Читать книгу Lilith - Ralph Kluge - Страница 3
Prolog
ОглавлениеEs war nicht der Tag, der zuerst da war,
sondern die Nacht, genauso,
wie nicht das Leben zuerst da war,
sondern der Tod.
Manchmal geschehen Dinge, die man zuerst nicht abschätzen kann, die einen aber völlig aus der Bahn werfen können. Es sind dies oft die Dinge, denen man gar keine so grosse Bedeutung zukommen lässt. Und doch sind sie die Weggabelungen der Schicksalswege.
Oft schon habe ich mich gefragt, was wohl passiert wäre, wenn ich an jenem Sonntag einfach im Bett geblieben wäre, hätte gegen Mittag gefrühstückt und den ganzen Tag ferngesehen oder ein Buch gelesen oder was auch immer. Auf jeden Fall etwas anderes unternommen als diesen Spaziergang, der mein Leben so veränderte.
Hätte ich es vorher gewusst, ich wäre nicht mehr vor die Tür gegangen. Warum musste gerade mir das passieren?! Es gibt Leute, die leben glücklich und zufrieden, bar jeder Sorgen, verdienen genug Geld, haben für alles eine Lösung, werden von allen gemocht und sterben in hohem Alter in diesem Zustand, also genauso glücklich und zufrieden wie immer. Warum konnte ich keiner von diesen sein? Nicht, dass ich es mir bisher gewünscht hätte, es ging mir auch so ganz gut, aber nach allem, was geschehen ist, hätte ich dieses Leben doch vorgezogen. Mit Freuden wäre ich sogar sonntags zur Kirche gegangen und hätte den eindringlichen Worten eines von der Kanzel wetternden Pastors zugehört und wäre nach der Messe in Demut nach Hause gegangen, frohen Herzens, dass wir alle in Gottes Hand sind und ER unser Leben lenkt. Diese Art von Leben wäre ja so einfach gewesen, nichts kann einen erschüttern, denn Gott fängt dich auf, solltest du einmal straucheln.
Warum aber hat ER mich nicht aufgefangen, als ich im Begriff war zu straucheln?!
Wo war ER an jenem Sonntag beim Spaziergang?! ER war nicht da! Ich war ganz allein, als ich im milden Sonnenschein durch die Flussauen schlenderte und den warmen Wind genoss.
Ich war auch allein, als ich mich am Flussufer ins Gras setzte und der Strömung zusah, und das Schicksal nahm seinen Lauf ...