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Eva – Juni 2014

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Vor sieben Jahren war ich als junge Dozentin in diese Stadt gekommen, in die kleinste Universitätsstadt der Schweiz. Ich war soeben von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt. Nun freute ich mich auf einen freien Abend in meinem Haus an der Route de la Glâne. Ich saß vor meinem Mac und sah ihm beim Hochfahren zu. Thunderbird ging auf und im unteren Fenster erschien die neueste Nachricht, die ich unwillkürlich überflog.

„Nein! Lies diese Mail nicht!“

Ich schrie diesen Befehl und wusste, wie absurd er war. Zu spät. Die Worte waren schon in mein Bewusstsein eingedrungen. Meine Stimme hörte sich an, als stünde ich drei Schritte neben mir. Ich musste mich zwingen, mich nicht nach mir selber umzusehen. Ich starrte auf den Monitor und wiederholte so gefasst, wie es mir irgend möglich war: „Nein, lies diese Mail nicht …“

Gleichzeitig wollte ich den Kopf schütteln. Aber das gelang mir nicht. Mein Nacken war starr. Ich atmete kurz und flach. Das Zischen der Atemzüge schien aus dem Bildschirm vor mir zu kommen. Es war fast so, als könnte ich das Geräusch sehen, als bliese ich Luft durch die Zeilen des Textes. Indem ich die Augen schloss, wurde es völlig still. Ich war ganz allein und ganz klein.

So blieb ich sitzen: taub, stumm, blind und gelähmt. Ich wartete darauf, dass meine Gedanken zurückkämen und fürchtete mich vor den Gefühlen, die sich auf mich stürzen würden. Als ich mich endlich, mit geschlossenen Augen, erhob, kam es mir vor wie ein Versehen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. So blieb ich hinter dem Stuhl stehen, bis meine Hände schmerzten. Ich hielt sie zu Fäusten verkrampft und konnte sie nicht mehr öffnen. Ich holte tief Luft und schrie so laut und so lange ich konnte. Der Schrei war so schrecklich, dass kein Mensch ihn hätte ertragen können, kein Mensch außer demjenigen, der ihn ausstieß. Aber nun ließen sich meine Finger wieder strecken.

Die ganze Nacht lag ich in meinen Kleidern auf dem Bett. Ich wusste nicht, ob ich schlief oder bei Bewusstsein war. Manchmal schwirrten Gedanken durch mich hindurch, und es kam mir vor, als ob ich träumte, dass ich nachdachte und nicht steuern könnte, was ich denken wollte, dass ich ebenso wenig aufhören könnte, von herumschwirrenden Gedanken zu träumen. Gleichzeitig glaubte ich wach zu sein, aber es war doch nur eine Art Traum vom Wachsein. Mitten in der Nacht schreckte ich davon auf, dass ich weinte und schrie. Ich fühlte eine ätzende Wut, die sich in mir ausdehnte und siedend heiß durch die Poren meiner Haut drang. Tränen des Zorns und der Enttäuschung drangen durch meine Lider, bis das Kopfkissen davon getränkt war.

Ich erwachte bei Tagesanbruch, weil in meinem Kopf die Amseln ihre Lieder schmetterten. Es tat höllisch weh. Auch meine Muskeln schmerzten und meine Kleider waren klamm vom Schweiß. Ich tastete mich ins Bad, suchte die Codeintropfen gegen meine prämenstruelle Migräne aus dem Spiegelschrank und füllte ein Zahnputzglas mit Wasser. Ich schätzte fünfzig Tropfen ab und setzte mich auf die Kloschüssel, wo ich meine Medizin schluckte und gleichzeitig Wasser ließ. Nachdem ich das Sekretariat der Fakultät angerufen und auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen hatte, dass ich nicht an der Wochenbesprechung teilnehmen könne und erst am Nachmittag zur Arbeit käme, zog ich meine Kleider aus. Ich nahm eine Dusche, trocknete mich ab und streifte ein frisches Nachthemd über. Ich bezog mein Bett neu, und als ich mich hineinlegte, begann das Codein zu wirken. Leichtigkeit durchflutete mich, das Rauschen in meinen Ohren verklang und ich schlief ein.

