Читать книгу Triumph der Lüge - Schweden-Krimi - Ralph Herrmanns - Страница 7

II

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An dem Montag im September, an dem endgültig klar war, daß der Generalsekretär der UNO, Jakob Ceder, wieder schwedischer Staatsminister geworden war, ging Jörgen Blom in Pension. Diejenigen, die seine politischen Ansichten und seine Meinung über Ceder kannten, sahen einen Zusammenhang, den es nicht gab. Blom hatte das Büro B, den schwedischen Geheimdienst, schon im Juni um seine Entlassung gebeten, aber bereits im Mai hatte er von dem siegessicheren Generalsekretär einen hohen Posten in der zukünftigen sozialdemokratischen Regierung zugesagt bekommen. Blom hatte mit den Schultern gezuckt; Ceder war für voreilige Versprechen bekannt, die dann doch erst eingelöst wurden, wenn die Partei ihre Zustimmung gegeben hatte. Ceder war auch als geschwätziger Kritiker des schwedischen Geheimdienstes und der Spionageabwehr bekannt. Vielleicht fühlte er sich Blom in gewisser Weise zu Dank verpflichtet, denn der hatte ihm in Jerusalem das Leben gerettet und dabei seine eigene Karriere aufs Spiel gesetzt.

Blom wußte, daß er für rücksichtslos und eigenmächtig gehalten wurde, er hatte sich oft über die Anweisungen der Planungsabteilung hinweggesetzt, und er hatte sowohl mit Mossad, dem israelischen Geheimdienst, als auch mit der Spionageabwehr des FBI zusammengearbeitet. So verhielt sich kein schwedischer Geheimdienstmann. Bloms Chef begann in ihm ein Sicherheitsrisiko zu sehen, einen Beamten, der sich weigerte, Anweisungen der Regierung zu befolgen und statt dessen selbständig handelte. So etwas durfte es in Schweden nicht geben, einem Land, in dem die Tätigkeit des Sicherheitsdienstes durch Kapitel achtzehn und neunzehn des Strafgesetzbuches geregelt ist und in dem das Personal des Geheimdienstes wie eine Hebamme arbeitet: nicht mit Kraft, sondern mit Geschicklichkeit. Nur Jörgen Blom hatte The Swedish Way verlassen.

Blom hatte sich achtundvierzigjährig vorzeitig pensionieren lassen, bevor man ihn zu einer anderen Aufgabe überreden konnte, zum Beispiel in einer der offenen Abteilungen in der Reichspolizeileitung. Nun würde die Sicherheitspolizei ihn wahrscheinlich gelegentlich beobachten und alle Ausländer, mit denen er in Kontakt war, genau durchleuchten. Er hoffte, daß Sven Åke Hjälmroth weibliche Überwacher auf ihn ansetzen würde. Im siebten Stock des Polizeihauses auf Kungsholmen gab es einen Flur, auf dem hinter jeder Tür Frauen saßen, Reeperbahn wurde der genannt. Die Königin der Reeperbahn hieß Monika Hasselgren, war 38 Jahre alt, blond, schlank, ging gern tanzen. Auf dem Parkett verschwieg sie ihren Partnern allerdings ihren Beruf.

Blom hatte die Schule nach der mittleren Reife verlassen und war Matrose auf der Sunnanland geworden, wo er im Maschinenraum arbeitete. In Alexandria hatte er sich zwei Propeller auf das Gesäß tätowieren lassen. Er hängte die Seefahrt an den Nagel, wurde Taucher in einem Bergungsunternehmen und im Laufe der Zeit Ombudsmann im Stockholmer Jugendverband der bürgerlichen Partei. Nach einer Wehrübung 1964 auf Järvafältet hatte er eine Anstellung im Büro B bekommen. Sowjetische Froschmänner hatten mit Übungen in der schwedischen Küstenregion begonnen und GRU, der Geheimdienst des russischen Militärs, bildete Sabotageeinheiten auf der schwedischen Seite der Zwölfmeilenzone aus, kontrollierte die Minenfelder im Skärgård und übte Landungsunternehmen mit kleinen Verbänden. Gleichzeitig arbeitete der KGB, der staatliche Geheimdienst der Sowjets, in Schweden. Jörgen Blom wurde beauftragt, eine Bestandsaufnahme aller dieser Aktivitäten anzufertigen. Häufig übte der KGB zielstrebigen, raffinierten und unmenschlichen Druck auf Leute aus, die von den Geheimdiensten als wertvoll eingestuft waren. Seit 1979 wurde diese Arbeit von Eugen Radek geleitet, der Kulturattaché an der sowjetischen Botschaft in Marieberg war. Radek und andere KGB-Offiziere vermieden den Kontakt zu den linken Gruppen in Schweden. Statt dessen suchten sie sich ihre Objekte unter den gelangweilten Bürgern in der Verwaltung, im Verteidigungsbereich, in der Industrie, bei Pfingst- oder Baptistengemeinden.

Bloms Aufgabe im Büro B war es gewesen, ein weiteres Vorgehen zu verhindern und zum Gegenangriff überzugehen. Seine Erfolge waren als streng geheim eingestuft worden und die Ergebnisse, unter anderem zwei Morde, waren von geringem Nutzen bei der Suche nach einer neuen Arbeit. In fast allen anderen Berufen hätte Blom durch freundschaftliche Beziehungen innerhalb der Branche bald eine neue Anstellung gefunden – die meisten Jobs werden über solche Verbindungen besetzt. Blom mußte allerdings feststellen, daß er keine Freunde hatte, lediglich frühere Kollegen. Dafür machte er den Beruf verantwortlich: seit er im Büro B angestellt worden war, hatte er nie mit jemandem über seine Arbeit sprechen können, wie es sonst vorkommt, wenn Männer sich in ihrer Freizeit treffen. Und bei Treffen mit Frauen, in der Absicht, mit ihnen ins Bett zu gehen, lassen sie die Frauen erzählen.

Blom kannte viele Frauen. Des öfteren machte er sich Hoffnungen, die er dann selbst wieder zerstörte. Er glaubte nicht, daß auch nur eine einzige seinen eigentlichen Berufgeahnt hatte. Seine Anstellung als Bürochef bei der Einwanderungsbehörde gab ihm durch ihre absolute Langeweile einen effektiven Schutz.

