Читать книгу Triumph der Lüge - Schweden-Krimi - Ralph Herrmanns - Страница 8

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Jörgen Blom hatte Schwierigkeiten, sich mit der Leere abzufinden. Ohne Tamara empfand er die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, als sinnlos. Die Erinnerung an ihr Beisammensein verblaßte und wurde düster, denn sie hatte ihn verlassen. In der Wohnung hatte sie Spuren hinterlassen: eine Dose Sucrintabletten mit hebräischer Beschriftung, ihre Seife. Im Wäschekorb fand er zwei ihrer Uniformhemden. Er warf die Tabletten weg, benutzte die Seife, bis sie alle war, wusch die Hemden und legte sie in den Schrank unter seine eigenen.

Britt Winter rief ihn an, beklagte sich, daß es um vier Uhr schon dunkel wurde, und fragte nach Tamara.

Sie sagte: «Wie schade. Aber wir zwei könnten uns abends doch mal treffen.»

An einem Vormittag rief Blom spontan Jakob Ceder an. Er fragte in der Vermittlung nach dem Staatsminister und wurde mit Anne-Marie Wilson, seiner Sekretärin, verbunden.

«Ich heiße Jörgen Blom. Darf ich mit dem Staatsminister sprechen?»

«Der Staatsminister ist zur Zeit in einer Konferenz», sagte Anne-Marie Wilson. «Wenn du sagst, was du möchtest, kann ich dir vielleicht helfen.»

Jetzt bereute Blom, daß er angerufen hatte. Wahrscheinlich saß Ceder fröhlich wie ein Wiedehopf da, trank Kaffee und überlegte sich neue Dummheiten, die er dem schwedischen Volk zumuten konnte. Na ja, ob er nun Kaffee trank oder nicht, die Sekretärin hörte sich jedenfalls freundlich und effektiv an. Sie hatte es sicher nicht ganz leicht. Weder mit Ceder noch mit den Schweden, die die Angewohnheit hatten, sich mit jedem kleinen Problem an den König zu wenden.

«Es ist nett von dir, daß du mir helfen willst», sagte Blom mit freundlicher Stimme. «Du kannst Ceder vielleicht einen Zettel mit meinem Namen auf den Schreibtisch legen. Ich heiße Jörgen Blom.»

«Kennst du den Staatsminister?»

«Du meinst, kennt der Staatsminister mich? Ja, das tut er.»

«Möchtest du mir nicht trotzdem sagen, was du von ihm willst? Und außerdem muß ich dich um deine Telefonnummer und deine Adresse bitten, Jörgen.»

«Ich habe eigentlich kein besonderes Anliegen, nichts anderes, als nur mal ‹Hallo› zu sagen. Aber das kennst du ja sicher, Anne-Marie.»

Sie kicherte.

«Ich verspreche, den Staatsminister zu grüßen.»

«Danke. Vielleicht hören wir noch mal voneinander.»

Zwanzig Minuten später rief Jakob Ceder an. «Du mußt meiner Sekretärin sehr geschmeichelt haben, Jörgen. Sie legte deine Nachricht ganz oben auf den Stapel der Anrufer.»

«Sie hat auf mich einen sehr charmanten Eindruck gemacht. Ich weiß nicht, warum ich angerufen habe. Ich störe dich nur. Es ist sicher aufreibender, Staatsminister in Schweden zu sein als Chef bei der UNO. Und jetzt betreibst du ja auch noch unsere Außenpolitik.»

«In meiner Eigenschaft als schwedischer Staatsminister kann ich nicht bestätigen, daß du recht hast. Hast du ein Anliegen, das du mit mir besprechen willst?»

«Ich bin in Pension gegangen, Jakob.»

«Aha, ist das nicht ein wenig früh? Komm bald mal hier vorbei. Ich habe gerade ein neues geblümtes Sofa bekommen, das alte blaue haben die Bürgerlichen durchgesessen. Anne-Marie ruft dich an und verabredet einen Termin.»

So war das also mit Ceders Zusicherung, ihm einen Job in seiner Regierung zu verschaffen. Wenn er seine anderen Wahlversprechen ebensowenig hielt, gab es bei der nächsten Wahl sicher wieder einen Regierungswechsel.

Es machte Blom immer größere Schwierigkeiten, seine Tage sinnvoll zu gestalten. Er las Zeitungen, wartete auf Briefe, die selten kamen, hörte sich seine Platten an und unternahm täglich lange Spaziergänge.

