitalisten im Ausland zusammenzurotten, um das heilige Werk Lenins zu vernichten und die befreite Arbeiterklasse, die von der Fron der Jahrhunderte endlich erlöste russische Bauernschaft, wieder in stählerne Ketten zu legen und sie auszubeuten, sie ihres Blutes zu berauben, ihrer Freiheit, ihres Verstandes und letztendlich ihrer Menschlichkeit!

Von seiner Familie, die zu diesem Zeitpunkt aus seiner Tochter Swetlana, der Schwester ihrer Mutter, Anna Sergejewna Redens, Annas Mann Stanislaw Redens, dem Bruder von Swetlanas Mutter, Pawel Allilujew, Fjodor Allilujew, Jascha, Stalins Sohn aus erster Ehe, dessen Frau Julia, weiteren Mitgliedern der Familie Swanidse und der Haushälterin Valentina Istomina bestand, hielt Stalin all diese Dinge fern. Über nichts dergleichen wurde je gesprochen.

Während er zu Hause Tochter Swetlana ein Literaturstudium ausredete und sie stattdessen zwang, Geschichte zu studieren, während er oft vom Kreml aus ins Bolschoi-Theater ging, vor allem dann, wenn dort das nach dem toten Kirow benannte Ballett Schwanensee gab, bereitete Stalin geistig die Dinge vor, die er als Antwort auf die Wühltätigkeit der Konterrevolution verstand: die Jeschowtschina oder Tschistka.

Bereits am 2. Dezember 1934, einen Tag nach den Schüssen auf Kirow und am Tage seines Todes, wurde nahezu die komplette Führung des Leningrader NKWD verhaftet. Die Geheimdienstoffiziere sahen einem Prozess wegen Vernachlässigung ihrer Pflichten entgegen. Am 4. Dezember 1934 wurde Kirow durch ein Staatsbegräbnis in Moskau beigesetzt. Stalin ehrte ihn, indem er persönlich die Totenwache hielt.

Am Tag der Beisetzung von Kirow, am 4. Dezember 1934, begann der erste Prozess gegen angebliche weißgardistische Terroristen:

„Die Personen, die kürzlich in verschiedenen Städten der UdSSR aufgrund von Gerichtsurteilen hingerichtet wurden, ... waren für schuldig befunden worden, Terrorakte geplant und durchgeführt zu haben. ... Die Mehrheit von ihnen drang illegal aus dem Ausland in die Sowjetunion ein und, wie sich herausstellte, besaß Bomben, Granaten, Revolver und andere Waffen. Vor Gericht gaben sie offen zu, dass sie Feinde der Sowjetunion seien und gestanden die Ausführung der ihnen zur Last gelegten Straftaten ein.“

(Quelle: Iwan Maiski: Erklärung zu Prozess und Hinrichtung von Terroristen, 2. Januar1935, in: Jane Degras, Hrsg.: 'Sowjetische Dokumente zur Außenpolitik', Bd.3, London 1953, S. 100)

Noch im Jahre 1934 „entdeckte“ der eifrige Chef des Leningrader NKWD, dass Nikolajew, der Mörder Kirows kein Einzeltäter war, sondern dass sich hinter ihm das sogenannte Leningrader Zentrum verbarg, welches über Kontakte zum Zentralkomitee Komsomol verfügte. Kurz, es wurde „entdeckt“, dass eine landesweite Verschwörung hinter dem Attentat auf Kirow steckte, an der auch Stalins ehemalige Kampfgefährten Sinowjew und Kamenew beteiligt waren. Alle wurden verhaftet und vor ein Gericht gestellt. Alle wurden sie am Ende erschossen.

Doch die Verschwörung zog immer weitere Kreise. Se war wie eine Epidemie, wie die Pest, die man nicht zu isolieren vermochte und die unter dem Volke grassierte, wie eine Seuche.

1935 begannen die Prozesse gegen das Leningrader terroristische Zentrum und gegen Sinowjew und Kamenew.

Stalin erinnerte sich an seine Zeit auf dem Priesterseminar von Tbilissi, während er an seinem Schreibtisch saß, die Pfeife im Mund und Akten studierte. Er erinnerte sich an die biblische Geschichte von Hiob, dem gerechten Dinner Gottes. Und der Teufel hatte Gott zugesetzt, doch Hiob zu prüfen und zu schlagen. Und am Ende hatte Gott mit dem Teufel gewettet, dass Hiob, nach dem er seine Liebsten getötet, ihm sein ganzes Hab und Gut genommen und ihn mit der Lepra, dem Aussatz, geschlagen haben würde, ihn, Gott dennoch für all das, was ihm angetan worden war, preisen und loben würde. Und so geschah es.

Und Stalin wollte, dass all die angeklagten Männer und Frauen, wenn sie vor dem geifernden und eifernden Wischinsky standen, der mit brillanter Rhetorik im Namen des Volkes ihren Tod forderte, sich, wie Hiob, selbst anklagten und ihre Henker am Ende noch priesen. Und so geschah es tausendfach.

Nach dem Leningrader terroristischen Zentrum wurde nunmehr ein Moskauer terroristisches Zentrum aufgedeckt.