Kurz nach zehn weckte mich das Telefon. Als ich abnahm, meldete sich Eva. Ich sagte bloß „Hallo“ und ließ sie reden. Das dauerte ein paar Minuten, dann verstummte sie. Wir schwiegen beide. Nach einer Weile fragte sie:

„Was hast du? Ist etwas mit dir?“

„Eine Mail … von Serenus … gestern Abend …“

Eva war meine Kusine. Sie war schon seit vielen Jahren meine beste Freundin und die einzige Person, die alles über mich und Serenus wusste.

„Du meine Güte!“, rief sie aus. Ich hörte sie seufzen und Zahlen murmeln.

„Sieben Jahre lang verschollen. Oder acht? Und jetzt eine Mail. Etwas Schlimmes?“

„Ich glaube nicht. Oder doch? Keine Ahnung. Eigentlich schreibt er nichts. Es hört sich an, als sei er gestern in eine Klinik aufgenommen worden. Egal …“

„Aber warum schreibt er dir?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Du nicht?“

„Scheiße, nein! Ich habe die Mail zwar nur überflogen, aber das hat mich schon fertiggemacht. Ich habe Schlimmes durchgestanden letzte Nacht.“

Ich stieg aus dem Bett und huschte die Treppe hinunter. Als ich mich an den Schreibtisch setzte, fragte Eva:

„Bist du noch dran?“

Der Mac war noch eingeschaltet. Ich drückte eine beliebige Taste und der Bildschirm leuchtete auf.

„Soll ich sie dir vorlesen?“

„Ist das eine gute Idee?“, fragte Eva zurück.

„Wem sonst, wenn nicht dir.“

Sie hörte mir beim Atmen zu. Schließlich fasste ich mich und sagte:

„Ich lese dir jetzt diese Mail vor und du passt gut auf.“

Montag, 2. Juni 2014, 18:53

Liebe Raya,

ich kam heute Morgen um zehn Uhr hier an. Ein Pfleger nahm mich in Empfang, stellte mir ein paar Fragen und erklärte mir ein paar Dinge. Er brachte mich zum Bettenhaus. Später kam eine Oberärztin, zwei Meter lang und ganz dünn. Sie war gut vorbereitet, stellte mir viele Detailfragen und gab mir viele Detailinformationen.

Am Nachmittag untersuchten mich der leitende Arzt und seine Assistentin. Das taten sie innen und außen sehr gründlich. Später gab es noch ein ekg, Blut- und Urinabnahme und dergleichen mehr. Gleich zu Beginn und dann alle zwei Stunden maßen sie den Blutdruck und warteten darauf, dass er anstieg. Ich begegnete nicht nur den Menschen, die hier arbeiten, sondern auch anderen Patienten und natürlich den anderen Rauchern!

Es war übrigens ein warmer trockener Tag, dessen wunderbar goldenes Finale gerade begonnen hat.

Grüße von Serenus

Ich schwieg, während Eva nachdachte, und wusste, dass ich mir gleich eines ihrer Selbstgespräche anhören würde.

„Naja. Das ist eine Klinik, kein Zweifel. Leitender Arzt, Oberarzt und Oberärztin, so etwas gibt es nur in Spitälern – Bettenhäuser übrigens auch. Das Ganze sieht nach einer typischen Klinikaufnahme aus mit allen Routineuntersuchungen. Ich frage mich, welches Fachgebiet es wohl ist. Vielleicht irgendeine Chirurgie. Etwas mit Vollnarkose vielleicht? Wirbelsäule oder Hüftgelenke zum Beispiel. Es könnte aber auch innere Medizin sein: Organtransplantation, Onkologie, Herzklinik. Es ist gewiss kein Notfall. Er spaziert herum und schreibt Mails, er raucht und unterhält sich mit anderen Patienten.“