Britt Winter rief ihn an. Er verstand eigentlich nicht warum. Sie erwähnte die Israelin nicht, daher brachte er die Sprache auf sie.

«Ich dachte, du seist mit Tamara befreundet.»

«Klar. Aber muß das heißen, daß ich mit dir nicht gut Freund sein kann?»

«Natürlich nicht. Aber eines möchte ich klarstellen: Ich glaube nicht, daß Tamara noch meine Freundin ist. Sie will mich wohl nicht mehr haben.»

Britt lachte zufrieden.

«Na prima. Ich glaube nämlich, du bist derjenige, den ich haben will. Darf ich dich heute abend zum Essen einladen?»

Blom sah sie vor sich, so wie er sie das erste Mal gesehen hatte, aber aus dem Bild, das er in Erinnerung hatte, retuschierte er Tamara weg.

«Danke, gern.»

«Fein. Gibt es irgendwas, das du nicht besonders magst?»

«Keine Leber. Keine braunen Bohnen mit Speck.»

«Kriegst du nicht. Heleneborgsgatan 3. Sollen wir fünf vor acht sagen, ehe die Haustür abgeschlossen wird.»

«Kann ich was mitbringen. Vielleicht Wein?»

«Auf keinen Fall. Übrigens, Jörgen . . .»

Sie lachte.

«Warum soll ich eigentlich bis acht auf dich warten. Komm um sechs. Oder noch lieber um fünf.»

Blom lachte jetzt auch.

«Sagen wir halb sechs, Britt.»

In der Mossad-Wohnung auf Birger Jarlsgatan in dem Stadtteil, der Sibirien genannt wurde, klingelte das Telefon. Kadar nahm den Hörer ab und reichte ihn dann an Tamara Amram weiter. Sie sprach kurz, war einsilbig, nicht in Stimmung.

«Ist alles in Ordnung?» fragte Kadar.

«Ja doch. Es läuft alles. Stell ab fünf Uhr heute abend zwei Mann vor Britt Winters Haus. Ich will wissen, ob Blom überwacht wird.»

«Ich habe das Dossier über ihn gelesen», grinste Kadar. «Er geht heute vielleicht gar nicht mehr nach Hause.»

«Gefällt es dir in Schweden nicht? Du bist nicht unersetzlich!»

Mossads Operationschef stellte sich ans Fenster und starrte über die Straße, auf die Gardinen, die den Einblick in das Büro des KGB verhinderten.

Britt Winters Wohnzimmer war kahl wie eine Wüste, lediglich am Fenster gab es eine Oase, bestehend aus einem weißen Sofa, drei Palmenlilien, Zyperngras, einer großen Monstera und zwei italienischen Stehlampen. Die Wände waren weiß, der Fußboden bestand aus Kiefernholzdielen. Britt hatte schwarze lange Hosen, eine schwarze rundausgeschnittene Seidenbluse und weiße Skisocken angezogen.

«Findest du es öde hier? Komm und sieh dir den Rest der Wohnung an.»

Der Rest war eine Küche mit Eßplatz für zwei Personen an einem runden, abgebeizten Tisch und ein Schlafzimmer mit zitronengelben Wänden, einem englischen Messingbett mit der Fahne des Vatikans als Überdecke, einem Toilettentisch und zwei Empirestühlen. Im Schlafzimmer gab es keine Topfpflanzen, dagegen einen Kupferstich an der Wand, der einen Mann darstellte mit schulterlangem Haar, ungepflegtem Schnurrbart, in Spitzenkrause, Weste, Kniehosen und spitzen Schnabelschuhen.

«Mein Idol», erklärte Britt. «Erkennst du ihn?»

«Nein.»

«Der größte Dramatiker der Welt», half sie nach.

«Das ist nicht Shakespeare. Der hatte eine Glatze und war kein Kleidersnob wie dieser hier . . .»

«Das ist natürlich Molière, Tartuffe, Der eingebildete Kranke, Amphitryon, Die Schule der Frauen . . .»

«Vom Theater verstehe ich nicht sehr viel. Manchmal gehe ich in die Oper. Jetzt fällt es mir ein, Tamara hat gesagt, du seist Schauspielerin. Bei Dramaten?»

«Dramaten, das wäre noch was! Schauspielerin! Ist ja noch schöner. Ich versuche, eine zu werden.»