Blom wußte, daß er eine Art emotionales Motel war, wo Frauen eher zufällig eine oder zwei Nächte verbrachten. Damit hatte er sich beinahe abgefunden, als die Jakob-Ceder-Affäre ihn zwang, mit einem der Operationschefs des israelischen Geheimdienstes zusammenzuarbeiten, mit Tamara Amram. Einige Monate danach trafen die Israelin und er sich wieder, diesmal in New York anläßlich der vom Generalsekretär Jakob Ceder einberufenen Konferenz über den internationalen Terrorismus. Wieder arbeiteten sie zusammen, Tamara hatte ihm geholfen, einen Terroranschlag auf Zigtausende von Menschen zu verhindern. Während dieser Aktion war ihr Verhältnis zueinander enger geworden. Beide wünschten sich eine gemeinsame Zukunft, auch wenn keiner von ihnen sich vorstellen konnte, wie das zu bewerkstelligen war.

Tamara begann über Möglichkeiten zu spekulieren, Blom für den israelischen Geheimdienst anzuwerben. Blom ahnte ihre Absicht, die ihm nicht völlig abwegig erschien. Natürlich war so etwas in Schweden rechtswidrig, aber Moral und Recht waren auch früher schon auf Kollisionskurs gegangen. Ein erfahrener schwedischer Geheimdienstmann mit direktem Kontakt zu einem leitenden Mitarbeiter von Mossad würde einen verstärkten Nachrichtenfluß für Schweden bedeuten. Israel war gezwungen worden, sowohl den KGB als auch den GRU zu unterwandern, denn die Russen rüsteten seine Gegner in der arabischen Welt aus. Aber nach der Wahl des neuen Staatsministers war es mit einem Austausch von Informationen vorerst vorbei – Ceder war kein Freund Israels. Blom konnte sich vorstellen, daß Jakob Ceder die Informationen der Israelis an die PLO weitergab und damit direkt nach Moskau, nur um seine Neutralität zu beweisen.

Jörgen legte Bull Frog Blues mit Muggsy Spanier auf den Plattenteller und dachte über seine Zukunft nach. Wirtschaftlich war er abgesichert, dafür sorgten die Steuerzahler. Wer behauptete denn, daß man arbeiten mußte, um zufrieden zu sein? Es gab vieles, zu dem er früher nie gekommen war. Hinausfahren zu Thore Jederby und sich dessen Jazz-Memoiren aus dem Stockholm der dreißiger Jahre anhören. Die SchallplattenAntiquariate rund ums Rathaus und auf Folkungagatan durchstöbern. Einen Jugendtraum verwirklichen, nämlich auf dem roten Samtsofa vor der Liljeforskulisse im Biologischen Museum eine hübsche Besucherin verführen. Oder sollte er, wie etliche Kollegen der CIA, seine Erinnerungen schreiben: «JÖRGEN BLOM – SPION»? Der eine oder andere würde dann in die nächste Buchhandlung laufen, vor lauter Angst, darin nicht erwähnt worden zu sein.

Er ging in seine Kleiderkammer und packte die schmutzige Wäsche in ein Laken. Als er aus der Waschküche heraufkam, klingelte das Telefon.

«Blom», meldete sich Jörgen Blom.

«Shalom, Jorgen!» sagte Tamara.

Jörgen war nicht sehr gesprächig. Tamara wußte, wie mißtrauisch er war, er war überzeugt, daß alle Telefone in Israel abgehört wurden. Das war natürlich Unsinn. Nicht alle – ihres jedenfalls nicht.

«Ich kann Urlaub nehmen. Möchtest du, daß wir uns treffen?»

«Nicht in Israel», antwortete er spontan.

«Daran habe ich auch nicht gedacht. In Schweden. Bei dir.»

«Im Herbst regnet es hier meistens.»

«Regnet es auch in die Wohnungen hinein? Ist das Dach deines Schlafzimmers undicht?»

Jetzt lachte er. Was ihre sexuelle Beziehung betraf, so waren sie aneinander gewöhnt und sehr vertraut, in allen übrigen Dingen verhielten sie sich eher zurückhaltend. In New York im Mai hatte er ihr erzählt, daß er die Absicht hätte, dem Geheimdienst den Rücken zu kehren. Tamara fragte sich, ob er unter Depressionen litt, isoliert wie er war und ohne eine sinnvolle Aufgabe. Mossads Psychologen in Tel Aviv hatten darüber spekuliert, wie lange es dauern würde, bis Jörgen sich ausgestoßen fühlte und einsah, daß er sie brauchte. Tamara war dagegen nicht sicher, ob sie ihn überhaupt brauchte.

«Mein Schlafzimmer ist wasserdicht», antwortete er, «und mein Bett ist breiter als deins und schöner.»

«Na, dann ist es ja gut. Oder hast du eine andere Beziehung?»

«Ich will dir was sagen: Mir ist gerade klargeworden, daß ich keine Freunde habe.»

Beide schwiegen. Tamara fragte sich, ob der schwedische Geheimdienst mithörte.

«Wie viele, außer dir, sollen denn bei mir wohnen?» fragte er.

Das war natürlich ein Scherz, denn Jörgen wußte, daß leitende Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes nicht ohne Leibwächter ins Ausland reisen durften, weil sich überall in den USA und in fast allen europäischen Großstädten palästinensische Terroristen aufhalten. Schweden war zu einem Erholungsheim geworden, in dem sowohl die Palästinenser als auch die Israelis planten und infiltrierten.

Sie lachte. «Was tust du jetzt gerade?»

«Ich stehe am Fenster, schaue in den Park und beobachte drei Krähen. Jetzt trage ich das Telefon in das Schlafzimmer und überlege, ob du dich hier wohl fühlen würdest. Ich habe grüne Bettwäsche.»

«Kauf weiße. Ich komme am 21. Oktober.»

«Das hast du prima gemacht!» lobte Memuneh, der Chef des Mossad.

«Leicht war es nicht», zischte Tamara. «Du scheinst nicht zu verstehen, daß ich Jorgen wirklich mag.»

