Читать книгу Die Politik und ihr Wahnsinn - Ralph Llewellyn - Страница 7

IRGENDWO IN DEUTSCHLAND, ANFANG JANUAR 2017

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I

„Guten Tag, Herr Burchard.“ Eine dickliche junge Dame empfing Hans freundlich an der Haustür. Sie streckte ihm die Hand entgegen, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt. Oh, wie er es hasste, fremde Hände zu schütteln.

Er hatte sich in dieser schmutzigen Welt bereits auf vieles vorbereitet. Dazu gehörte auch ein schmaler Streifen Plastikfolie, den er immer griffbereit in der Tasche trug. Ihn konnte er zuerst auf die Klingel legen, bevor er sie drückte. Allein schon der Gedanke, wer bereits alles seinen Finger auf diesen unschuldig aussehenden Knopf gepresst hatte, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Finger voller Bakterien, Viren und sicher manchmal auch Fäkalien. Aber ums Händeschütteln kam er nur selten herum, ohne den Anschein von Unhöflichkeit zu erwecken.

„Guten Tag, Frau Frohsinn“, antwortete er höflich. Noch brannte in ihm ein Kampf, ob er ihr die Hand reichen oder verweigern sollte. Sie streckte ihm ihre entgegen – wie eine stumme Frage, die zu beantworten er noch nicht bereit war.

Ein unsicheres Zucken durchdrang plötzlich ihren Blick. Hatte sie sein Zögern bereits bemerkt? Ach, warum war er nicht Astronaut geworden? Schwerelos in sicherer Distanz zu Menschen und Unrat. Resigniert schloss er die Augen und tat, was von ihm erwartet wurde. Seine noch absolut saubere Hand umschloss ihre fleischigen Finger, die sich feucht und klebrig anfühlten. Feucht und klebrig? „Oh Gott“, entfuhr es ihm ungewollt, und ein eisiger Schauer ließ ihn frösteln.

„Wie bitte?“

„Oh, nichts Besonderes. Wie schön doch Ihr Haus ist“, antwortete er hastig. Schnell zog er seine Hand wieder zurück, und obwohl er einen heftigen Drang verspürte, sie irgendwo abzuwischen, ließ er sie steif nach unten hängen.

„Ach so. Na, dann kommen Sie doch rein.“ Ihr war vielleicht doch nicht aufgefallen, was so offensichtlich gewesen war, denn sie lächelte ihm zu und trat mit einem einladenden Schritt zur Seite.

Eilig griff er in die Jackentasche und holte Überstreifer für seine Schuhe heraus.

„Das muss nicht sein“, entgegnete sie.

„Aber ich möchte doch nur, dass alles sauber bleibt.“

Sie winkte nur ab. „So sauber ist es hier auch nicht. Meine Putzfrau ist im Urlaub, und ich habe wirklich keine Zeit, sauber zu machen. Mit drei Kindern hat man alle Hände voll zu tun.“

Während sie sich umdrehte und vor ihm die Diele betrat, hallten ihre Worte in seinen Ohren nach: So sauber ist es hier auch nicht, drei Kinder … Es dauerte einige Sekunden, bis er seine Starre überwunden hatte und ihr zögernd folgte.

Als er sich entschlossen hatte, Makler zu werden, wusste er noch nicht, wie sehr er seinen Beruf eines Tages verabscheuen würde.

II

Ein durchdringendes Bimmeln, das unwirklich und dennoch aufdringlich real klang, riss Frank aus dem Schlaf. Mit einem leisen Brummen drehte er sich auf den Bauch und stülpte sich das Kissen über den Kopf. Nein, die Nacht konnte doch wirklich noch nicht vorüber sein. Oder etwa doch?

Immer wieder hämmerten die schrillen Töne auf ihn ein, bis er endlich nachgab und nach dem Wecker tastete. Seine Hand brauchte einige Zeit, bis sie endlich die nervtötende Quelle fand und ausschaltete.

Vorsichtig öffnete er die Augen nur ein paar Millimeter weit, doch sofort drang ihm eine schmerzvolle Helligkeit entgegen, die er kaum ertragen konnte. Sein Kopf fühlte sich wie Watte an, und seine Gedanken krochen in zähem Schleim dahin, der Erinnerung an den gestrigen Abend nach.

„Scheiße“, fluchte er und drehte sich wieder auf den Rücken. Jede Bewegung stach wie eine Nadel in sein malträtiertes Hirn. Was war gestern nur geschehen?

Nach und nach kehrten schließlich die Bilder zurück, wie er letzte Nacht in einer Bar versackt war. Ja, er hatte Spaß gehabt. Gelacht und Mist erzählt. Und geflirtet hatte er auch. Aber wie war er nur nach Hause gekommen? Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, dass er mit einer dunkelhaarigen Schönheit im Arm an der Bar gesessen und einen Trinkspruch gelallt hatte, den er heute nicht mehr zusammenbekam. Und dann? Dann verschwammen die Erinnerungen.

Erschrocken tastete er das Bett neben sich ab, doch es war zum Glück leer.

So konnte es beim besten Willen nicht weitergehen. Zu viel Alkohol, zu viele Frauen, und zu nah stand er an der Klippe des Untergangs. Noch ein paar Schritte, und es war vorüber. Es war dieses Gefühl der Leere, die er zu ertränken versuchte. Seine Geschäfte liefen gut, aber sein privates Leben erstickte förmlich in Unwichtigkeiten.

Er atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er langsam die Augen. Es würde wieder ein Tag wie jeder andere werden, ein Scheißtag. Er hatte sich für ein Maklersymposium angemeldet, auf das er nun aber überhaupt keine Lust verspürte. Am liebsten hätte er einfach die Augen wieder geschlossen und den Tag vergessen.