Eva hielt inne und ich stellte mir ihren skeptischen Gesichtsausdruck vor. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie den Facharzt für Gynäkologie gemacht. Als sie von Fleisch und Blut, von Krankheiten und Schwangerschaften bald genug hatte, suchte sie sich eine Halbtagsstelle bei einer Versicherung, wo sie nachmittags Akten prüfte und Gutachten schrieb. Sie war also vom Fach und wusste, wovon sie sprach. Sie fuhr fort:

„Die Sache mit dem Blutdruck verstehe ich nicht. Warum soll er steigen? Weil ein blutdrucksenkendes Medikament abgesetzt wurde? Manchmal stellt man jemanden auf neue Medikamente um, z.B. bei chronischen Schmerzen oder bei Epilepsie. Da kann man Vermutungen anstellen ohne Ende.“

„Genau das ist es“, unterbrach ich sie.

„Was genau ist was?“

„Das, was du mir alles erzählt hast, von Transplantation bis Epilepsie.“

„Dass ich alle Möglichkeiten erwogen habe?“ Unvermittelt begann Eva zu lachen: „Schon gut, Frau Professor, ich verstehe: Der Text ist das, was nicht im Text steht. Seine Bedeutung ergibt sich aus dem, was fehlt.“ Sie zitierte einen meiner Standardsprüche. Ich antwortete nicht.

„Mal sehen, ob du von selber drauf kommst“, dachte ich.

„Na ja. Die Mail sagt nichts darüber, weshalb und wozu dein Mann in der Klinik ist.“

Ich schwieg beharrlich weiter. Eva lachte wieder:

„Ich weiß etwas, was du nicht weißt!“ Sie imitierte eine Kinderstimme. Es passte ihr nicht, dass ich sie zappeln ließ.

Nach einer Weile stellte sie ernst und ruhig fest:

„Die Mail soll dafür sorgen, dass du dir Gedanken machst.“

„Schön. Aber es fehlt noch etwas Anderes – das Wichtigste“, insistierte ich.

Eva wurde ungeduldig: „Und wenn ich es nicht herausfinde?“

„Würdest du mir in einer ähnlichen Situation eine solche Mail schreiben?“

Eva schnaubte, was bedeutete: „Für so bescheuert hältst du mich hoffentlich nicht.“ Aber sie sprach es nicht aus.

Ich blieb hartnäckig.

„Wenn du es doch herausfindest?“

„Ich würde mit dir sprechen, dich etwas fragen, dich einbeziehen und so weiter.“

„Was fehlt folglich in der Mail?“

„Ein Gegenüber … du kommst darin nicht vor, Raya“, antwortete Eva und der Anflug von Traurigkeit in ihrer Stimme berührte mich.

Ich rief aus: „Diese Mail ist einfach nur eine riesengroße Scheiße. Dieser verdammte Kerl schiebt mir eine solchen Berg Scheiße hinüber.“ Meine Stimme überschlug sich.

Eva schwieg betroffen. Nach einer Weile fragte sie leise und voll Mitgefühl:

„Was wirst du damit tun? Mit der Mail, meine ich, und mit der Scheiße?“

„Das frage ich mich auch.“

„Weißt du, was ich befürchte?“

„Ich glaube, ja. Wenn es dasselbe ist, was ich befürchte, dann weiß ich es.“

Ich war den Tränen nahe und Eva bekam es mit.

„Du meine Güte!“, rief sie aus. „Wenn er dir heute wieder so eine Mail schreibt und morgen auch. Du musst einen neuen Mail-Account eröffnen.“

Ich lachte bitter.

„Das nützt doch nichts. Er muss mich nur googeln. Es gibt genau eine Raya Mann im ganzen Internet. Er kann mir seine Mails an die Uni schicken oder Briefe schreiben. Ganz einfach.“

Ich begann Eva zu erklären, was mir am gestrigen Abend und in der Nacht widerfahren war. Diese Dinge, auf die man niemals vorbereitet ist. Der Einbrecher im eigenen Haus, das Erdbeben, der Tod eines Kindes, der lüsterne Griff eines Fremden. Dinge, die man nur einmal erlebt oder gar nie oder einmal in zehn Jahren. Dinge, von denen man einen Begriff hat und die man sofort als solche erkennt, obwohl das Denken jäh ausgeschaltet ist. Du wirst augenblicklich von den elementaren Affekten in Stücke zerrissen: Angst, Wut, Schmerz, Erstarrung, Flucht, Ekel, Kampf. Wie hätte Serenus sein Eindringen ankündigen sollen? War es ein Verbrechen, sich nach acht Jahren bemerkbar zu machen? Hätte er wissen und respektieren müssen, dass ich meine Erinnerungen an ihn in der unterirdischen Gruft zerschmelzen und verglühen lassen wollte? Eva ließ mich ohne Unterbrechung reden.

