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Die Trauma-Fahrt

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Es begab sich einst ein Mann ohne Vergangenheit auf eine Reise ohne Ziel durch ein Land ohne Zukunft. Dieses Land, so hatten sie ihm erzählt, hieß Neonmerika und war der Rest eines verseuchten Planeten, der nach der Zeit der Katastrophen und nuklearen Wasserkriege übriggeblieben war. Die Amerikaner als absolute Alleinherrscher hatten darauf ihren großen Traum realisiert, doch der Preis dafür war ein täglich-nächtlicher Todestraum, der noch so lange dauern würde, bis das Ende der Welt für alle Ewigkeiten erreicht wäre. Aber ihn, diesen Niemand aus einem Niemandsland, brauche das weder zu kümmern noch zu bekümmern, hatten sie ihm mit auf den Weg gegeben. Er solle einfach immer nur dem vorgegebenen Pfad folgen, seinen Wagen und sein Leben laufen lassen, sich keine Sorgen um die Sorgen machen und sich nicht vor der Einsamkeit ängstigen, dann werde er früher oder später das ganz von allein kommende größte Glück erfahren, das Wissen davon, wie man sich selbst gehören kann.

Und es dauerte nicht lange, viel kürzer, als er gedacht hätte, bis er dieses Gefühl in sich trug wie ein Kleinod aus dem Ozean der Erhabenheit. Er reiste Unendlichkeiten durch menschenleere Ruinenstädte, ausgetrocknete Seen und Baumfriedhöfe, und dennoch gelang es ihm scheinbar mühelos, das Selbst immer wieder aus den Tiefen der eigenen Existenz zu nähren. Es war, als habe die Natur aufgegeben zu atmen, und doch besaß er die Fähigkeit, seinem eigenen Sein stets aufs neue Leben einzuhauchen.

Als dieses ihm von einer undefinierbaren Macht geschenkte Glücksgefühl jedoch zunehmend gewöhnlicher zu werden und an Substanz einzubüßen begann, geschah mit ihm, der bislang durch die Endlosigkeit gefahren war wie ein beteiligter Unbeteiligter, etwas Ungewöhnliches: Zum ersten Mal, seit er unterwegs war, sah er in unmittelbarer Ferne eine der Neonklaven aufleuchten. Obwohl sie ihn eindringlich davor gewarnt hatten, dort hineinzufahren, war es ihm nicht möglich, sich der magischen Anziehungskraft des blaureinen Lichts zu widersetzen. Er wusste nicht, wie lange er sich bereits durch dieses monotone Grau, diesen nicht enden wollenden Tropensommer ohne Sonne hindurch gerungen hatte, und deshalb fiel es ihm jetzt leicht, statt sich von ihren Anweisungen von dem kalt blitzenden Magnetismus jenes Fixsterns, der Blue Italy für ihn war, leiten zu lassen. Nun, da er spürte, wie unglücklich er in Wirklichkeit während der ganzen bisherigen Expedition in dieses befremdliche Weltreich gewesen war, wie sehr ihn die Vereinzelung ausgehöhlt hatte, überwog die Aussicht auf Menschheit, so verkommen sie auch sein mochte, die auf das Sterben.

Hätte er vorher gewusst, was für ein Szenario sich in Blue Italy abspielte, er würde sich niemals dorthin gewagt haben. Doch da er zu wissen glaubte, dass man es, wenn überhaupt, immer erst hinterher wusste, wusste er, dass er in diesen Sektor des Ungeheuerlichen musste. Darum bereute er sein Abweichen vom Weg der Verlassenheit, auf dem er sich nun wieder befand, nicht. Das einzige, was er bereute, war, dass er offenbar noch lebte, obgleich er glaubte, gleich mehrfach hingerichtet worden zu sein. Vielleicht war er ja auch schon längst gestorben und schwankte nun im Schattenreich eines anonymen Todes durch eine Gegend, in der es offenbar nichts zu erwarten gab als eine stumme Nachtwüste, die all seine Hoffnungen, die sie ihm gemacht hatten, unter sich begrub und seine Seele vertrocknen ließ.

Gerade aber, als er sich auf dem Tiefpunkt seiner Spazierfahrt durch die Betrübnis wähnte, mit ihr und sich abzuschließen bereit war, nahm sein Gehör Töne wahr, deren Schwingungen ihn mit einem Male ins Dasein des Erlebens zurückwuchteten. Und nun glaubte er sie auch zu erkennen, jene Soundgewalten, ganz groß am Horizont aufgestanden. Er spürte, wie sie in ihm ineinander donnerten, und es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich ihrem Klang hinzugeben.