Er blickte sie an und betrachtete sie zum erstenmal aufmerksam. Das herrliche Haar war zu einem Zopf geflochten, um die klaren Linien des Gesichts zur Geltung kommen zu lassen. Ungewöhnlich runde, blaue oder graugrüne Augen. Lang, schlank – die Vorzüge ihrer Figur hatte sie schon damals in Arlanda erkennen lassen.

«Du könntest eine werden», bestätigte Blom.

Wurde sie rot?

«Wenn du damit meinst, daß ich gut aussehe, so muß ich dir sagen, daß das kein Vorteil in diesem Beruf ist. Eigentlich in keinem Beruf, würde ich sagen. Eine Schauspielerin sollte möglichst alltäglich aussehen, damit sie viele verschiedene Typen spielen kann. Ach was, jetzt reden wir nicht mehr davon. Szenenwechsel! Der nächste Akt: die Küche. Britt macht das Essen, während Jörgen dabeisitzt, einen Whisky trinkt und zuguckt. Oder willst du was anderes haben? Ich habe Gin, Wermut, Sherry, Pernod und Wein. Zum Essen bekommst du einen Magenbitter.»

«Was hältst du von einem Drink? Misch doch mal Whisky mit Pernod und Sherry.»

«Ja, also . . .» dann merkte sie, daß er lachte.

«Mach dich nicht über mich lustig, Jörgen. Ich kenne dich ja kaum.»

Sie tat Rentierhackfleisch in die Pfanne und gab eine große Portion Pfifferlinge hinzu. Während das Hackfleisch in der Sahne brutzelte, mühte sich Britt mit der Kartoffelpresse ab. Blom bot seine Hilfe an.

«Bleib du mal sitzen. Man bekommt hübsche Brüste vom Kartoffelpressen.»

Sie saßen lange am Eßtisch. Britt wollte über Jörgen Blom sprechen und Jörgen über Britt Winter. Sie war Pfarrerstochter aus Njurunda und 28 Jahre alt.

Blom fühlte sich wohl.

Britt war Fotomodell gewesen. Kary Lasch hatte ihr, wie so vielen anderen, zu diesem Job verholfen. Er hatte sie lanciert, erst in New York in die Ford-Agentur, dann in Paris zu Vogue. Britts Auge, eingerahmt von einer Reihe von Lederhandschuhen, war Titelbild von Bazaar gewesen. Ihre Zehen und Beine bis hinauf zum Knie auf Nova, die ganze Britt Winter auf Vogue, Stern, Apparel, LIFE, Match und den schwedischen Frauenzeitungen. Bengt Lindström hatte ihr Gesicht gemalt, und Salvador Dalí hatte ihren Körper gezeichnet – nackt auf einem Kreuz wie Jesus.

Blom mußte die Geschichte ihrer Karriere Stück für Stück aus ihr herausziehen.

«Was hast du gegen die Arbeit eines Modells?» wunderte er sich.

«Eigentlich nichts. Man darf reisen und verdient eine Menge Geld. Dafür habe ich mir ein Feriengrundstück an der Backvattnet in Jämtland gekauft. Man lernt Leute kennen. Sicher sind viele davon oberflächlich, aber man trifft auch auf viele interessante Menschen.»

«Männer?»

«Männer. Aber nicht so viele, wie du vielleicht glaubst. Auch nicht so oft auf die Art und Weise, an die du wahrscheinlich denkst. Drei, wenn du es genau wissen willst! Wie viele Frauen hast du auf die Art und Weise kennengelernt, als du zwischen achtzehn und fünfundzwanzig warst?»

«Mehr als drei, Britt.»

Sie griff über den Küchentisch hinweg nach seiner Hand.

«Entschuldige, ich war dumm. Aber das ist ein schwieriges Thema für mich, wenn ich mit Männern zusammen bin, die ich mag. Nur weil die Frauenzeitschriften frivol sind, brauchen die Modelle es nicht auch gleich zu sein. Komm jetzt, wir setzen uns ins große Zimmer.»

Sie setzten sich in die Oase. Blom gelang es, daß Britt mehr aus sich herauskam und von sich erzählte.

«Modell sein ist ein sehr wechselvoller und hetziger Beruf, alles soll ständig neu sein, die Kleider, die Kosmetik und die Gesichter. Als ich nicht mehr mit der neuesten Mode fotografiert wurde, sondern als Blickfang für Kühlschränke und Elektroherde, sah ich ein, daß die Karriere zu Ende war.»