Die schlechte Laune übertrug sich auf den Geheimdienstchef. Er gehörte zu der Generation der Juden, die in den dreißiger Jahren aus Deutschland nach Palästina geflohen waren. Er hatte Steine gehauen, um fruchtbares Land zu schaffen, war freiwillig in die achte englische Armee eingetreten, um die Nazis zu besiegen und gleichzeitig zu lernen, wie man später die Engländer aus Eretz Israel vertreiben konnte. Sein einer Sohn war im Krieg 1956, der andere im Krieg 1973 gefallen. Eine Enkelin hatte er verloren, als die Palästinenser in Ma'alot mordeten, und einen Enkel vor Tyrus im Libanon im Juli des Vorjahres.

«Du bist dir wohl zu schade für einen Israeli! Blom ist nicht mal Jude, trotz des Namens.»

«Misch dich da bitte nicht ein, Arie. Aber du kannst mich natürlich rauswerfen, wenn du der Meinung bist, daß ich ein Sicherheitsrisiko darstelle.»

«Red kein dummes Zeug!» brummte Memuneh. Dann lächelte er und sah plötzlich erstaunlich milde aus. «Das darf nämlich nur ich tun. Willst du mir nicht etwas mehr über Jörgen Blom erzählen?»

Tamara fiel ein, was der vorherige Mossad-Chef über seinen Nachfolger gesagt hatte: «Arie ist sehr höflich. Es gelingt ihm, sowohl die gute Meinung, die er von sich selbst hat, zu verbergen, als auch die schlechte, die er sich über alle anderen gebildet hat. Ein typischer yecke.»

Yecke ist der Spitzname der Israelis für deutschstämmige Juden, die so korrekt auftreten, daß sie auch noch im heißesten Sommer ein Jackett, auf jiddisch yecke, tragen. Tamara war in Irkutsk in der Sowjetunion geboren.

«Gern», antwortete Tamara. «Jorgen ist recht konservativ und ein Patriot. Ausländer sollten möglichst in ihren Ländern bleiben, findet er, aber er hat nichts gegen die Einwanderer in Schweden, solange die sich ordentlich aufführen. Er reagiert eher gefühlsmäßig als intellektuell. Er weiß, daß er ein geschickter Geheimdienstmann ist. Trotzdem ist er unsicher im außerberuflichen Bereich. Daher analysiert er jede Situation, ehe er entscheidet, ob er sich gefühlsmäßig engagieren soll oder nicht. Die Frauen sind hinter ihm her, aber das führt selten zu einer dauerhaften Beziehung. Jorgen glaubt, daß das an seinem Beruf liegt, und behauptet, daß die Frauen ihm vorwerfen, er würde sie verachten. Ich sehe das anders, aber ich kenne natürlich nicht die anderen, mit denen er zu tun hatte.»

«Ich habe ein paar Nachforschungen anstellen lassen, seit du deine Denkschrift über die Operation Wegweiser geschrieben hast», gab Memuneh verlegen zu. Er war für seine Prüderie bekannt und er verabscheute sexuelle Vertraulichkeit. Tamara brachte ihn mit ihrem Lachen etwas aus der Fassung.

«Má passion predominante é la giovin principiante. Bist du jetzt Leporello, der eine Opernarie singen will?»

«Dazu fehlt mir die Gesangsstimme», sagte der Geheimdienstchef. «Aber ich muß sichergehen, daß wir keinen Fehler machen. Ich muß mich überzeugen, daß deine Beurteilung von Blom richtig ist. Und wenn du privat an ihm interessiert bist . . .»

«Ich bin nicht mehr und nicht weniger an ihm interessiert als an dem Tag, als wir uns um den neuen schwedischen Staatsminister zu kümmern begannen. Bisher ist weder dir noch den Operationsanalytikern etwas Besseres eingefallen, als Jorgen Blom zu kompromittieren.»

Kadar – Mossad-Chef in Skandinavien – rief dreimal von Stockholm aus an. Tamara mochte ihn nicht und war der Ansicht, daß das Institut – die Bezeichnung der Israelis für ihren Geheimdienst – ihn überschätzte. Sie hatte eine Theorie über Männer im Geheimdienst: diejenigen, die nicht genau wußten, wie sie sich verhalten mußten, um eine Frau auf sich aufmerksam zu machen, taugten nichts. Jörgen war der beste Beweis dafür, daß sie recht hatte.

Die Israelis pflegten ihren Aktionen biblische Kode-Namen zu geben: die Befreiung in Entebbe war Operation Jonatan genannt worden. Das Vorhaben, bei dem sie jetzt die Initiative ergriffen hatte, hieß nach Jeremia Operation Wegweiser. Ein Jahr zuvor hatte Jörgen sie ausgenutzt, sie belogen und betrogen. Jetzt war er die Marionette in ihrem Spiel, an dem er niemals freiwillig teilnehmen würde.

Innerhalb der Geheimdienste waren Ehre, Aufrichtigkeit, Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit sowie alle konventionellen Moralbegriffe negative Eigenschaften. Nur im Ausnahmefall, überlegte Tamara, war man einem Menschen gegenüber loyal.

Jörgen war nervös, als er in der Ankunftshalle von Arlanda auf Tamara wartete. Er hatte nicht angerufen und die SAS-Information nach der Ankunftszeit gefragt und war deshalb eine halbe Stunde zu früh eingetroffen. Am liebsten hätte er sich die Zeit damit vertrieben, in dem Gebäude umherzustreifen, aber er wollte vermeiden, daß jemand von der Fahndung ihn erkannte und sich Gedanken darüber machte, auf wen er da wartete. Er setzte sich in einen kunststoffbezogenen Sessel gegenüber von Freys Stand und sah sich die aus Oslo ankommenden Passagiere an.

Das rote Licht neben der Ankunftstafel begann zu blinken, und die Lautsprecher gaben bekannt, daß SK 414 aus Kopenhagen mit Anschluß aus Tel Aviv und halb Europa gelandet war. Das hieß also mindestens weitere zwanzig Minuten Warterei. Blom ging pinkeln und bestellte dann einen Wagen mit Fahrer zur Heimfahrt nach Söder. Er bezahlte für drei Sitzplätze, um mit Tamara allein sein zu können.