So ließ er sich denn Augenblicksewigkeiten treiben von einem oszillierenden Beat, durch den er zunächst in bewegte Erregung geriet. Doch je länger er im Takt der Musik so dahinfuhr, sosehr ihn all deren Subtilitäten faszinierten, desto intensiver spürte er den ihr innewohnenden Kaputtmechanismus, der ganz allmählich aus der Tiefe des Basses an die Oberfläche seines Bewusstseins gedrungen war, bis er ihn schließlich aus einem Taumel der Ekstase riss mitten hinein in einen der Todtraurigkeit. Wenn er nun ein Glück hätte wählen dürfen, dann, von den nahezu unerträglichen Schmerzen befreit zu werden, die ihn seit Blue Italy befallen hatten wie ein unzerstörbares, zerstörerisches Virus.

Der Wunsch nach dem paradiesischen Nichts, dem vollkommenen Schwarz wurde ihm nicht erfüllt. Als er wieder aufwachte, begann der Albtraum erneut, und zwar noch heftiger als zuvor. Im Gefühl, sein Wille gehöre einem anderen, schnellte er auf Red Germany zu, und noch bevor er einigermaßen zu sich gekommen war, befand er sich bereits in Green England, das grenzenlos in Yellow Australia überging. Keinen Moment später fiel er schließlich wieder in Blue Italy umher.

Er hatte nicht das Empfinden, als sei er auch nur einen Schritt vorangekommen, eher, als bewegte er sich in einem Kreis, dessen einzige Ordnung das Chaos war. Unaufhörlich flossen die unterschiedlichen Neonfarben ineinander und wieder auseinander, nahmen die Mischformen all der auf seltsame Weise miteinander verbundenen Distrikte in ebenso stetiger Unstetigkeit neue an. Analog dazu erhielt der Schrecken von Mal zu Mal ungeahntere Dimensionen. Kaum war neues Leben erwacht, wurde es zusammen mit allem älteren umgebracht, und der einzige, der wie durch ein sich immer wieder wiederholendes Wunder überlebte, war er. Weil es aber kein losgelöstes Sehen gab und er mehr Elend zu Gesicht bekommen hatte, als ein Mensch vertragen konnte, verfluchte er es immerzu und verlangte schreiend nach der Erlösung, setzte dabei sein Leben mehrfach auf ein Spiel, dessen Regeln er von irgendwoher zu kennen schien. Obwohl er seine Existenz tausendmal verlor, gewann er sie ebenso viele Male zurück. «Black Jack», dröhnte es dann jeweils durch seinen Kopf, worauf er sich jedes Mal erbrach, bis er schließlich völlig zusammen- und auseinanderbrach.

Mild platzende Silbertropfen holten ihn zurück aus dem Nirgends, und als sie ihm die Augen öffneten für einen Weg, der ihm anfangs nichts zeigte außer Trübseligkeit, fragte er sich, ob das der Regen war, aus dem die Tränen der Verzweiflung gemacht wurden. Es war ein Weg voller Leere, und es kostete ihn viele seiner wenigen Energien, diese Leere mit irgend einer Hoffnung auf irgend etwas auszufüllen.

Ohne zu wissen, was ihn weitermachen ließ, reichte sein Durchhaltevermögen aus bis zu einer Stelle, an der es unverhofft steil aufwärts ging. Er war angelangt am Fuße des Berges der Katharsis, und auf einmal waren es nur noch ganze sieben Schritte bis zum Gipfel der Glückseligkeit.

Er machte ohne zu zögern den ersten und hörte seine Stimme sagen: Ich mag es, meine Innenwelt in Zeiten des Alleinseins zu erforschen, worauf seine Beine zu zittern begannen.

Trotzdem wagte er den zweiten und hörte sich zu sich sagen: Mein Wohlstand beginnt im Geist. Ich bin der Überfluss, der mich erschaffen hat, worauf in seinem Kopf ein Vakuum entstand.

Dennoch ging er weiter und flößte sich beim dritten Schritt ein: Ob meine Probleme real oder eingebildet sein mögen, stets gehe ich realistisch und positiv denkend mit ihnen um, worauf er zu schluchzen begann.

Doch auch davon ließ er sich nicht abhalten und flüsterte sich während des vierten Schritts zu: Fülle und Schönheit der Natur spiegeln mein eigenes Wesen, worauf ein zerborstenes Eismeer vor ihm erschien.

Aber so sehr ihn von nun an fröstelte, er riskierte den fünften Schritt und versicherte sich dabei: Es gibt nichts zu fürchten, worauf er spürte, wie sie ihm eine Schlinge um den Hals legten und mit einem Strick so festzogen, dass er daran zu ersticken drohte.