«Mit achtundzwanzig Jahren?»

«Nicht mit achtundzwanzig, mit fünfundzwanzig. Sieben Jahre in der Branche sind eine lange Zeit.»

«Und jetzt bist du Schauspielerin?»

«Jetzt versuche ich, Schauspielerin zu werden. Nicht an Dramaten, Jörgen. Es gibt andere Bühnen.»

Sie erzählte Blom vom Theater und erzählte ihm Dinge, die ihm bisher recht gleichgültig gewesen waren.

«Alle Stücke haben eine Botschaft, und viele der Autoren sind politisch aktiv gewesen. Molière, Shakespeare. Autoren vor ihnen und Autoren danach.»

«Aber die Theater, die deren Stücke aufführten, bekamen keine Beiträge vom Staat. Jedenfalls glaube ich das nicht. Hier schmeißt die Regierung Geld für die freien Theatergruppen hinaus, die das dann dazu verwenden, Meinungen zu verbreiten, die unserem Land nicht gerade nützen.»

«Ich finde, du bist ungerecht, Jörgen. ‹Schmeißt Geld raus›. Vierzehn Millionen für sechsundvierzig Gruppen. Und doppelt so viele haben Anträge gestellt. Vergleich das mal mit den Summen, mit denen die Zeitungen unterstützt werden. Wir haben in Schweden immer noch die Meinungsfreiheit, und die müssen wir verteidigen. Der Kulturrat kann Beiträge nicht nur an Gruppen geben, die mit Wickströms Linie übereinstimmen. Oder Göranssons heutzutage. Überleg mal, wenn nur solche Schauspieler Unterstützung bekämen, die alkoholfrei leben. Prost, Jörgen! Vergiß das Künstlertum nicht!»

Er lachte. Sie brachte ihn dazu, von seinem Jazz-Hobby zu sprechen und davon, daß er Katzen und Joggingfans haßte. Sie hielten sich an der Hand, und die Pausen zwischen den Worten und Sätzen wurden länger.

«Du brauchst keine Kartoffeln mehr zu pressen», stellte Blom fest.

«Willst du mich ausziehen, oder soll ich es selbst tun?»

«Du!»

Sie hüpfte auf das Sofa und spielte eine Nummer voller Humor und Sinnlichkeit. Sieben Minuten brauchte sie, um vier Kleidungsstücke und eine Skisocke fallen zu lassen. Die andere behielt sie an.

Draußen, oberhalb von Varvsgatan auf der hohen schwarzen Steinmauer, die auch als Fundament für Gubbhusets Gård diente, starrte Mossads Menashe Seri in Britt Winters Wohnung hinein. «Oy veh gewalt!»

Er fror und beneidete Aron, der windgeschützt in einem Torbogen stand und nicht in fremde Fenster glotzen mußte.

Nachdem sie zusammen Dagens Nyheter gelesen hatten, ging Blom nach Hause in seine Wohnung. Britt hatte ihm einen Schlüssel für ihre Wohnung gegeben und versprochen, am Nachmittag vorbeizukommen, um sich einen Schlüssel für seine Wohnung abzuholen. Sie lernten sich besser kennen, verstanden sich besser und änderten ihre Gewohnheiten, um sich einander näherzukommen. Ein um die andere Nacht schlief Britt bei Blom oder Blom bei Britt. Er verwöhnte sie mit lustigen Ansichtskarten, die der Postbote fast jeden Tag brachte, und an den Wochenenden kam der Eilbriefbote. Sie kochte ihm etwas zu essen und machte in seiner Wohnung sauber, obwohl Blom früher auch selbst seine Räume stets sauber und ordentlich gehalten hatte.

Er ging in die Königliche Bibliothek in Humlegården und las Fachliteratur über das Theater und berühmte Schauspieler. Er begann auch Stellenanzeigen zu lesen. Manchmal verglich er seine derzeitige Situation mit den Wochen, in denen Tamara bei ihm gewesen war und in denen sie beide ständig debattiert und diskutiert hatten. Er vermißte sie jetzt nicht mehr. Mit Britt ging er häufig ins Theater.

Britt Winter rief regelmäßig Tamara Amram an.

«Binde ihn an dich», wies die Israelin sie an. «Mach ihn von dir abhängig.»

«Das tue ich gern, Tamara. Jörgen ist ein Geschenk des Himmels für ein einsames Mädchen.»