Die Schiebetüren öffneten sich für eine KLM-Besatzung. Dann kam ein Kinderchor durch den grünen Zollausgang, danach eine Offenbarung und dann Tamara. Blom entdeckte die Offenbarung, während er mit Riesenschritten auf sie zuging: schwarzer Borsalino auf langem blondem Haar, schlanke Beine in schwarzen Strümpfen mit Naht und kurze rote Stiefel. Kurzer, enger, schwarzer Lederrock, mexikanischer Gürtel mit Silberschnalle, schwarze Seidenbluse und rote Jacke aus Antilopenfell. Wer immer das war, sie war schön und eine lebendige Anschlagtafel, die für sich selbst warb. Hinter dieser auffallenden Person verbarg Tamara diskret ihre dunkle Schönheit. Ein Grund dafür war vielleicht Israels wirtschaftliche Lage, dort hatten nur wenige Frauen das nötige Geld, um sich der Mode entsprechend zu kleiden.

Für Blom, der immer noch für die Frauenmode der fünfziger Jahre schwärmte, Twinset, Tweedrock und Perlenhalskette, war Tamara in einem klassischen, grünen Hemdblusenkleid, beigen Pumps und leicht getönter weißer Leinenjacke, die sie über die Schulter geworfen hatte, der Gipfel der Eleganz. Er drängte sich vor, um Tamara in den Arm zu nehmen, aber die Blondine stand im Weg.

«Entschuldigen Sie!» sagte Blom.

Konnte ein Mann vor den Augen einer solchen sexuellen Herausforderung eine andere Frau umarmen und küssen?

Er versuchte es jedenfalls, und es gelang eher halbherzig. Tamara trug auch nicht gerade dazu bei, seine Glut zu entfachen.

«Endlich!» rief Blom und nahm sie in den Arm.

Tamara streichelte seine Wangen, glitt dann aus seinen Armen und nahm ihn an die Hand. Blom bückte sich nach dem kleinen Koffer, Kartons oder Plastiktüten hatte sie nicht.

«Komm, wir gehen.»

«Warte einen Moment, Jorgen. Das hier ist Britt. Britt Winter, Jorgen Blom», stellte sie vor. «Britt und ich haben uns in Kastrup kennengelernt.»

«Und seitdem haben wir uns die ganze Zeit lang unterhalten», lächelte die Blondine. «Übrigens, heißt du wirklich Jorgen?»

Sie war nicht nur hübsch, sie hatte auch Charme. Aber auch Blom konnte Ausstrahlung vorweisen, wenn ihm danach zumute war. Seine Schwester Kerstin behauptete, daß er immer schon geschickt gewesen war, wenn es darum ging, bei jungen hübschen Frauen Eindruck zu erwecken, und daß er sich dann wie ein emotionell retardierter Dreiunddreißigjähriger benahm. Vielleicht sah Tamara das genauso, und die Blondine war ein raffinierter Anlaß, ihn auf die Probe zu stellen.

«Nein. Natürlich nicht. Tamara hat die Tüpfelchen wegrationalisiert. Nett, dich kennenzulernen, Britt. Komm jetzt, Tamara.»

«Britt hat niemanden, der sie abholt, Jorgen.»

Was ist mit den schwedischen Männern los, wunderte sich Blom, daß sie nicht Schlange stehen, um Britt Winter zu begleiten, wo immer sie auch hinfahren will. Etliche machten einen Umweg, um sie bestaunen zu können, zwei Milchgesichter von der Fahndung standen da und starrten sie an. Blom lächelte bei dem Gedanken, sie heranzuwinken und zu bitten, die blonde Frau in die Stadt zu fahren. Dann nahm er Tamara in die Arme und küßte sie, wie man küßt, wenn man zu zweit allein ist, ordentlich und lange. Tamara erwiderte seinen Kuß ausgiebig. Er ließ sie los und lachte und sie lachte ebenfalls, Britt lachte. Blom ging hinaus zu dem Mietwagen, in jeder Hand einen Koffer und an jeder Seite eine Schönheit.

Er war höflich und bot sich an, vorn beim Fahrer zu sitzen, eine Geste, die den Mann von «Frey-Mietwagen» bis hinein nach Norrtull zu der Überlegung veranlaßte, ob Blom nun geistigzurückgeblieben oder schwul sei. Aber Tamara bestand darauf, daß sie sich alle drei auf dem Rücksitz zusammendrängten, und so saß er zwischen ihr und Britt. Er spürte die Körper der Frauen bei jedem Überholmanöver und in jeder Kurve.

Sie setzten Britt Winter in Heleneborgsgatan ab. Blom machte einen halbherzigen Versuch, ihr den Koffer an die Tür zu tragen, wurde aber durch einen wütenden Blick des Fahrers daran gehindert.

«Ich ruf dich an, Tamara», versprach Britt. «Wir müssen uns bald Wiedersehen.»

«Ja, das möchte ich auch gern.»

«Ist sie nicht nett? Und so schön!» schwärmte Tamara, als der Wagen in Lundagatan einbog.

«Ach, na ja», stimmte Blom gelassen zu, «sie ist ja nur eine shikseh. Ich ziehe süße jüdische Mädchen vor.»

«Mehr als eine?»

«Nur eine!»

«Welche denn?»

Er zeigte ihr, wen er meinte, bis sie vor dem Haus in Krukmakargatan ankamen.

Der SAS-Flug SK 414 aus Kopenhagen war, wie Blom festgestellt hatte, der Anschlußflug für Passagiere aus dem Nahen Osten und aus halb Europa. Unter den Reisenden aus Paris befand sich Nabeela Rahman, offiziell Sekretärin im Stockholmer Büro der PLO in Tulegatan, tatsächlich aber verantwortlich für die Informations- und Geheimdiensttätigkeit der Palästinenser in Schweden. Trotz ihrer nur 38 Jahre war sie eine von Yassir Arafats Veteranen, hatte unter anderem unter Zehdi Lahib Terzi bei den Vereinten Nationen Dienst getan.