Doch irgendetwas irritierte ihn. Er stemmte sich im Bett hoch und ließ den Blick im Schlafzimmer umherschweifen. Alles schien normal zu sein, und doch war etwas anders. Seine Kleider musste er in der Nacht achtlos über die Lehne eines Sessels geworfen haben, die Sonne stahl sich durch die Schlitze des heruntergelassenen Rollladens, und Kaffeeduft durchzog das dämmrige Zimmer. Was um Himmels willen stimmte hier nicht?

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Kaffee. Oh Mist! Er ahnte bereits, was nun kommen würde.

Plötzlich schwang die Schlafzimmertür auf, und da stand sie, die Dame von gestern Abend. Nur mit einem Badetuch umwickelt, tänzelte sie mit zwei Tassen und einem entzückten Lächeln auf ihn zu.

Wie sehr er sein Leben doch hasste.

III

„Hm, ich weiß nicht, ob das wirklich gut gehen kann“, sagte der Herr im dunklen Seidenanzug und seufzte. Ein Präsident hatte es sicher nicht immer leicht. Besonders nicht in Amerika.

„Inwiefern, Mister President?“, fragte ihn sein Berater und beugte sich ein wenig nach vorne. Einmal in der Woche saßen sie hier zusammen und berieten sich über das, was draußen in der Welt vor sich ging.

Ein müdes Lächeln umspielte die Lippen des Präsidenten. Unter seinem Nachfolger würde sich vieles verändern. Die Republikaner waren mal wieder außer Rand und Band. Selbst in den eigenen Reihen war der Neue nicht beliebt. Aber davor fürchtete er sich nicht. Seine acht Jahre neigten sich unaufhaltsam dem Ende entgegen. Vieles hatte er sich vorgenommen gehabt, doch nur wenig davon auch wirklich umsetzen können. Das politische Machtspiel kam einem hochgetakteten Sportwagen gleich, dem man den Zündschlüssel weggenommen hatte. Wer ihn bewegen wollte, musste ihn schieben. Und das dauerte seine Zeit.

„Na ja, ich frage mich, ob es wirklich okay ist, was wir mit Europa machen“, sprach der Präsident nach der kurzen Gedankenpause weiter. „Haben Sie keine Angst, dass sie sich irgendwann wehren könnten?“

„Wehren? Sprechen wir über dieselben?“ Ein süffisanter Unterton lag in der Stimme des Beraters, als hätte er die Frage nicht richtig verstanden. Aber er wusste genau, worauf der Präsident hinauswollte.

„Nun, wir fordern viel, bringen Unordnung in das Weltgeschehen und treiben die Europäer vor uns her. Wir überwachen sie auf Schritt und Tritt und sagen ihnen, was wir von ihnen wollen.“

In den acht Jahren seiner Amtszeit war der Präsident alt geworden. Sein zu Beginn noch jugendliches Aussehen war dem Antlitz eines alternden Mannes gewichen, und tiefe Falten hatten sich auf seine Stirn eingegraben. Eigentlich könnte es ihm egal sein, was andere dachten. Seine Aufgabe war es, das Beste für sein eigenes Volk zu tun, er hatte nur seinem Amerika gegenüber Rechenschaft abzulegen. Und er liebte sein Land wie kaum ein anderer. Aber es war eine globale Welt, in der alle miteinander vernetzt waren. Man konnte sich nicht auf einer Insel einigeln und glauben, dass man für andere keine Verantwortung trug.

„Das politische Geschäft war, ist und wird nie eine saubere Angelegenheit sein“, gab sein Berater zu bedenken. „Es ist ein schmutziges Geschäft, und man darf sich nicht zu viele Gedanken über andere machen. Wenn wir stärker sein wollen, müssen wir andere zu Schwächlingen machen. Stärke hat eine Grenze, und die haben wir erreicht.“

Der Präsident hob die Augenbrauen. „Andere zugrunde richten, nur um selbst besser dazustehen?“ Das war etwas, das er niemals verstehen würde.

„Ja, genau so läuft das Spiel. Wir destabilisieren Länder und lassen andere dafür zahlen. Wir stürzen Regierungen, um wiederum anderen die Vorteile, die sie vielleicht hatten, zu nehmen. Wir verunsichern die Märkte, um unsere Wirtschaft zu stärken. Wir überwachen alles und jeden, um rechtzeitig zu erfahren, wenn etwas gegen uns gerichtet ist. Das ist doch eine gute Situation für uns“, kam prompt die Antwort des Beraters, trocken und ohne jegliche Emotion.

„Aber es handelt sich hier um Menschen, Familien und Kinder, die unter dem, was wir anrichten, leiden müssen. Die Europäer knicken bald wegen der vielen Flüchtlinge ein. Das überstehen sie nicht.“

„Mag sein. Was wir geplant hatten, hat nicht ganz hingehauen. Der syrische Präsident will einfach nicht loslassen. Er ist der Böse, nicht wir“, erklärte der Berater, erntete dafür jedoch nur ein verbittertes Grinsen.

„Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen, aber doch nicht mir.“

Der Berater beugte sich nach vorne und revanchierte sich mit einem entspannten Lächeln. „Mister President, unsere Aufgabe ist es, zu überleben und zu siegen, die Ersten zu sein. Ja, wir haben das angezettelt, um den Russen ihre strategische Position dort zu nehmen, aber es hat eben nicht funktioniert. Und? Ist das nun schlimm? Für uns läuft doch trotzdem alles sehr gut. Wir unterstützen die PKK, indem wir ihr Waffen liefern, und bekommen das sogar bezahlt. Das stärkt unsere Wirtschaft. Dafür kämpft die PKK gegen den IS. Die Türken wiederum bombardieren die PKK-Stellungen, also liefern wir ihnen ebenfalls Waffen. Vor Kurzem waren auch die Russen sauer auf die Türken. Wir intervenierten und gaben den Russen die ganze Schuld, aber am Ende kaufen auch die bei uns Munition und Waffen ein. Die Europäer ächzen unter der Last der Flüchtlinge, und unsere deutschen Verbündeten laden sie auch noch alle ein, ha! Das schwächt auch sie. Der Dreh mit der Ukraine war ebenso genial. Die Russen nehmen die kaputte Krim und andere pleitegegangene Ländereien. Das macht sie noch schwächer. Die Deutschen geben den Ukrainern Geld und werden dafür ärmer. Alle werden schwächer, nur wir nicht. Wir benötigen starke Partner, aber sie sollten nicht zu mächtig sein. Ganz einfach.“ Der Berater lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und neigte nachdenklich den Kopf. „Sie haben gefressen, dass wir sie abhören, selbst dass wir das Handy der deutschen Kanzlerin überwacht haben. Klar, man hat sich ein wenig aufgeregt, aber mehr doch nicht. Sie haben auch akzeptiert, dass wir geopolitische Interessen in der Welt verfolgen, wie zum Beispiel in Griechenland und der Ukraine. Wir wollen unser Militär dort stehen haben, und die anderen müssen eben auch etwas dafür tun. Im Gegenzug gewähren wir ihnen Schutz.“