„Ruf mich sofort an, wenn noch eine Mail kommt“, befahl sie zum Abschied und fügte kichernd hinzu:

„Na ja. Bis heute Abend dann.“

Ich kannte sie gut genug und wusste, dass sie es ernst meinte.

Doch an diesem Abend ergab es sich, dass ein paar Kollegen von der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft zusammen essen gingen und ich mich ihnen anschloss. Als ich nach Hause kam, hatte ich keine Lust auf eine unliebsame Überraschung und ging zu Bett, ohne den Mac einzuschalten. In dieser Nacht schlief ich gut und erwachte früh. Mittwochs ging ich nicht zur Uni, sondern arbeitete zuhause. Im Bademantel machte ich mir Kaffee und setzte mich damit an den Schreibtisch. Ich wusste genau, was ich tun würde, falls meine Befürchtung zuträfe. Tatsächlich war gestern Abend eine zweite Mail von Serenus eingetroffen. Ungelesen leitete ich sie an Eva weiter, was mir ein gutes Gefühl gab.

Ich nahm mir den Aufsatz vor, der mich seit einigen Wochen beschäftigte. Er handelte vom Schweizerdeutschen im nationalen Fernsehen. In vielen Sendungen sprachen die Moderatoren ihren eigenen Dialekt mit den jeweiligen regionalen Eigenheiten. Gleichzeitig verwendeten sie hochdeutsche Ausdrücke, die sie in ihren Dialekt umformten. Von diesem unfreiwilligen „Wortsalat“ handelte mein Aufsatz, der im Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache erscheinen sollte. Daran arbeitete ich ein paar Stunden lang, konnte mich gut konzentrieren und kam schnell voran.

Um zehn Uhr holte ich mir einen frischen Kaffee aus der Küche und wählte Evas Nummer. Sie war nach einer halben Sekunde dran.

„Ich wollte dich in diesem Moment anrufen, ich hielt das Telefon schon in der Hand. Ich hab’s gelesen, und du?“, rief sie fröhlich.

„Nein. Sollte ich?“

„Ich kann es dir vorlesen. Heute bin ich dran.“

„Steht denn in der Mail überhaupt etwas von Bedeutung?“

„Nein“, antwortete Eva etwas zu schnell, als ob sie auf diese Frage gewartet hätte. Ich stöhnte.

„Ach Raya! Es ist doch nur ein Text!“

Sie redete um den heißen Brei herum. Sie spannte mich auf die Folter.

„Ich gebe auf. Was also steht nicht in der Mail?“

„Die Klinik ist eine Psychiatrie“, platzte sie heraus.

„Die Klinik ist eine Psychiatrie“, wiederholte ich lahm. „Bist du sicher?“

„Ja. Ich nehme an, eine Suchtklinik. Serenus macht dort einen Entzug.“

Ich schwieg, weil mir dazu nichts einfiel.

„Willst du es hören oder nicht?“

„Okay. Schieß los!“

Eva holte Luft und las – Wort für Wort – die Mail von gestern Abend:

Dienstag, 3. Juni 2014, 19:27

Liebe Raya,

gegenwärtig werde ich auf der Akutstation behandelt. Dies beinhaltet Untersuchungen, Medikamente und Überwachung. Die Behandlung hier dauert – je nach Komplikationen – 10 bis 20 Tage. In dieser Zeit sind an sieben Tagen pro Woche von 08:00 bis 22:00 Uhr Besuche möglich. Später, auf der Langzeitstation, sind Besuche nur am Wochenende möglich, weil ja die Wochentage mit Therapien vollgestopft sind.