Nabeela zog selten die Aufmerksamkeit auf sich. Männer blickten ihr nicht nach, und sie kleidete sich auch nicht so, daß Frauen sich nach ihr umdrehten. In der Lounge 17 in Kastrup, dem Kopenhagener Flughafen, wo sie darauf wartete, an Bord der Maschine nach Stockholm gehen zu dürfen, hatte sie fasziniert Britt Winter betrachtet. Aus der Träumerei war abrupt haßerfüllte Unruhe geworden, als sie Tamara Amram in den Saal hineinkommen und die Blondine begrüßen sah. Nabeela Rahman hatte Mossads Operationschef sofort erkannt – die Israelin stand an vierzehnter Stelle auf der Todesliste der PLO.

Nabeela war als allerletzte an Bord der Maschine gegangen, und in Arlanda hatte sie unter den ersten zehn Passagieren das Flugzeug eiligst verlassen. Sie hatte nicht auf ihren Reisekoffer gewartet, sondern war nach der Paßkontrolle sofort durch den Zoll in die Ankunftshalle gegangen, wo ihr Kollege Farah Shirdon auf sie wartete. Während er seinen Golf holte, bewachte sie den Ausgang. Danach hatten beide im Wagen gesessen und auf die Frau von Mossad gewartet. Sie hatten gesehen, wie ein Mann sie und die Blonde zu einem Mietwagen begleitete, dem sie dann bis Krukmakargatan gefolgt waren. Dort hatten sie gewartet und gesehen, wie in zwei Fenstern das Licht anging. Shirdon identifizierte die Wohnung an Hand der Namen neben den Knöpfen des Haustürtelefons.

Sie fuhren zum PLO-Büro in Tulegatan und begannen, einen Plan zu entwerfen.

Tamara fühlte sich in Bloms Wohnung wohl. Sie legte sich gleich erst mal probeweise auf das Bett, saß Probe auf den Sesseln und dem Sofa. Sie warf einen Blick in das Bücherregal und entdeckte fast nur Fachliteratur ihres Berufs. In zwei von den Büchern wurde sie erwähnt, das wußte sie, aber im Text wurde sie nicht Tamara Amram genannt. Die Erinnerung drückte auf ihre Stimmung. Blom sah es und ahnte den Zusammenhang.

«Ich habe überlegt, den ganzen Kram wegzugeben», sagte er. «Wie du siehst, brauche ich noch mehr Platz für meine Schallplatten. Aber irgendwie scheue ich mich, all die Bücher in den nächsten Container zu werfen.»

War das ein Hinweis darauf, daß er mit ihr über seine Zukunft diskutieren wollte? Tamara entschloß sich, erst einmal abzuwarten.

«Deine Plattensammlung ist wirklich imponierend. Da hast du wohl Jahre gebraucht, um sie zusammenzutragen.»

Stolz zeigte er ihr den Katalog mit über siebentausend Platten und erzählte von dem Anruf der Rechnungsprüfer. Die hatten gerüchteweise erfahren, daß Blom den Rechner des Geheimdienstes benutzte, um Ordnung und System in seine Plattensammlung zu bekommen.

«Ich war ziemlich empört», lachte Blom, als er sich daran erinnerte, «und der Revisor entschuldigte sich. Dem habe ich natürlich nicht erzählt, daß ein Oberst im Verteidigungsministerium das für mich getan hat, nachdem er seine eigene Sammlung katalogisiert hatte. Jetzt ist er pensioniert, sitzt in Norrland und importiert Rotwein aus Deutschland. An ihn kommen sie nicht mehr heran.»

Sie gingen spazieren: hinauf zu Skinnarviksberget mit der Aussicht über ganz Stockholm. Rund um Långholmen. Rund um Årstaviken. Rund um Djurgården. Blom, der Jerusalem nicht mochte, wollte Tamara zeigen, daß Stockholm die schönste Hauptstadt auf der ganzen Welt ist. Sie bestand nachdrücklich darauf, daß Jerusalem noch schöner sei.

«Unsinn!» Blom hörte sich beleidigt an.«Nimm doch nur Jesus, Salomon und David weg und all die anderen, dann sind da nur eine Mauer, zwei Moscheen und Kirchen übrig. Zwischen Jerusalem und Damaskus ist kein großer Unterschied.»

«Nach Damaskus darf ich nicht fahren.»

«Frag doch einen deiner Freunde bei Mossad, der dagewesen ist.»

Das war ihr erster kleiner Streit.

Sie gingen in die Oper und sahen Othello mit Ulfvung und Asker. Während des zweiten Aktes entdeckte Blom Rainer Axerell von der Fahndung, an diesem Abend als Leibwächter für Israels Botschafter eingesetzt. Er zeigte Tamara den Diplomaten.

«Willst du ihn begrüßen?»

«Sei nicht kindisch, Jorgen.»

Das war naiv, Blom sah es ein. Wäre er selbst in die Oper in Moskau gegangen, hätte er dem schwedischen Botschafter sofort den Rücken zugewandt, sofern Torsten Örn überhaupt in die Oper ging. Den Leuten vom Geheimdienst wird kein Privatleben zugestanden. Daher nickte er Tage nicht mal zu, als sie sich später an der gleichen Garderobe drängten, um ihre Mäntel in Empfang zu nehmen. Aber Tage, der einen Blick für schöne Frauen hatte, begrüßte sie.

«Was für eine herrliche Vorstellung!» sagte er zu der Israelin.

«Ich habe gemerkt, daß sie dir gefallen hat. Ich hab gesehen, wie begeistert du geklatscht hast.»

«Ja, ich applaudiere gern, rufe Bravo und Da capo. Das spornt das Publikum an, die Stimmung wird besser, und die Solisten werden motiviert. Wollt ihr nicht zusammen mit mir und Ulla-Britt einen Drink nehmen, Jörgen?»

«Heute abend nicht», wehrte Blom ab.

«Wer war das?» fragte Tamara. «Er machte einen netten Eindruck.»

«Abteilungschef beim Geheimdienst. Kommissar Tage Pettersson.»

«War das hier eingeplant, Jorgen?» Tamara hörte sich irritiert an.