Der Präsident blickte kopfschüttelnd zu Boden. „Das klingt ein wenig nach Mafiamethoden. Wir bieten ihnen Sicherheit und verlangen dafür Schutzgelder.“

„Nicht ganz, Mister President, nicht ganz. Wir verlangen Schutzgelder, bieten aber nicht wirklich Sicherheit. Es scheint nur so, als würden wir das tun.“

Als sich ihre Augen trafen, lag etwas im Raum, das sie sich beide nicht erklären konnten. Die amerikanische Verfassung garantierte jedem ein Recht auf Glück. Was sein Berater gerade erläutert hatte, entsprach sicherlich der Wahrheit. Aber es war eine Wahrheit, die nicht glücklich machte.

IV

Hans saß steif auf seinem Stuhl und schaute sich zaghaft im Vortragssaal um. Er glich einer verschüchterten grauen Maus, die nicht anecken oder auffallen wollte. Nach den Erlebnissen am Morgen wäre er lieber zu Hause geblieben, aber er hatte sich nun mal für dieses Symposium angemeldet – und was er sich einmal vorgenommen hatte, das zog er auch gewissenhaft durch. Das war eine seiner wirklich guten Eigenschaften, die auch seine Kunden zu schätzen wussten. Er war verlässlich und konnte klar strukturiert arbeiten – zumindest dann, wenn er nicht mit Schmutz jeglicher Art hantieren sollte. Die Besichtigung am Vormittag war abscheulich gewesen. Die Bilder dieser Kloake, wie er es empfunden hatte, schwelten noch immer in seiner Erinnerung. Wie konnte ein Haus nur so verdreckt sein? Einige Male musste er stehen bleiben und vor Übelkeit würgen. Zwar schob er es sofort auf eine Magenverstimmung, bedingt durch eine schlechte Mahlzeit am Abend zuvor, in den Augen der Frau aber sah er, dass sie ihm nicht glaubte. Als ihm dann auch noch unabsichtlich ein verräterisches „Igitt“ über die Lippen rutschte, geschah das Unvermeidliche. Auf ihre Frage, ob er etwas an ihrem Haus auszusetzen habe, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Und das tat er. Ohne Wenn und Aber. Nichts ließ er aus, nicht ihre klebrigen Finger, den schmutzigen Boden, die verrauchten Gardinen, die die Räume unsinnig verdunkelten, und auch nicht das Badezimmer, in dem er eine Unzahl kleinster Lebewesen vermutete, die sich in verdreckten, nicht gelüfteten Räumlichkeiten wunderbar entwickeln konnten.

Ihre unmissverständliche Aufforderung, sofort das Haus zu verlassen, überraschte ihn nicht. Der scharfe Ton ihrer Stimme spie förmlich die Empörung heraus. Diese Dame – wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte – würde ihn niemals weiterempfehlen.

Unten auf der Straße traute er sich dann endlich wieder, tief durchzuatmen. Zwar hatte er einen potenziellen Auftraggeber verärgert, dafür aber seine Lunge vor Schimmelpilzen verschont. Die dumpfe Wehmut, wieder einen Auftrag wegen seiner Unfähigkeit zu lügen verloren zu haben, konnte er nicht gänzlich unterdrücken. Noch einmal schaute er sich verstohlen zu dem Haus um, in dem er die Hölle gesehen hatte. Seine Augen verweilten für einige Sekunden an dem Fenster, von dem aus die Dame ihm einen giftigen Blick nachwarf. Oh, wie konnten die Wesen der Nacht und des Unrats doch böse schauen! Mit einem Seufzer hatte er sich umgedreht und war gegangen.

Jetzt saß er da und grübelte, warum ihn sein Schicksal gerade in die Welt der Immobilien geführt hatte, wo es dort doch so viele schmutzige Dinge zu sehen gab. Er würde es nie verstehen.

Er straffte die Schultern, schüttelte die unseligen Gedanken ab und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was ihn heute noch erwarten würde. Bald würden interessante Vorträge beginnen. Die Themen des Symposiums waren mannigfaltig und in manchen Teilen auch wichtig, um im Dschungel der Gesetze überleben zu können. Der Gesetzgeber hatte sich auf die Makler eingeschossen, angefangen vom Bestellerprinzip, das den Mangel an mietbaren Wohnungen weiter verschärfte, bis hin zu den größtenteils unnötigen Auflagen für Besichtigungen. Welcher Mietinteressent konnte schon verstehen, dass er seinen Personalausweis vorzeigen sollte, nur um eine Wohnung zu besichtigen, die er vielleicht mieten würde – oder auch nicht. Doch darum ging es der Politik nicht. Weil der damaligen Großen Koalition aus CDU und SPD gemeinsame inhaltliche Perspektiven fehlten, hatte man sich ein Opfer aus den Fingern gesogen: die Makler. Sicherlich hatten sie sich vorher wochenlang darüber Gedanken gemacht, wen oder was man angreifen könnte, um die Wähler hinter sich zu vereinen, ohne auf große Gegenwehr zu stoßen. Da Immobilienmakler kaum eine nennenswerte Lobby besaßen und zudem bei den meisten Menschen nicht überaus beliebt waren, hatte man schließlich etwas gefunden, auf dem man nun herumhacken konnte. Nicht dass es wichtigere Themen gegeben hätte, aber letztendlich ging es Politikern doch nur um die Wiederwahl. Eigentlich verständlich, wenn man bedachte, dass es in der freien Wirtschaft keine Verwendung für sie gab. Also blieb den Maklern nichts anderes übrig, als sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und sich die neuen Auflagen einzuverleiben.