Und in der Prawda stand darüber:

„Die Angeklagten gaben zu, ...dass sie versucht ... hatten, die Gefühle der Verbitterung und des offenen Hasses gegen die Führer der Partei und der Sowjetmacht zu bestärken. ..Unter der Last von Beweisen waren sie gezwungen zuzugeben, dass sie in jenem vergifteten, sinowjeschen konterrevolutionären Pfuhl echte weißgardistische Kampfmethoden gegen die Sowjetmacht entwickelten und bestärkten sowie ein offen terroristisches Temperament, welches zu dem abscheulichen Mord an dem Genossen Kirow führte.“

(Quelle: Prawda vom 17. Januar 1935)

Ebenfalls im Januar 1935 fand der Prozess gegen Leningrader Sicherheitspolizeioffiziere statt. Im Juli 1935 schließlich der zweite Prozess gegen Kamenew. Im späten Frühling des Jahres 1936 kam es zum Prozess gegen das trotzkistisch-sinowjesche terroristische Zentrum. Im Januar 1937 fand der Hochverratsprozess gegen Pjatakow, Radek und andere statt.

1938 kam es zum Hochverratsprozess gegen Bucharin, Jagoda und Rykow.

Stalin sagte dazu:

„Wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“

(Quelle: Schlögel: Terror und Traum. S. 459. Zitat auch bei Baberowski: Der rote Terror. S. 182)

Schätzungen gehen davon aus, dass Stalin während der Säuberungen insgesamt etwa 1,5 Millionen Personen exekutieren ließ. Etwa 5 Millionen Verhaftete starben nach und nach in den Gulags. Von insgesamt annähernd 7,5 Millionen Deportierten verloren annähernd 1,7 Millionen Menschen ihr Leben.

Eine weitere Million an Kriegsfangenen und deutschen Zivilisten kamen zu einem späteren Zeitpunkt bei den Säuberungen ums Leben. Man kann also von mindestens 9 Millionen Opfern bis zu insgesamt 20 Millionen Opfern während aller Säuberungswellen unter Stalin ausgehen.

Unter diesen Opfern waren auch 13 einstige Mitglieder des Politbüros der KPdSU: Bubnow und Bucharin, Kamenw und Kossior, Krestinski, Rudsutak und Rykow, Serebrjakow, Sokolnikow, Sinowjew und Trotzki, Tschubar sowie die drei Kandidaten des Politbüros Eiche, Jeschow und Postyschew.

98 einstige Vollmitglieder beziehungsweise Kandidaten des Zentralkomitees der KPdSU, mehr als 15 frühere Mitglieder der Regierung der UdSSR, darunter Radek, Jagoda und Jeschow, Krylenko, Rosenholz und Grinkow, Brjuchanow, Anatow und Meshlauk.

Es starben insgesamt 3 von 5 Marschällen der Sowjetunion: Blücher, Tuchatschewski und Jegorow.

Es starben 15 von 15 Armeekommandeuren. Es starben alle 16 Politkommissare der Armeen.

Es starben 25 von 28 Korpskommissaren. Es starben sämtliche 11 Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung. Es starben 98 von 108 Mitgliedern des Obersten Militärrats.

Es mussten die Trotzkisten bekämpft werden, die abtrünnigen Gründer der III. Internationale! All die Verschwörer unter der Maske des Kommunisten oder des harmlosen und angeblich völlig unpolitischen Menschen!

Es mussten die Gegner der Sowjetmacht abgeurteilt und wie Gewürm zertreten werden. All jene, die tatsächliche oder künftige Kollaborateure waren, die gemeinsame Sache machten mit den Kapitalisten in Deutschland und Finnland, in Japan und in Polen! Die Klassenfeinde mussten erschossen werden. Auch ausländische Kommunisten, die sich unter dieser Maske legal oder illegal im Lande aufhielten! Die abtrünnigen Völker und ethnischen Minderheiten mussten deportiert oder in die Gulags geschickt werden, wo man sie brauchte, damit sie buchstäblich mit ihren bloßen Händen den Weißmeer-Ostsee-Kanal, die Transsibirische Eisenbahn, die Baikal-Amur-Magistrale und all die anderen gewaltigen Bauwerke der Sowjetmacht errichten würden! Damit sie in den Gulags bei harter Arbeit, bei 300 Gramm feuchtem Schwarzbrot und einer Kascha, einer Brennesselsuppe am Tag, bei Frost in dünnen hölzernen Baracken, winters in Sommerbekleidung, gepeinigt von Kälte und Plansoll, endlich zu besseren Menschen oder einfach sterben würden!

Auch die Kulaken, ob sie nun tatschlich Kulaken waren oder es zugaben oder nicht, die Mönche, die Priester, die kirchlichen Laien und selbst die schuldlosen Angehörigen der Schuldigen und der angeblich Schuldigen, sie alle mussten verhaftet werden, um das Plansoll der Verhaftungen zu erfüllen und all die Straflager zu beschicken, die auf die Arbeitskraft dieser Menschen warteten!

Väterchens Misstrauen. Die Welt des Josef Stalin

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