«Jedenfalls nicht von mir. Vielleicht von der Sicherheitspolizei. An wem von uns beiden sind die interessiert? Aber das war wahrscheinlich ein zufälliges Treffen. Tage geht häufig in die Oper.»

Sie fingen an, sich gegenseitig anzuöden. Beide waren es nicht gewohnt, mit jemand anderem zusammenzuleben und nur freie Zeit zu haben. Sie waren isoliert von den Aufgaben, die ihnen zur zweiten Natur geworden waren – wer behauptet denn, daß man seine zweite Natur gern haben muß, um von ihr fasziniert zu sein? Britt Winter rief täglich bei Tamara an. Sie sagte jedesmal etwas Freundliches und Positives zu Blom, ehe er den Hörer an Tamara weitergab. Danach führten die beiden Frauen lange Gespräche.

«Hat Britt denn keinen Mann, dem sie sich anvertrauen kann?»

«Nicht alle haben in der Hinsicht so viel Glück wie ich. Da ist keiner, der zu ihr paßt, sagt sie. Vor denen, die nicht zu ihr passen, nimmt sie sich in acht.»

«Das muß schwierig sein, bei dem Gesicht und mit dem Körper.»

«Sehr schwierig, Jorgen, sehr schwierig!» stimmte Tamara nachdrücklich zu.

Die Palästinenser in Stockholm wußten jetzt, wie sie vorgehen wollten, um den Operationschef von Mossad auszuschalten. Als Antwort auf die zionistische Terroraktion im Libanon im letzten Sommer waren sie mit großem Eifer dabei, dies alles zu organisieren. Der Mann, der Chef des israelischen Geheimdienstes hatte werden sollen, war vor Beirut gefallen. Hier in Stockholm sollte nun Tamara Amram sterben.

Niemand würde die PLO verdächtigen, denn es würde keine Verbindung zwischen dem Attentäter und den Palästinensern geben. Nabeela Rahman hatte die Hinrichtung so geplant, daß Jörgen Blom als Hauptziel erscheinen mußte. Die Polizei sollte glauben, daß die Jüdin eher nebenher zufällig mit ums Leben kam.

Die russische Geheimdienstorganisation in Schweden und die PLO hatten schon früher zusammengearbeitet, manchmal war der KGB Nabeela Rahmans Bank gewesen. Nun waren die Sowjets zum erstenmal ihr Arsenal. Sie hatte eine hervorragende «Waffe» bekommen: einen schwedischen Psychopathen, der alle Behörden, die für Recht und Ordnung sorgten, glühend haßte. Er hieß Leif Brisk, wohnte in Västerhaninge, war 39 Jahre alt und hatte eine Laufbahn in der Armee und bei der Schutzpolizei hinter sich. Er wußte nicht, warum er vor zwei Jahren entlassen worden war. Bald darauf geriet er in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und sein Haß gegen die Behörden wurde immer stärker. So nahm er schließlich Kontakt auf zur sowjetischen Botschaft in Marieberg. Die wies ihn natürlich ab, aber gleichzeitig knüpfte der KGB freundschaftliche Bande zu Leif Brisk.

«Ist es sicher, daß er effektiv ist?» hatte Nabeela Rahman ihren russischen Kontaktmann gefragt.

Der KGB-Oberstleutnant hatte gegrinst.

«Natürlich ist Leif ein komischer Kauz, aber er hat im letzten Jahr in Schweden doch das eine oder andere angerichtet. Erinnerst du dich an den Staatsanwalt, der in tausend Stücke gesprengt wurde? Das Attentat auf den Gerichtsvollzieher in Västerås? Die Bombendrohung im Rathaus? Alles Brisk aus Västerhaninge!»

Es war nicht schwer, jemandem, der bereits eine Zielsetzung hatte, neue Anstöße und ein neues Ziel zu geben. Nabeela Rahman erzählte Brisk von Jörgen Blom und beschrieb ihn als einen der neuernannten Chefs in der Abteilung der Reichspolizeileitung, die sich um die vorbeugende Verbrechensbekämpfung kümmern sollte. Zu einer Zeit, in der die Massenmedien immer wieder von Polizeidezernaten, Razzien und Beschlagnahmen berichteten, kamen Leif Brisk keine Zweifel. Er nahm den Vorortzug bis zur Södra Station und spazierte zur Krukmakargatan, um sich mit dem Tatort vertraut zu machen. Er erwägte einen Schuß mit einer Panzerfaust direkt in die Wohnung hinein. Das Rohr der rückstoßfreien Waffe würde er an der Mauer, die den Sportplatz umgab, abstützen können. Dann betrat er das Haus Nr. 48. Sein russischer Freund hatte ihm die Ziffern 10013 für das Türschloß gegeben, den Briefträgercode für diesen Teil von Söder. 1 Brisk entschied, daß eine Bombe mit gerichteter Sprengwirkung vor der Wohnungstür trotz allem am effektivsten war, und er wußte alles über Bomben.

Mit dem Wetter hatten sie Glück gehabt – klare, kühle Luft, Sonne–, Tantolunden draußen vor dem Fenster leuchtete in den schönsten Herbstfarben. Jetzt hatte sich der Himmel bezogen, und sie waren gezwungen, häufiger in der Wohnung zu bleiben. Blom fuhr mit der U-Bahn nach Stureplan und kaufte bei Hedengrens Bücher für Tamara. Während sie sich mit Tom Sharpe amüsierte, spielte er Alton Purnell, Kid Thomas und Miles Davis. Tamara sagte, daß sie Schwedisch lernen wolle. Blom gab ihr Unterricht: ein Haus, mehrere Häuser, eine Maus, mehrere Mäuse, eine Leuchte, mehrere Jörgen Blom.

Tamara war Analytikerin in der Planungsabteilung des Mossad, Blom war im Büro B der spontane Tatmensch gewesen. Die Lust der Israelin, ständig alles in Frage zu stellen und zu diskutieren, machte ihn unsicher. Er wollte akzeptiert werden, wie er war, ob sie ihn auch verstand war zweitrangig, denn er hatte Angst davor, ihr nicht gewachsen zu sein. Er hielt sich für intelligent, aber nicht für intellektuell, Tamara war beides.