Wieder seufzte Hans und richtete den Blick wehmütig zur Decke. Was hätte aus ihm alles werden können. Das Maklerdasein war nicht das, was er sich gewünscht hatte. Vielleicht sollte er sich Gedanken machen, ob es nicht doch etwas anderes gab, das er tun konnte.

Für ihn sprach sicher seine Intelligenz, er war wortgewandt, zuverlässig und lernfähig. Das waren eindeutig Pluspunkte. Neutral bewertete er seine Ehrlichkeit, die ihm zugegebenermaßen nicht nur Vorteile einheimste. Auch konnte er seine Schmutzphobie nicht immer verbergen. Trotzdem stufte er diese Eigenschaften nicht im Bereich der seelischen Niederungen ein, sondern eben neutral. Wenn er es genau überlegte, konnte er beim besten Willen keine echten Minuspunkte finden, die erwähnenswert waren – abgesehen vielleicht von seinem Alter. Nicht jeder Arbeitgeber bewertete es als positiv, dass man schon jenseits der vierzig war, wenn auch nur knapp. Die Wirtschaft suchte junge Leute, nicht unbedingt Menschen mit Erfahrung und damit auch eigenen Ideen.

Wenn er nur einen Weg fände, seine Schmutzphobie loszuwerden. Für ihn war sie einfach nur ein Bestandteil seines Wesens, für seine Umwelt jedoch musste sie seltsam anmuten. Vielleicht sollte er sie doch auf die Negativliste stellen. Obwohl Sauberkeit so wichtig war in dieser schmutzigen Welt voller Müll.

„Oh Mann, du Arsch!“, hörte er plötzlich mitten in seine Gedanken hinein seinen Sitznachbarn fluchen. Empört rümpfte Hans die Nase und musterte ihn unauffällig. Ein sehr gut gekleideter Mann Mitte dreißig, der unter dem legeren Jackett ein eng anliegendes Poloshirt mit kleinen Glitzersteinen trug. Er fuchtelte aufgeregt mit seinem Handy herum und hämmerte wild auf das wehrlose Display ein, als ginge es um sein Leben, wobei er immer wieder unanständige Flüche ausstieß. Wem auch immer diese galten, der Betroffene konnte sie jedenfalls nicht hören. Hans jedoch war der arme Idiot, der daneben saß und alles über sich ergehen lassen musste.

Schließlich wurde es Hans zu viel. „Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Probleme?“

„Probleme?“, fragte der Fremde mit weinerlicher Stimme. „Probleme? Und ob ich die habe. Mein Lover will mich wegen eines alten Knackers verlassen. Können Sie sich so etwas vorstellen?“

Hans schaute ihn nur geschockt an. Nein, das konnte er sich in der Tat nicht vorstellen, und ehrlich gesagt wollte er das auch gar nicht. Vergeblich versuchte er, seinen Stuhl etwas weiter wegzuschieben.

„Ja genau, so ist das. Wegen eines Millionärs“, schimpfte sein Sitznachbar weiter. „Der kann dem kleinen Dreckarsch dann einen Analplug kaufen und dran lutschen.“

Wieder verspürte Hans diesen fürchterlichen Würgereiz, der ihn bereits am Vormittag heimgesucht hatte. Sein Magen drehte sich um angesichts der Worte, die er da gerade hören musste. Was war das nur für eine Welt.

„Oh, du Sohn einer versoffenen Hure. Dir gebe ich es jetzt!“ Der junge Mann machte seine Drohung wahr, indem er die Ruftaste drückte.

Hans hoffte, dass der Angerufene nicht ans Telefon gehen würde, da er sich das dann folgende Gespräch vorstellen konnte. Sein Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung.

„Tommy, was ist mit dir los? Ich liebe dich doch. Bitte verlass mich nicht!“ Sein Sitznachbar war nun wie verwandelt, scheinbar versuchte er zu retten, was zu retten war.

Hans wollte die Augen von dem Geschehen abwenden, doch es gelang ihm nicht. Wie ein vor der Schlange erstarrtes Karnickel musste er dem Schauspiel zusehen.

„Wie bitte? Ich habe nicht meinen Mann gestanden?“

Nun drehten sich die Leute bereits nach ihnen um. Hans hob abwehrend die Hände, er hatte damit nichts zu tun.

„Weißt du was? Steck deinen verfaulten Schwanz in den Bleistiftspitzer. Nimm den Alten, denn für mich bist du Geschichte!“

Hans lief nun endgültig rot an. Schlimmer konnte es an diesem Tag wirklich nicht mehr kommen. Doch in diesem Punkt sollte er sich gewaltig irren.

V

„Aber, aber, Frau Christ.“ Karl stöhnte, als sich Susanne langsam auf die Knie senkte und geschickt seine Hose öffnete. Sie wusste genau, wie sie sich Kunden fügsam machen konnte. Mit einem verführerisch naiven Augenaufschlag blickte sie kurz zu ihm auf, direkt in seine lüsternen Augen. Ja, so waren die Männer.