Heute nach dem Frühstück gab es psychotherapeutische Visite, was bedeutet, dass außer dem Ärzteteam auch zwei Psychologinnen teilnahmen. Mit der jüngeren Psychologin hatte ich anschließend ein langes Einzelgespräch. Als ich nach dem Gespräch zur Untersuchung ging, war mein Blutdruck 190 zu 120. Die Pflegerin schickte mich wieder weg, ich solle eine halbe Stunde später wiederkommen. Bei der zweiten Messung hatte ich dann tatsächlich nur noch 140 zu 90.

Einen schönen Abend wünscht Serenus.

Ich ließ mir das Gehörte durch den Kopf gehen, während Eva geduldig wartete. Es musste die Sache mit dem hohen Blutdruck sein, die sie auf die Idee mit dem Entzug gebracht hatte. Mir fiel weiter nichts ein, worauf ich neugierig hätte sein können. Ob Eva in den beiden Mails noch andere Hinweise gefunden hatte? Sie schien sich dasselbe zu fragen, denn sie sagte:

„Ich weiß nicht, welche Sucht es sein könnte – Alkohol oder Pillen oder Drogen. Außerdem kommt jedes halbwegs zivilisierte Land in Frage. Solche Kliniken gibt es fast überall auf der Welt.“

„Nach meinem Gefühl ist diese nicht sehr weit entfernt.“

„Ist dein Gefühl nicht vielleicht ein wenig weit hergeholt?“

„Besuche von früh bis spät, aber nur während der nächsten Tage.“

„Doch selbst wenn. Du wüsstest ja nicht einmal, wo genau.“

„Will er, dass ich es ihm aus der Nase ziehe?“

„Naja. Du kennst ihn besser als ich.“

In diesem Moment ertönte der Dreiklang des Macs. Sogar Eva am anderen Ende der Leitung fuhr zusammen. Jedenfalls kam es mir so vor.

„Noch eine? Soll ich nachsehen?“, flüsterte ich.

„Fürchtest du dich?“

„Schon. Wenn ich dich nicht hätte, würde ich durchdrehen.“

„Lass es mich zuerst lesen.“

„Dich interessiert es ohnehin am meisten.“

„Okay. Lass dir Zeit.“

„Ich melde mich dann.“

Nur diese eine Zeile schrieb ich, bevor ich Eva die Nachricht weiterleitete.

„Es ist, wie es ist. Es lohnt sich nicht. Siehe selbst.“

Die Mail lautete:

Mittwoch, 4. Juni 2014, 10:04

Liebe Raya,

meine Mails treiben an der Oberfläche. Ich schreibe sie lediglich, um anzudeuten, auf welche Mission ich mich begeben habe. Auch die Akutstation treibt an der Oberfläche. Es geht nur darum, wie viel Blutdrucksenker, Schlafmittel und Tranquilizer wir brauchen oder ob wir ohne Medikamente durchkommen. Man weiß ja nie, ob man Schüttelfrost, Halluzinationen oder Krampfanfälle bekommt. Die Krankheit ist allgegenwärtig. Die Patienten reden von nichts anderem und auch das Personal redet von nichts anderem. Wir sind alle gefährlich dünnhäutig. Ich selber bin unausgeglichen und jede Lappalie bringt mich aus dem Gleichgewicht. In der Klinik fühle ich mich jedoch geschützt und aufgehoben. Ich wollte keine Sekunde lang woanders sein. In diesem Sinne,

Serenus

Am gleichen Abend nahm ich den Siebenuhrzug nach Zürich. Es war der Intercity vom Genfer Flughafen nach St. Gallen. Ich wusste aus Erfahrung, dass es um diese Zeit kaum Fahrgäste gab. Er machte nur den einen Stopp in Bern und umsteigen musste ich auch nicht. In der Businesszone hatte ich meine Ruhe, so dass ich die anderthalb Stunden nutzte, um mich auf die Konferenz am nächsten Tag vorzubereiten. Vom Zürcher Hauptbahnhof aus fuhr ich mit der Vierer-Tram bis „Kreuzstraße“. Zum Hotel Seegarten brauchte ich zu Fuß nur noch drei Minuten. Ich hatte „mein“ Zimmer im Dachgeschoss reserviert, das große mit dem ausladenden roten Orientteppich. Ich mochte die Küche des Restaurants Latino im Parterre. An diesem Juniabend saß ich draußen an der kaum befahrenen Straßenkreuzung und entspannte mich. Ich bestellte das geschmorte Stubenküken, das in der Schweiz „Mistkratzerlein“ genannt wird.