«Wenn er ein Geschenk ist, so ist der Geber Mossad in Tel Aviv. Vergiß das nicht!»

«Sag doch mal: ist er wirklich ein Geschenk oder nur eine Leihgabe? Willst du ihn irgendwann zurückhaben?»

«Mach dich nicht lächerlich, Britt. Wann fangt ihr mit den Proben an?»

«Nach Neujahr. Irgendwann im März ist die Premiere.»

«Gut. Achte nur darauf, daß Jorgen arbeitslos bleibt. Halt ihn davon ab, wenn jemand ihm eine Stellung anbietet. Und noch eins. Bleibt so häufig wie möglich zu Hause. Die Absicht ist, daß du ihn isolieren sollst, nicht mit ihm ins Theater gehen.»

«Hast du uns überwachen lassen?» Britt wurde kühler.

«Nicht direkt überwachen. Nimm das so, als ob ich eine Warnlampe angebracht habe. Die leuchtet auf, sobald du die Kollegen vom KGB dazu gebracht hast, sich für ihn zu interessieren. Das erste Treffen zwischen den Russen und Jorgen muß für alle Beteiligten wie ein Schock kommen. Danach wird der schwedische Geheimdienst Jorgen hetzen, bis er verzweifelt und reif ist, uns zu helfen.»

«Und ich dachte, du magst Jörgen.»

Die Operationschefin von Mossad antwortete nicht, statt dessen erteilte sie Befehle.

«Wie du weißt, hat Tel Aviv einen Zeitplan aufgestellt. Du mußt Jorgen vor dem 20. Januar mit einem KGB-Offizier zusammengebracht haben.»

Als Tamara später am Tag mit Tel Aviv telefonierte, nannte sie die letzte Woche im Januar als Zeitpunkt für den Start der Operation Wegweiser.

«Wie lange wird diese Phase dauern?» wollte Kaddishman aus der Planungsabteilung von Mossad wissen.

«Das weiß ich nicht. Das hängt vom KGB ab.»

«Was geschieht, wenn die Russen Blom ausschalten, statt auf ihn zu hören?»

«Mit der Möglichkeit habe ich nicht gerechnet. Memuneh auch nicht.»

«Memuneh ist nicht unfehlbar», gab Kaddishman zu bedenken.

Der Schnee kam rechtzeitig zu den Feiertagen, er knirschte wie auf den Weihnachtskarten und blieb liegen. Blom schenkte Britt ein Fahrrad, und Britt schenkte ihm ebenfalls ein Fahrrad.

«Zwischen den Feiertagen tauschen wir die gegen ein Tandem ein.»

Die Kirchenglocken läuteten das neue Jahr ein, und Britt fragte ihn nach dem ersten Kuß des Jahres 1983:

«Willst du jetzt ein Neujahrsversprechen abgeben?»

«Habe ich noch nie gemacht, aber in diesem Jahr sollte ich es vielleicht tun. Ich werde versuchen, einen neuen Job zu finden.»

Er hatte ihr seine Lage mit einer einfachen Lüge erklärt, nämlich alles auf den Regierungswechsel geschoben. Britt hatte nicht weiter nachgefragt, in den Medien war dauernd von beschäftigungslosen bürgerlichen ehemaligen Staatssekretären die Rede, die von den Sozialdemokraten aus den Ministerien hinausgedrängt worden waren. Sie erhielten weiter ihre Gehälter, aber der Verwaltungsapparat und die Parteikanzleien suchten sie hektisch irgendwo unterzubringen.

«Was bist du unromantisch! Jetzt sage ich dir mein Versprechen nicht. Das war ein ganz feines Versprechen, das kannst du mir glauben.»

Zu Hause in ihrer Oase überredete er sie dann doch, sie wollte ja nichts sehnlicher, als ihm ihren Vorsatz verraten.

«Ich verspreche dir, dich mehr zu lieben, als ich es im vergangenen Jahr getan habe, aber weniger, als ich es 1984 tun werde.»

Der Brief, auf den Britt Winter und Mossad gewartet hatten, kam am Freitag mit der Post. Die runden Druckbuchstaben auf dem Umschlag waren mit schwarzem Filzstift geschrieben worden und eingerahmt von Kringeln, Zweigen und Vögeln. So schrieb Santiago Garcia, die treibende Kraft hinter der Theatergruppe «Luftraum», seine Adressen. Auf einer Karte stand ein Gruß.