Blom war weder ungebildet noch ahnungslos, was die Außenpolitik anging, aber sein berufliches Interesse lag auf einer anderen Ebene als das von Tamara. Da die politischen und strategischen Probleme Schwedens und Israels sehr unterschiedlich waren, schienen ihre Anschauungen globaler zu sein als seine, andererseits überraschte sie hin und wieder durch ihre eingeschränkten, beinahe chauvinistischen Ansichten zu internationalen Fragen. Blom begann sich zu fragen, ob er denn niemals ein normales und harmonisches Verhältnis zu Frauen haben würde. Entweder störte er sich an Kleinigkeiten, Zahncremetuben, die in der Mitte umgeknickt worden waren, oder wie jetzt, an Tamaras ständiger Lust zu diskutieren. Trotzdem bewunderte er ihre Persönlichkeit und ihre Begabung, liebte ihren Körper und vermutlich auch ihre Seele.

«Bin ich dir eigentlich genug?»

«Ich beklage mich nicht, Jorgen.»

«Nein, das nicht, aber du jubelst auch nicht vor Begeisterung.»

«Du singst mir auch keine Loblieder.»

«Doch! Jedesmal, wenn ich dich streichele. So wie jetzt.»

«Ich juble auch, wenn ich dich so streichele.»

Sie jubelten und sangen zwanzig Minuten lang. Als er sich eine Zigarette ansteckte, wollte sie wissen, vor welcher ihrer Fragen ihm denn am meisten bange war.

«Jorgen, wann fängst du wieder an zu arbeiten?»

Leif Brisk benutzte Plastiksprengstoff für seine Bomben. Der war leicht zu beschaffen, es gab ihn in den meisten militärischen Depots, und deshalb wurde er auf den Straßen rund um Norra Bantorget verkauft. Mit Sprengteig zu arbeiten machte ihm Spaß, man konnte ihn wie Tonerde modellieren, und er roch sogar angenehm. Er wußte, welche Menge er brauchte, um die Wohnung in Krukmakargatan hochgehen zu lassen und wieder einen von denen aus der Räuberbande da oben unschädlich zu machen.

Brisk ging beim Herstellen seiner Bomben immer sehr sorgfältig vor, knetete die Sprengkapsel behutsam ein und befestigte sie außerdem mit Isolierband. Das Experimentieren machte ihm Freude, nicht nur der Abwechslung wegen, sondern weil seine Bomben immer effektiver werden sollten. Er hatte schon verschiedene Zünder ausprobiert, hatte mit Zündschnüren begonnen, mit Zündhütchen weitergemacht, mit ätzenden Säuren und mit Zeitzündern. Seit einem halben Jahr versuchte er es mit Funkfernzündern, auf diese Weise hatte man Francos Polizeiminister in Madrid in die Luft gesprengt. Funk war natürlich das Sicherste, man zündete seine Bombe selbst im richtigen Moment aus 200 Meter Entfernung.

Brisks neuer russischer Freund hatte ihm einen Radiosender und einen Mini-Empfänger beschafft, frequenzgesteuert auf 49000 MHz. Das waren Geräte! Der Empfänger war kleiner als eine Taschenuhr und hatte eine nadelfeine Antenne von 90 Millimeter Länge. Mit solchen Werkzeugen konnte er sich sicher fühlen, da machte die Arbeit erst richtig Freude, und jetzt konnte Brisk sich eingestehen, daß er Angst vor den chemischen Zeitzündern gehabt hatte.

Er steckte den Empfänger in den ausgehöhlten Sprengstoff, den er wie eine Hantel geformt hatte. Als er die winzige Antenne montierte, schob er den Küchentisch ganz ans Fenster, um soviel Licht wie möglich zu haben.

Tamara und Blom diskutierten am nächsten Morgen erneut seine Situation, und auch am Abend kamen sie mehrfach darauf zu sprechen. Die Israelin befolgte die Anweisungen, die ihr die Psychologen von Mossad mit auf den Weg gegeben hatten, sie provozierte, setzte ihn unter Druck. Sie behauptete, daß derjenige, der im Leben keine Aufgabe hat, auch nicht harmonisch leben kann. Blom protestierte nicht dagegen, wandte aber ein, daß viele Menschen unzufrieden mit ihrer Aufgabe seien.

«Die meisten, die ich so kenne, sehnen sich aus der Gegenwart zurück in vergangene Zeiten. Glücklich und ausgeglichen zu sein heißt nämlich auch, daß man weiß, ob man es ist und daß man es ist. Aber erkläre mir doch mal eine Sache, Tamara. Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen. Sie stellen fest, daß sie sich mögen und kommen einander näher. Und plötzlich fängt die Frau an, obgleich sie ihn vielleicht monatelang in ausgebeulten Cordhosen hat herumlaufen sehen, ihn zu kritisieren. ‹Mußt du immer so ungepflegt aussehen?› Oder so wie du: ‹Jorgen, sei nicht so faul! Fang an zu arbeiten, Jorgen!› Bin ich dir nicht mehr gut genug?»

Blom hatte ihren Tonfall perfekt getroffen, aber sie lächelte nicht mal. Sie saß in seinem großen roten Ledersessel, angespannt und aufmerksam. Sie trug, was er gerne an ihr sah, ein olivgrünes Armeehemd und einen Gabardinerock, war barfuß, und ihr Haar, das die Farbe einer alten Geige hatte, war zerzaust.

«Für mich bist du gut genug, Jorgen, so wie du bist. Aber bist du mit dir selbst zufrieden? Du hast dich in dem halben Jahr verändert. Du lachst viel seltener als früher. Du bist oft nervös. Glaub mir, der Jorgen, den ich kenne und liebengelernt habe, ist nicht mehr der gleiche Mann, mit dem ich jetzt zusammenlebe.»

«Du meinst, du liebst mich nicht mehr?»

«Wenn ich dich nicht lieben würde, wäre ich nicht mehr hier. Aber ich glaube . . .»

Blom bekam Angst und unterbrach sie.

«Gefällt es dir nicht in Stockholm?»