Trotzdem reichte sein Atem für den sechsten Schritt, während dessen er sich soufflierte: Ich verfüge über die natürliche Fähigkeit, mich jederzeit wieder aufzubauen und zu heilen, worauf er sich im Lotossitz zwei Pistolen an die Schläfen halten sah.

Aber er drückte nicht ab, sondern rappelte sich auf und erklomm schließlich den Gipfel der Glückseligkeit, wo er mit letzter Anstrengung zu sich sprach: Ich bin ein strahlendes Lichtwesen und fühle ein verzehrendes Feuer himmlischer Liebe in mir, worauf er sich in einem sich selbstverbrennenden ZEN-Buddhisten wiedererkannte.

Es war ein Tag zum Genießen, einer, an dem man die Seele locker durchschwingen lassen konnte. Zum ersten Mal während seiner Tortur schien die Sonne. Offenbar war er in einer neu erschaffenen, reinen Welt auf ebenjene gekommen. Vielleicht hatte er eine Reinkarnation erfahren, die ihn zwar die alten Leiden nicht vergessen, ihn aber keine weiteren durchleben ließ. Womöglich hatte er all die von seiner nun spürbaren Seele wie weggestrichenen Qualen und Ängste erdulden müssen, um der zu werden, der er wirklich war.

So fuhr er denn in Zufriedenheit fort, bis sie ihn schließlich brachte an einen erwartungsvollen Ort. Es war das Land der Verführung, und kaum an dessen Zentrum angekommen, wurde er von einem Schokoladenmädchen in Empfang genommen. Sie schenkte ihm ihre wunderschöne rote Rose, doch sooft er sie auch begoss, es trat niemals ein, was sie ihm eingangs versprochen hatte, die Erfüllung seiner nicht geträumten Träume zu sein. Stattdessen überkam ihn mit einem weiteren Male eine sonderbare Pein, hörte er sich plötzlich: «Donna», schreien und stürzte in eine tiefe Schlucht hinein.

Er lag noch immer am Boden, fühlte sich wie in Scheiben geschnitten, und er war klar genug bei Verstand, um zu wissen, dass er sehr verwirrt war. Nun strömten Bilder durch seinen Kopf, die in ihm eine Flut von Emotionen verursachten und die Frequenz seines Herzens bis zum Anschlag erhöhten. Er bemühte sich, eine Synthese zwischen seiner Reise durch Neonmerika und dem davor Geschehenen herzustellen, aber immer dann, wenn die Fäden zusammenzulaufen begannen, verlor er sie wieder. Er war schlichtweg noch zu aufgewühlt, um all die irgendwie miteinander verflochtenen Erlebnisse logisch aufzulösen, und der Grund für diesen inneren Aufruhr trug vor allem zwei Namen: Donna und Louisa. Nun, da ihm sein Gedächtnis verriet, dass es in seinem Leben einmal eine Frau und eine gemeinsame Tochter gegeben hatte, war es ihm kaum mehr möglich, an etwas anderes zu denken. Im Prinzip drehte sich fortan in seinem Gehirn alles um die beiden Menschen, die er liebte, und die Frage, ob sie noch am Leben waren.

Die Möglichkeit, dass sie nicht mehr auf der Welt zugegen waren oder in einer anderen zu Hause als er, lähmte ihn zunächst. Dann aber sagte er sich, dass er schließlich nichts zu verlieren habe. Wenn Louisa und Donna tot waren, waren sie, so furchtbar das auch wäre, tot. Wenn sie noch lebten, er sie aber nicht fände, wäre das kaum minder traurig. Am schlimmsten jedoch wäre gewesen, wenn er erst gar nicht versucht hätte, nach ihnen zu suchen. Und vielleicht, machte er sich Mut, war das Schokoladenmädchen ja ein zerschmelzender Traum gewesen, der allein dazu bestimmt war, ihn zurück in seine Vergangenheit zu führen und damit in eine bessere Zukunft. Sich an dieser Deutung festhaltend, stand er auf, und nachdem ihm die ersten Meter noch große Mühe bereitet hatten, nahmen mit jedem weiteren Dynamik und Zuversicht zu. Wenn du dich von dem führen lässt, was für dich Herz, Verstand und Sinn hat, wirst du Erfolg haben, hörte er seine innere Stimme sagen. Und dieses Mal hatte er das untrügliche Gefühl, dass sie ihn nicht betrog. In dem Glauben, dass alles, was bisher schiefgelaufen war, seine Richtigkeit hatte, dass sämtliche Unverständlichkeiten die unverzichtbaren Bestandteile einer am Ende schlüssigen und glücklichen Geschichte waren, irrte er unbeirrt durch ein Labyrinth von Wegweisern, bis er schließlich dort ankam, wohin er sich immer gewünscht hatte.

Neonmerika

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