Karl war verheiratet, besaß viele Immobilien und hatte stets neue Projekte am Laufen, sodass immer wieder eines seiner Objekte verkauft werden musste. An ihm hatte sie schon einiges verdient, aber das hatte auch seinen Preis: Sex. So manches Mal hatte sie sich gefragt, ob das nicht schon Prostitution war, was sie hier betrieb. Sie bekam etwas und gab dafür ihren Körper. Nicht jedem, aber zumindest denjenigen, die ihr gefielen. Ja, es hatte etwas Anrüchiges, aber sie ließ sich auch gut dafür bezahlen. Und wenn schon eine Nutte, dann wenigstens eine Edelnutte.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie mit der Arbeit begann. Anders als sonst gab Karl diesmal kaum ein Stöhnen von sich, nur ab und zu ein leises Hauchen, doch sie hatte jetzt Wichtigeres tun, als darüber nachzudenken. Sie benötigte nur noch Karls Unterschrift unter den Maklervertrag, dann konnte sie sich endlich auf den Weg zu dieser blöden Maklerveranstaltung machen.

Die Vorträge hielt sie nicht für wichtig, umso mehr jedoch das Netzwerken, für das solche Treffen die perfekte Gelegenheit waren. Das war letztendlich ihre Arbeit: Immobilienakquise und professionelle Vermarktung. Und genau dafür benötigte sie neue Kontakte und Informationen, die sie auf solchen Veranstaltungen fand. Mit Charme und weiblicher Überzeugungskraft erreichte sie, was viele ihrer männlichen Kollegen nicht hinbekamen.

„Oh“, hauchte es nun zu ihr herab. Als sie aufschaute, war Karls Kopf nach hinten weggekippt. Er schien es in vollen Zügen zu genießen. Ein kleines Zucken und – nichts. Vergeblich wartete sie auf seine Erektion, anscheinend war er noch nicht am Ziel seiner Wünsche angekommen. Leider. Für gewöhnlich kam Karl schneller, heute aber machte er es ihr nicht so leicht. Verdammt, für diese blöde Wohnung musste sie sich wirklich anstrengen.

Ein flüchtiger Seitenblick auf die Uhr mahnte sie zur Eile. Zumindest zur Nachmittagsveranstaltung wollte sie angekommen sein. Sie hatte noch gut drei Stunden Autobahnfahrt vor sich und benötigte ein wenig Zeit, um sich auf die Veranstaltung vorzubereiten. Duschen, Düfte, ein eng anliegendes Kostüm, Farbe im Gesicht und so weiter.

Oh Karl, komm endlich, flehte sie stumm. Sie hatte fürwahr nicht den ganzen Tag Zeit für diese Spielchen und beschloss, nun all ihre Geschicke einzubringen. Sie kannte so manchen Dreh, um zu beschleunigen, was die Männer so sehr liebten. Der Typus Mann war eine sehr einfach konzipierte Kreatur, wobei sie absolut nicht verstand, warum Gott so etwas erschaffen hatte. Wofür waren diese behaarten, zweibeinigen Primaten überhaupt zu gebrauchen? Zum Abkassieren, beantwortete sie ihre Frage selbst und blickte nochmals zu Karl auf, der noch immer mit zurückgekipptem Kopf steif im Stuhl hing.

Sie unterbrach ihre vergeblichen Bemühungen. „Karl, ist etwas nicht in Ordnung? Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“

Aber er reagierte nicht. Mit leichtem Zorn stand sie auf und wollte ihn gerade anfahren, als sie seine weit aufgerissenen Augen sah, die starr zur Decke gerichtet waren. „Karl?“, rief sie etwas lauter und musterte ihn genauer. Seine Augen hatten ihren Glanz verloren und wirkten matt und leblos. Oh nein, das konnte doch nicht wahr sein!

Vergeblich versuchte sie, seinen Puls zu fühlen. „Karl!“, schrie sie ihn noch einmal an und wich kopfschüttelnd ein paar Schritte zurück. „Du Drecksack hast dich einfach davongemacht, ohne meinen Vertrag zu unterschreiben! Oh Mann!“

Dann erst begriff sie so richtig, was passiert war: Sie hatte doch tatsächlich einem Toten zum Orgasmus verhelfen wollen. „Igitt!“, schrie sie auf, schüttelte sich und versuchte vergeblich, den schalen Geschmack in ihrem Mund auszuspucken. Sie hatte schon sehr viel erlebt, aber das war mit Sicherheit an makabrer Skurrilität nicht zu übertreffen.

Es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder im Griff hatte. „So ein blöder Sack“, fluchte sie und überlegte, was sie nun machen sollte. Sollte sie den Krankenwagen rufen? Aber eigentlich war das sinnlos, da es niemanden mehr zu retten gab, außer eventuell sie selbst. Besser wäre es wohl, sofort die Polizei zu benachrichtigen, wobei auch dieser Gedanke Nachteile barg. Dann würde seine Frau alles erfahren. Ein Skandal.

Unschlüssig lief sie auf und ab, blieb dazwischen aber immer wieder kurz stehen, um den frischen Leichnam zu betrachten. Irgendwie hoffte sie ganz unbewusst, dass Karl wieder die Augen öffnen würde und alles nur ein schlechter Scherz gewesen war. Aber er blieb starr und stumm.

Resigniert hielt sie inne und griff nach dem Telefonhörer. Sie hatte keine andere Wahl. Einfach abhauen konnte sie nicht, sie musste es melden. Und wegen seiner Frau, besser gesagt seiner frischgebackenen Witwe, musste sie sich keine Sorgen machen, wenn sie es geschickt anstellte. Sie würde versuchen, Karl die Hose wieder hochzuziehen, und dann der Polizei gegenüber aussagen, dass er mitten in der Besprechung ohnmächtig geworden und auf dem Stuhl zusammengesackt sei. Ja, das war eine gute Lösung.

Der Tag fing ja wirklich gut an.

VI

Die Hotelbar war dunkel und schummrig. Genau das Richtige für Frank. Einen weiteren Absturz wollte er zwar nicht erleben, aber gegen einen Drink konnte doch niemand etwas einwenden.