«Zusammen mit dir gefällt mir Stockholm sehr. Stockholm ist eine Traumstadt. Sauber. Schön. Sicher. Nicht mal im Zentrum ist der Verkehrslärm so groß wie in anderen Städten. Niemand läuft mit einem automatischen Karabiner oder einer Maschinenpistole herum. Niemand wirft Bomben. Stockholm ist voller eleganter, engagierter Menschen in schönen Kleidern.»

«Engagiert?»

«Na sicher. Die Schweden kümmern sich. Kernkraft, Naturschutz, Björn Borg, Südafrika, Mittelamerika, Inflation, Polizeiübergriffe, Gastarbeiter . . . das kann man endlos fortsetzen. Sie demonstrieren und protestieren. Ich frage mich, was das für Leute sind, die ständig ihre Meinung zur Schau tragen, die beinahe Berufsdemonstranten sind. Ich empfinde Stockholm als eine surrealistische Stadt.»

«Willst du hier mit mir leben, Tamara?»

«Du weißt, daß ich das nicht kann. Willst du in Israel mit mir leben?»

«Für ein Gnadenbrot? Ohne Arbeit? Nein, danke!»

«Du kannst in Israel Arbeit haben. Im Bereich der Operation brauchen wir . . .»

«Noch mal: Nein, danke! Ich habe beim Büro nicht gekündigt, weil ich mit meiner Stellung oder meinem Gehalt nicht zufrieden war. Ich habe mit dem Geheimdienst gebrochen, weil ich diese Arbeit nicht mehr länger ertragen konnte. Lieber verbringe ich den Rest meines Lebens ohne Beschäftigung, als daß ich den Schritt zurück mache. Du bist verrückt, wenn du mich fragst, ob ich zu Mossad kommen will. Was gehen mich Israels Probleme an? Ich sehe den Nahen Osten mit seinen ständigen Konflikten als etwas Negatives für Schweden. Erinnerst du dich daran, wie nahe an einem Weltkrieg wir 1973 waren? Das gleiche im Sommer. Ich lasse mich niemals von einer fremden Macht anwerben, am allerwenigsten von Mossad.»

Hatte Jorgen recht, wenn er die Israelis manchmal der Rücksichtslosigkeit beschuldigte? Aber auch er hatte eine gewisse Brutalität immer akzeptiert, dachte sie. Ebenso wie andere Leute in den Geheimdiensten hatte er Menschen manipuliert und korrumpiert, genauso wie sie es mit ihm jetzt vorhatte. Lag ihr Jorgen weniger am Herzen als Israels Sicherheit? Natürlich, aber die Operation Wegweiser galt nicht dem Nahen Osten, sondern der Sowjetunion. Einem von vier Millionen Sklavenarbeitern in einem der Lager.

«Möchtest du, daß ich dir sage, ich liebe dich? Das tue ich, Jorgen. Aber nicht mehr so wie früher. Ich empfinde jetzt anders. Weniger Respekt, mehr Mitleid. Nicht länger Bewunderung, sondern Toleranz. Das andere kommt vielleicht wieder – im Augenblick ist es nicht da.»

Blom war blaß geworden. Er antwortete nicht, starrte sie an, auf die Wände, auf den Fußboden, lief im Zimmer umher, leerte einen Aschenbecher, der gar nicht voll war, rückte ein Luftbild vom Gillöga Skärgård zurecht, das gar nicht schief gehangen hatte.

«Vielleicht ist es am besten, wenn du nach Hause fährst», schlug er vor.

«Willst du das?»

«Ich glaube schon, Tamara.»

Im Fenster der zweiten Etage eines Hauses am Nederstavägen in Västerhaninge stand die Stewardess Kerstin Berghman und sah nach der Sonne. Sie nahm ihr drahtloses Telefon, das sie sich vor zwei Wochen in New York gekauft hatte und das immer noch ein spannendes Spielzeug für sie war. Sie fand es prima, einfach so in der Wohnung umhergehen zu können und dabei lange Gespräche zu führen.

Sie zog die Teleskopantenne heraus und drückte den Schalter von OFF auf ON. Als sie den dritten Nummernknopf berührte, sah sie eine weiße Stichflamme im Fenster gegenüber, dann hörte sie eine Explosion, und ihre Fensterscheibe zersprang in tausend Stücke. Sie spürte die Schnittwunden im Gesicht und auf der Stirn nicht, merkte nicht, daß Blut in ihre Mundwinkel lief. Sie stand vom Schreck gelähmt da und sah, wie das Feuer sich im Haus auf der anderen Straßenseite ausbreitete.

Tamara flog nach Kastrup und ging durch die Paßkontrolle als Rachel Schwarz aus Charlotte in North Carolina. In der Ankunftshalle wartete Kadar auf sie, Mossads Skandinavienchef. Sie fand ihn immer noch unsympathisch.

«Wie komme ich zurück nach Stockholm?»

«Wir fahren mit dem Wagen. Ich habe gestern ein Auto in Malmö gemietet und bin hierhergefahren. Die Polizei kontrolliert selten Autos mit schwedischen Kennzeichen, nur wenn die Leute darin besonders exotisch aussehen. Die Schweden lassen die Dänen die Grenzkontrollen durchführen.»

«Wo werde ich in Stockholm wohnen?»

«Wir haben eine Etage in einem Stadtteil, der Sibirien genannt wird. Das paßt zu dir, du bist ja in Irkutsk geboren. Das paßt übrigens auch den Russen, denn der KGB hat eins von seinen Büros in der gleichen Straße.»

An der Paßkontrolle in Helsingborg nahm keiner Notiz von ihnen. Von einem Telefonhäuschen neben dem Stenbocksdenkmal rief Tamara in Stockholm an.

«Ich will auf Wiedersehen sagen.»

«Ich wußte, daß du abgereist bist. Ich hab Jörgen vor ein paar Stunden angerufen.»

«Was hat er gesagt?»

«Nur, daß du weggefahren bist», berichtete Britt Winter.

«Ich ruf dich übermorgen an. Baruch tihye!»

«Gleichfalls, Tamara. Paß gut auf dich auf!»

Etwas später am Tag rief die Israelin in Tel Aviv an, um mitzuteilen, daß die Operation Wegweiser nun endgültig begonnen hatte.

Triumph der Lüge - Schweden-Krimi

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