Ausnahmsweise war ich nicht die einzige Frau ohne Begleitung, denn nebenan beanspruchte eine ungefähr Gleichaltrige ebenfalls einen Tisch für sich alleine. Immer wieder beobachtete ich die schmale Rothaarige mit dem geraden Rücken und den knochigen Schultern, die aussah, als sei sie aus einem von Dante Gabriel Rossetti gemalten Nymphenteich gestiegen. Sie hing ihren Gedanken nach und würdigte das nächtliche Zürich keines Blickes. Vielleicht hätte ich sie angesprochen, wenn sie zu mir herübergeschaut hätte. Als ich mit dem Essen fertig war, bezahlte ich und ging nach oben. Kurz vor Mitternacht lag ich im Bett und löschte das Licht.

Von Unbehagen erfüllt fuhr ich im Taxi zur psychiatrischen Universitätsklinik, denn die politischen Hintergründe dieser Konferenz verwirrten mich. Obwohl ich in der Schweiz studiert hatte und schon so lange hier arbeitete, verstand ich die Eidgenossen nicht. In diesem Staat gab es keinen Präsidenten und keinen Premierminister. Im Kabinett saßen die sieben Zwerge und kümmerten sich um all die Wichtelmänner, die zu Tausenden die Chefetagen der Bundesämter und Staatsekretariate bevölkerten.

Nur einer besaß Macht, viel Macht: der Innenminister. Er trug die Verantwortung für die Renten, für die Krankenversicherungen, für die medizinische Versorgung mitsamt ihren Berufsgruppen, für Familien- und Geschlechterfragen. Auch für Behinderte und Tiere war er zuständig sowie für die Zulassung von Medikamenten und für die Wettervorhersage. Die kleineren Zacken seiner Krone bildeten das Bundesarchiv, die Nationalbibliothek, das Landesmuseum und die nationale Statistik. Nebenbei regierte er auch als Kulturminister.

Ein großes Geschäft plagte diesen Zwergenkönig, nämlich die Agenda Gesundheit zwanzigzwanzig. In Wirklichkeit plagte er den Staatssekretär für Gesundheitspolitik damit. Zur Agenda gehörte unter anderem die Errichtung des Kompetenzzentrums für medizinische Geisteswissenschaften – Medical Humanities auf Neudeutsch. Das Zentrum sollte Forschung darüber betreiben, wer die Patienten in den Kliniken und Praxen waren und was in ihnen vorging. Viel Geld floss in die Programme und in einem davon – Sprache und Psychiatrie – vertrat ich neuerdings unseren Lehrstuhl. Die Projektleitung oblag einer Direktorin im Staatssekretariat für Gesundheitspolitik.

Dieser Tag würde mir auf alle Zeit in Erinnerung bleiben. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich eine falsche Uhrzeit in meinen Kalender eingetragen. Ich sei eine Stunde zu früh, sagte man mir am Empfang der psychiatrischen Universitätsklinik. Außer der Gastgeberin sei noch niemand da. Da ich auf die Direktorin neugierig war, begab ich mich zum Konferenzraum. Ich trat ein und war so verblüfft, dass mir die Aktentasche entglitt und zu Boden fiel. Die Frau erblickte mich und kam mir entgegen. Es war die Rothaarige vom Vorabend. Sie sah mich erstaunt an:

„Ich heiße Nobila Maniok. Ich habe Sie doch gestern im Latino gesehen. Haben Sie auch im Hotel Seegarten übernachtet? Wenn ich das gewusst hätte …“

„Bist du für Sprache und Psychiatrie verantwortlich?“ Als ich bemerkte, dass ich sie geduzt hatte, war es mir peinlich und ich wollte mich entschuldigen. Aber Nobila lächelte. „Und wer bist du? Ich bin hier fertig, es ist alles eingerichtet. Gehen wir in die Cafeteria?“

Bei Milchkaffee und Croissants klärte ich sie über meine Stelle an der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft auf. Dann fragte ich sie nach ihrem Namen und ihrer Herkunft.