„Guten Abend, mein Herr, was darf ich Ihnen Gutes tun?“, fragte der Barkeeper, als Frank seinen Platz am Tresen eingenommen hatte.

„Hm, eine hübsche, willige Frau, eine Flasche Rotwein und nette Musik“, antwortete er trocken, erntete dafür aber nur ein verständnisvolles Nicken. Barkeeper mussten oft das blöde Gelaber der Gäste über sich ergehen lassen und waren dadurch einiges gewohnt.

Die kleinen gelben Lampen im Hintergrund erhellten alles gerade gut genug, um die Flaschen in den verspiegelten Regalen erkennen zu können. Da Frank wohl auf eine vom Barkeeper vermittelte Dame verzichten musste, entschied er sich für einen Bourbon auf Eis, das Getränk für einsame Männer.

„Bitte sehr, der Herr. Vielleicht haben Sie ja noch Glück heute Abend.“

Frank schüttelte den Kopf. „Das war heute nicht mein Tag und wird es auch nicht mehr werden.“ Er nahm das Glas und starrte gedankenverloren in die bräunliche Flüssigkeit, in der Eiswürfel schwammen. Bald werdet auch ihr erledigt sein, dachte er und zwinkerte ihnen zu.

Er war müde. Es war jedoch nicht die Art von Müdigkeit, die man empfand, wenn man schlafen gehen wollte. Nein, sicherlich nicht. Er wollte einfach nicht mehr. Das Leben hatte er genossen, zumindest soweit er das konnte. Ausgelassen hatte er nicht viel. Jetzt aber machte ihm kaum noch etwas Spaß.

Er sah zu, wie sich die Eiswürfel hilflos auflösten. Sie wurden immer kleiner, bis sie irgendwann ganz verschwunden waren. Ja, sie hatten das schon hinter sich gebracht, was ihm selbst noch bevorstand. Ein guter Abgang. Versunken in seinen Gedanken bemerkte er nicht, wie sich ein junger Mann zu ihm setzte und ihn einige Minuten neugierig beobachtete.

„Ihnen geht es wohl auch nicht so richtig gut, stimmt‘s?“, fragte ihn der Fremde plötzlich.

Nur langsam hob Frank den Kopf. Seine Gedanken waren noch mit einem würdigen Selbstmord beschäftigt, da wollte er sich nicht mit banalen Gesprächen abgeben. Ignorieren hilft meistens, dachte er sich zuerst, aber dann entschied er sich doch für eine unmissverständliche Offenheit. „Kennen wir uns? Nein, ich denke nicht. Also lassen Sie mich einfach in Ruhe!“, herrschte er ihn an, dann widmete er sich wieder seinem Glas Bourbon.

„Oh, der Herr ist verschnupft. Hat Sie auch eine Liebschaft verlassen?“ Der Fremde ließ nicht locker und zog seinen Hocker näher zu Frank heran.

Frank musterte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. Er maß mindestens einen Meter achtzig, sah durchtrainiert aus und war um einige Jahre jünger als er selbst. Wenn er jetzt aufstehen und dem Typen einfach eine in die Fresse hauen würde, käme das wahrscheinlich nicht so gut. Traf er, würde wohl eine Anzeige auf ihn warten. Und traf er den Fremden nicht, dann würde er selbst sich wohl im Krankenhaus wiederfinden.

Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit. „Darf ich Sie zu einem Glas Was-auch-immer einladen?“, fragte er den Mann, der ihn überrascht anblickte.

„Oh, ähm, danke. Gerne.“

Wer Frank kannte, wusste, dass dies eine Falle der besonderen Art war. Er hatte ein kaltes, abgeklärtes Wesen, gehärtet, geschmiedet und vom Alkohol trügerisch geschmeidig gemacht.

„Nehmen Sie auch an den Vorträgen hier teil?“, heuchelte er Interesse und gab dem Barkeeper ein Zeichen, dem Fremden dasselbe einzuschenken wie ihm.

„Eigentlich ja, aber ich hatte einen schweren Tag. Mein Name ist übrigens Ronaldo Roy, RR-Immobilien.“

„Frank Hauser“, stellte sich Frank lächelnd vor und reichte Ronaldo die Hand. Noch befand er sich in der Phase des gegenseitigen Annäherns. Danach kam die Entwaffnungstechnik an die Reihe und dann schließlich die Kaputthauphase – eine psychologische Strategie, mit der er jeden erledigen konnte. Zumindest für einige Stunden.

„Sie sagten etwas von verlassen. Hatten Sie Probleme mit Ihrer Dame?“

Ronaldos Gesicht wurde blass. Frank dagegen strahlte innerlich, er hatte also den richtigen Knopf gefunden. Auf diesem konnte er vorerst ein wenig herumhämmern. Schwächen finden, um Idioten wie diesen hier fertigzumachen. Das war jetzt die Aufgabe.

„Ich bin schwul, und es handelt sich um meinen Liebhaber“, antwortete Ronaldo offen und griff nach dem Getränk, das ihm der Barkeeper inzwischen hingestellt hatte. Er schwenkte das Glas nur wenige Sekunden, bevor er es in einem Zug in sich hineinschüttete. Scharf sog er die Luft ein und verzog die Mundwinkel – offenbar war er harte Getränke nicht gewohnt.

Frank bedeutete dem Barkeeper, das Glas wieder zu füllen. „Also hat er Sie verlassen?“, fragte er lauernd.

„Ja. Ich verstehe es nicht.“

Er konnte sich eine ironische Bemerkung nicht verkneifen. „Na ja, das sagen sie alle. Die Verlassenen zumindest. Die meisten Gründe sind Geldprobleme, Kinder und schlechter Sex. Was war es bei Ihnen? Die Kinder werden es ja wohl nicht gewesen sein.“

Trotz seiner künstlich wirkenden Bräune überzog sich Ronaldos Gesicht mit einem bleichen Tuch. Anscheinend stimmte, was Frank bereits gehört hatte: Schwule waren weiche Sensibelchen.