EIN GUTES NEUES JAHR, BRITT.

Nächste Woche fangen wir an.

Um zehn Uhr am Montag. Rosenlundsgatan.

Hauptbesprechung. Du bist willkommen!

Unter seiner Unterschrift lag ein gefleckter Hund und glotzte sie an.

Für Britt war es schwerer gewesen, sich diese Einladung zu erkämpfen, als Tamara Amram und Mossad sich das vorgestellt hatten. Sie hatte für die Theatergruppe freiwillig Sklavenarbeit geleistet, hatte Kostüme genäht, Brote gebacken, Maschine geschrieben, Botengänge erledigt. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob es nicht direktere Wege gab, die Jörgen Blom zu einem Treffen mit dem sowjetischen Geheimdienst in Schweden führten. Tamara hatte sie heruntergemacht – Profis nahmen von Amateuren keine Ratschläge an. Obwohl Mossad sich damals, als sie als Touristin in Israel gewesen war, gern angehört hatte, was sie zu sagen gehabt hatte.

Britt war in Tel Aviv von einem schwedischen Offizier, einem UNO-Beobachter im Libanon, der Hof gemacht worden. Um ihr zu imponieren, erzählte er von seinem Dienst, seinen Sympathien für die Palästinenser und von den Sympathisanten der PLO unter den Offizieren der UNIFIL – der Friedenstruppe der Vereinten Nationen im Libanon.

Eines Morgens explodierte eine Fahrradbombe auf einem Schulhof schräg gegenüber von ihrem Hotel. Der Schlag und das Heulen der Sirenen der Krankenwagen trieben sie ans Fenster. Sie sah, wie die Kinder fortgetragen wurden; vier Tote, sieben Verstümmelte. Sie rief ihren Vater an, der Pfarrer in Njurunda war, und erzählte ihm alles, weinte.

«Was sind das nur für Menschen, Vater?»

«Menschen ohne Gewissen, Britt.»

Sie ging auf die Polizeistation in der Rehov Ben Yehuda, und das war der erste Schritt zu einem Treffen mit Mossads stellvertretendem Operationschef, Tamara Amram. Sie trafen sich einmal in Paris und zweimal in Rom. Tamara erzählte von den vielen jüdischen Opfern des fürchterlichen Paragraphen 70 im Strafgesetzbuch der Sowjetunion. Dann bat sie Britt, dabei zu helfen, ein Treffen zwischen einem ehemaligen schwedischen Geheimdienstmann und einem der Verantwortlichen für die Aktivitäten des KGB in Schweden zu arrangieren.

Tamara hatte geplant und dabei auf das Theaterinteresse der hübschen Schwedin gebaut. Britt wollte ihre politischen Ideen und moralischen Wertungen szenisch vermitteln und ein breites Publikum dazu bringen, sie als künstlerische Ausdrucksweise zu akzeptieren. In und um Stockholm gab es mehrere freie Theatergruppen: «Oktober», «Erdzirkus», «Aurora», «Sargasso» . . . Die Israelin hatte «Luftraum» vorgeschlagen, denn diese Gruppe war mit Straßentheater und Bühnenaufführungen an der Kulturwoche in Ost-Berlin, Dresden und Leipzig beteiligt gewesen. Die Botschaft von «Luftraum» war Abrüstung und eine Blockade der Waffenindustrie.

«Die Mitglieder von ‹Luftraum› sind keine Kommunisten», versicherte Tamara. «Eher würde ich sie zu den Anarchisten rechnen. Unabhängig in ihren Ansichten, sind sie dank ihrer Aktivitäten genau die Sorte Mensch, für die sich der sowjetische Geheimdienst interessiert. Denk daran, daß einer der höchsten Offiziere des KGB in Stockholm formal Kulturattaché an der sowjetischen Botschaft ist.»

Nun war Britt also Mitglied der Theatergruppe geworden, und die Spielmarke Jörgen Blom war ein Feld näher an den KGB-Offizier herangerückt. Bei dem inszenierten Treffen in Arlanda hatte sie ihr Objekt für einen steifen, höflichen Langweiler gehalten. Nachdem sie das erste Mal mit ihm allein gewesen war, hatte sie ihre Meinung geändert. Sie ging mit Jörgen ins Bett, weil sie es so wollte und nicht, weil andere es geplant hatten, sie machte sich nicht zur Nutte des israelischen Geheimdienstes. Sie hatte sich in ihn verliebt und war mehrere Male kurz davor, ihm zu verraten, was Tamara alles inszeniert hatte. Nur daß Jörgen ihr etwas vorlog, hielt sie davon ab. Er trat ihr gegenüber als der politisch ausgestoßene Bürokrat auf. Wenn sie sich jetzt aufrichtig zeigte, würde auch seine schützende Verkleidung fallen, und die Liebe, die sie aneinander band, würde sich in Mißtrauen und Bitterkeit verwandeln.