Frank winkte ab. „Ist okay, Sie müssen mir nicht antworten. Auch wenn es im Bett nicht klappt, brauchen Sie jetzt keine Selbstzweifel zu haben.“

Noch ein Treffer. Ronaldo starrte ihn mit weit aufgerissenem Mund an. Franks Ratespiel führte ihn langsam, aber unaufhaltsam zum Punkt des Schmerzes.

Gerade wollte Frank zum letzten Schwinger ausholen, als ihm plötzlich aus dem Augenwinkel eine attraktive Dame auffiel, die die Bar betrat und direkt auf die Theke zusteuerte. Schon hatte sich sein Interesse, dem Schwulen eine Lektion zu erteilen, verflüchtigt, um nun bei der jungen Dame lüstern zu entflammen.

Doch er hatte die Rechnung ohne Ronaldo gemacht, der den Schwenk genau beobachtet hatte. „Ah, ich verstehe. Erst mich fertigmachen wollen und dann fickrig werden, was?“

Am liebsten hätte Frank mit einem klaren Ja geantwortet, doch das wäre eine schlechte Taktik gewesen, zumal sich die Frau nun auf der anderen Seite neben Ronaldo niederließ.

Die Farbe kehrte zurück in Ronaldos Gesicht, in dem sich plötzlich eine allzu offene Rachsüchtigkeit spiegelte, als er sich an die Dame wandte. „Verzeihen Sie, aber ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu gestehen.“

Frank hätte ihn gerne am Kragen gepackt und aus der Bar geworfen, aber dafür war es nun zu spät.

„So?“, fragte sie mit einem vernichtenden Blick. „Wenn Sie mich hier anbaggern wollen, dann verpissen Sie sich besser. Dafür habe ich im Moment überhaupt keinen Sinn. Wenn Sie mir aber eine Villa zum Verkauf anbieten möchten, dann können wir gerne weiterreden.“

Nun war Frank doch froh, dass Ronaldo zwischen ihnen saß. Als eine Art Puffer sozusagen.

„Ähm, nein, ich nicht. Ich stehe auf Männer. Aber mein Nachbar hier hat mir verraten, dass er Sie gerne in sein Schlafzimmer entführen würde.“ Ronaldo zeigte auf Frank.

„Ah, ja?“ Sie zog die Augenbrauen nach oben, und ihr ansonsten attraktives Gesicht erinnerte plötzlich an einen Seeadler, der dabei war, die Krallen auszufahren.

Frank fühlte sich wie ein Kaninchen, dessen Fell bald zum Trocknen an einem Kamin hängen würde. „Ich? Niemals!“, versuchte er sich schnell zu wehren.

Doch nun richteten beide ihren Blick anklagend und verurteilend auf ihn. Sie hatten sich in dieser Sekunde verbündet, und er war der Gejagte. Wie schnell sich doch eine sicher geglaubte Position ändern konnte. Es entstand eine kurze, wenn auch belastende Stille zwischen ihnen, als glücklicherweise ein weiterer Verirrter fragte, ob der Platz neben Frank noch frei sei. Dankbar nickte Frank ihm zu.

„Oh, hallo. Wir kennen uns ja bereits.“ Ronaldo hob sein Glas, das der Barkeeper inzwischen wieder gefüllt hatte, und prostete dem Neuankömmling zu.

„Ist das Ihr Lover?“, fragte Frank spöttisch.

Susanne zwinkerte Ronaldo vielsagend zu. „Ui, ich hätte nicht gedacht, dass ein so gut aussehender Mann wie Sie auf ältere Männer steht.“

Aber die Reaktion des Neuen in der Runde sprach Bände. Rasch schüttelte er den Kopf und streckte abwehrend beide Hände von sich. „Nein! In Gottes Namen nein!“

Gerade wollte er wieder kehrtmachen, als Frank ihn an der Schulter packte. „Na ja, mit Gott hat das nicht viel zu tun. Aber egal. Bleiben Sie doch und setzen sich zu uns. So wie ich das sehe, hatten wir drei hier alle einen verkorksten Tag. Ich hoffe, Sie auch.“

Frank stand auf und bot Hans seinen Stuhl an. Stehen würde ihm guttun. Er spürte bereits, wie der Alkohol seine Sinne zu benebeln begann, und einen Absturz wollte er nicht wieder erleben. „Einen Drink für den Herrn hier!“, rief er dem Barkeeper zu, der sich schmunzelnd zu Hans wandte und ihn fragend ansah.

Hans überlegte noch, was er tun sollte, während er sich die Schulter sauber rieb, entschied sich dann aber doch zu bleiben. „Nun, ich bin sehr müde, aber gegen ein Getränk spricht nichts. Haben Sie Tee?“, fragte er mit einem leisen Flehen in der Stimme, erntete aber nur erstaunte Blicke. Alkohol hatte eine verheerende Wirkung auf ihn, was sich in mehr als nur chaotischer Unkontrolliertheit bemerkbar machte.

„Tee?“ Frank konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken. „Sie brauchen etwas Härteres. Etwas, um mit Ihren neuen Freunden anzustoßen, mein Herr. Eine Runde Bourbon für uns vier!“

Als Frank sein Glas mit dem frisch eingeschenkten Abendgetränk zu einem kurzen Trinkspruch erhob, ahnte er bereits, dass er diesen Abend bereuen würde. Und vielleicht gerade deswegen wollte er diesen Augenblick genießen, als wäre es sein letzter. „Meine Freunde“, begann er, indem er nacheinander jedem zublinzelte. „Dies ist ein besonderer Moment, der Anfang von etwas Neuem, bei dem man das Ende noch nicht erahnen kann. Auf diesen Moment. Skol.“ Dann goss er sich das braune Gesöff abermals mit einem Ruck in die Kehle.