«Luftraum» probte in Rosenlundsgatan. Der Tabakhändler um die Ecke hatte Britt wehmütig erzählt, daß das Theater in der guten alten Zeit ein angesehenes Kino gewesen war. Als Santiago Garcia die Räume entdeckte, hatten sie als Auktionslager, Schreinerwerkstatt und Maleratelier gedient. Sie zu heizen war zu teuer, deshalb saßen jetzt alle da und schlotterten trotz ihrer Mäntel und Steppanoraks.

«Luftraum» war ein Arbeitskollektiv und bestand aus neun Erwachsenen und drei Kindern. Sieben der Schauspieler und die Kinder lebten gemeinsam in einem großen Haus in Äppelviken, das in den zwanziger Jahren gebaut worden war. Fünf dieser sieben hatten 1978 die Theatergruppe gegründet und die Zielsetzung formuliert: Kultur soll ein natürlicher Spiegel der Gesellschaft im ganzen sein, etwas, das aus den kollektiven Erfahrungen der Mitbürger wächst. Motor von «Luftraum» war Santiago Garcia aus Barcelona, seit einigen Jahren schwedischer Staatsbürger. Er war geschmeidig, dunkel, mit hübschen Händen, vielleicht eine Idee zu weich. Alle nannten ihn Santi. Britt hatte erfahren, daß er vom Franco-Regime aus Katalonien vertrieben worden war. Santi war mit Ulla verheiratet, die ebenso wie ihr berühmter Vater umstrittene Artikel zu Kulturfragen schrieb. Sie war für einen Spruch bekannt, den sie verbreitet hatte: Früher glaubten nur die religiösen Fanatiker an den Weltuntergang. Im Zeitalter der Kernwaffen sind es die Realisten, die daran glauben. Ulla und Santi hatten eine niedliche, selbstbewußte dreijährige Tochter, die Liv hieß.

Zum Erfolg des Kollektivs «Luftraum» trugen alle mit ihren Ideen bei. Es gab keinen Produzenten und keinen Regisseur. Allerdings einen Organisator für die Spielpläne und Tourneen: das war fast jedesmal Santi. Er war kein großer Schauspieler, was er gern zugab, er hatte eine glücklichere Hand mit Finanzen und Finanzierungen.

Sie begannen mit der Arbeit an einem Stück, das Gunilla Öhman geschrieben hatte: Wo die Pelikane schlafen. Jeder las den anderen sämtliche Rollen vor. Das war die Voraussetzung für die Verteilung der Rollen und die Diskussion über die philosophischen und szenografischen Zusammenhänge in dem Stück.

Für Britt Winter wurde die Ausdrucksform, die in «Luftraum» praktiziert wurde, nämlich mit dem Körper und der Stimme zu übertreiben, eine Befreiung. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Gruppe, die eine bewußt selbständige Theatersprache jenseits der Wirklichkeit aufbauten, wurde Gunilla Öhmans Stück Britts Realität, und das Theatralische war ihr Intrigenspiel für den Mossad.

Sie traf sich weiterhin jeden Abend mit Blom, entweder ging sie nach den Proben zu ihm, oder er kam zu ihr. Auf den zugefrorenen Wasserläufen in der Stadt unternahmen sie fast täglich längere Schlittschuhausflüge. Blom war sich bewußt, daß sein Drohnendasein ihn leicht zu einem Querulanten werden lassen konnte. Britt sprühte vor Freude über ihre neue Aufgabe, und er bot sich an, ihr beim Lernen ihrer Rolle zu helfen, denn er hatte die vage Idee, daß ein Schauspieler dasitzen und seine Rolle auswendig lernen mußte. Das gegenseitige Lesen und Abhören war bei der Arbeitsweise von «Luftraum» sinnlos, aber schließlich willigte sie seinetwegen ein.

Triumph der Lüge - Schweden-Krimi

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