Aufmerksam beobachtete er seine neu gewonnenen Saufkumpane. Schließlich musste man ja wissen, mit wem man es zu tun hatte. Ronaldo verzog das Gesicht bei seinem zweiten Drink schon merklich weniger. Und Susanne schien Wasser im Glas zu haben, da ihr Gesichtsausdruck völlig entspannt blieb.

Hans hingegen reagierte heftig auf das geleerte Glas. Erst stockte ihm der Atem, bis sein Gesicht rot anlief, dann prustete er einen kleinen Rest, den er nicht hatte schlucken können, quer über die Bar. Die darauffolgende Hustattacke dauerte minutenlang. Am Ende stützte er sich auf Frank, der ihm verständnisvoll den Rücken tätschelte.

„Alles in Ordnung, Kumpel. Der Tee hat es in sich, nicht wahr?“ Frank genoss dieses Flair der alkoholisierten Hingabe an ein Gift, das einem die Sinne vernebelte und die seelischen Schmerzen nahm. „Ich bin Frank, und ich hasse das Leben“, begann er, sich und die anderen vorzustellen. „Die junge, hübsche Dame ist Susanne. Sie hasst das Leben zwar nicht, hat aber eine Scheißlaune. Und das hier ist Ronaldo, den sein alter Lover verlassen hat und den jetzt sexuelle Selbstzweifel quälen.“

Hans musterte sie nacheinander und fragte sich insgeheim, wie er diesem Trio Infernale nur entkommen könnte. Natürlich hätte er sich einfach nur umdrehen und verschwinden können, aber es war eine beinahe schicksalhafte Kette, die ihn daran hinderte. „Mein Name ist …“ Er stockte kurz und brachte seine noch sauberen Hände in den Hosentaschen in Sicherheit. „Hans. Hans Burchard. Hans Burchard Immobilien.“

„Hallo Hans“, grüßte Susanne ihn freundlich. „Was Frank wissen will, ist, ob du auch einen schlechten Tag hattest.“

„Na ja, es geht so.“ Sein Erlebnis neben Ronaldo während des Symposiums war sicherlich nicht das Aufbauendste gewesen, aber er vermied es, ihn anzusehen. „Schmutz“, antwortete er schließlich, als er wieder die Bilder seiner Immobilienbesichtigung von heute Morgen vor Augen hatte. „Aber ansonsten war es okay.“ Mehr wollte er dazu nicht sagen.

„Immerhin etwas. Also willkommen im Club der verlorenen Seelen.“ Frank winkte dem Barkeeper wieder zu, die Gläser zu füllen. „Ich habe einfach nur die Nase voll, immer wieder als Fußabtreter benutzt zu werden. Immobilienmakler genießen in Deutschland nicht gerade ein hohes Ansehen.“

Dies musste er nicht weiter erläutern. Ronaldo, Susanne und Hans nickten, da sie wussten, dass er recht hatte. Die meisten Menschen glaubten, Makler würden ihr Geld mit Nichtstun verdienen. Doch das stimmte nicht. Niemand ahnte, wie viel Arbeit hinter einer Immobilienvermarktung stecken konnte. Der Kunde sah nur, wie er nach einer Besichtigung zum Notar geführt wurde und dafür viel Geld an den Makler zu zahlen hatte. Dass er jedoch vielleicht schon der Zehnte oder Zwanzigste war, dem das Objekt gezeigt worden war, wusste er nicht. Die Arbeit des Maklers war vielfältig: Objektaufnahme, endlose Gespräche über die beste Vermarktungsstrategie, Beschaffung aller Unterlagen, Exposéerstellung, Veröffentlichung, Ansprache aller Partner wie Banken, Steuerberater und andere. Dann erst kamen die Besichtigungen. Immer wieder musste man alles von vorne erklären und gegen mit Vorurteilen behaftetes Halbwissen kämpfen. Und wenn dann endlich ein Kunde gefunden war, kamen die Preisverhandlungen und der Notarentwurf. Das alles sah der Kunde nicht und fühlte sich am Ende einfach nur betrogen. Die Lobby der Immobilienmakler war schwach.

„Frank, das geht uns allen so. Was wir verdienen, das nenne ich Schmerzensgeld“, brachte es Ronaldo auf den Punkt. „Ich habe mich schon daran gewöhnt. Jeder kann unbeschadet auf uns herumtrampeln, was besonders Politiker gerne tun, um sich vor ihren Wählern zu profilieren.“

„Es ist nicht nur das.“ Hans schüttelte den Kopf. Er hatte sich wieder im Griff, nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte und das Gift ein wenig nachzulassen begann. „Makler mag keiner, weil die Regierung uns nicht mag und das auch ständig kundtut. Dabei geht es den Politikern um mehr. Natürlich können sie sich in ein gutes Licht stellen, wenn sie uns schaden. Das liegt daran, dass niemand versteht, was da eigentlich wirklich passiert. Immobiliengeschäfte stellen mit die gewaltigste Finanzbewegung eines Staates dar. Wer hier alles kontrolliert, hat den Geldfluss in der Hand. Der Staat baut seinen Überwachungsapparat kontinuierlich aus. Deshalb kommt eine Schikane nach der anderen. Alle sollen gläsern werden, durchschaubar und unmündig. Das Geld wird früher oder später abgeschafft. Dann kann man jeden auf Schritt und Tritt überwachen. Darum geht es. Deswegen versucht man, uns in eine schwache Position zu bringen. Wer schwach ist, kann sich nicht wehren.“

Die Stimmung zwischen ihnen drohte zu kippen. Missmutig schauten sie sich an, da sie verstanden, was geschah. Vielleicht war es einfacher, in einer Matrix zu leben, in der alles nur Illusion war. Das Bild eines Glücks, das nicht existierte.

„Wisst ihr was?“ Frank erhob sein Glas und starrte es einige Sekunden lang an, bevor er fortfuhr. Es lag etwas Lauerndes in seinem Blick, das alle sofort wahrnahmen. „Lasst uns einen Plan schmieden. Ich habe da so eine Idee.“

Die Politik und ihr Wahnsinn

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