„Das ist alles ein wenig kompliziert. Die Familie meines Vaters stammt ursprünglich aus Russland und lebt auf der Krim. Wenn ich Russin wäre, würde ich Nobila Maniokova heißen. Mein Vater kam über Havanna und Québec nach Europa. Wann und warum sein Name zu Maniok verkürzt wurde, wollte er mir nie verraten. Es war sein Wunsch, dass ich Nobila heiße. Das ist Rumänisch und bedeutet „edel“ oder „adelig“. Ich kam in Aberdeen zur Welt und habe einen britischen Pass, denn meine Mutter ist Schottin. Von ihr habe ich die roten Haare. Sie steckte mich in ein privates Internat – Gordonstoun bei Elgin. Dort studierte ich Performing Arts, also Tanz und Theater, sowie moderne Sprachen mit Deutsch als Hauptfach.“

Ich wollte wissen, wie sie denn in die Schweiz gekommen sei.

„Ich hatte einen Bachelor of Education und arbeitete als Dozentin für Deutsch, bis mir jemand von der Nottingham Trent University erzählte, dass man in der Schweiz einen Master in Organisationskommunikation machen könne.“

Sie sah auf ihre Armbanduhr und bedeutete mir mit der Hand, dass sie die Unterhaltung beenden und zum Konferenzraum zurückgehen wollte.

Den restlichen Tag über hörte ich mir Vorträge und Diskussionen über die gehaltenen Vorträge an – vier vor und vier nach der Mittagspause.

Eine Literaturprofessorin hielt die erste Präsentation mit dem Titel „Versprachlichung von seelischem Leid“. Sie befasste sich mit der Metaphorik in Tagebüchern, die Frauen während ihres Klinikaufenthalts geschrieben hatten. Es war nicht beabsichtigt gewesen, eine geschlechtsspezifische Untersuchung durchzuführen. Das Team hatte bloß keine Werke von Männern auftreiben können. An dieser Stelle schweiften meine Gedanken zum ersten Mal ab, weil ich mir Serenus dabei vorzustellen versuchte, wie er in seiner Suchtklinik Tagebuch führte. Doch worin bestand sein „seelisches Leid“? Plötzlich fühlte ich mich beobachtet und als ich den Kopf wandte, kreuzten sich meine Blicke mit denjenigen von Nobila.

Es folgte die Fallgeschichte einer Geschlechtsumwandlung von Frau zu Mann. Ein Professor für Sozialarbeit hatte hunderte von Beratungsgesprächen gefilmt und präsentierte uns eine Auswahl von Videoausschnitten. Zu Beginn war die Person siebzehn, am Ende des ganzen Prozesses dreißig Jahre alt. Es wurde gezeigt, dass sich gewisse sprachliche Merkmale über den ganzen Zeitraum wiederholten. Bei der jungen Frau standen sie jedoch nicht im Einklang mit ihrem Geschlecht. Nach der Umwandlung hingegen wirkten sie authentischer. Zur Hauptsache sprach die Person über ihre Behandlung so, als würde sie aus der Krankengeschichte von jemand anderem zitieren. Während sie sich in der Beamer-Projektion über die Prozeduren in den verschiedenen Kliniken ausließ, bekam ich Gänsehaut. Würde Serenus die gleichen Mails schreiben, wenn er eine Frau wäre? Waren seine Mails authentisch, aber eben auf spezifisch männliche Weise? Als ich zu Nobila hinübersah, fiel mir auf, dass sie sich eine Stola umgelegt hatte.

Als nächstes referierten zwei Professorinnen vom Institut für angewandte Linguistik über sprachliche, soziale und kulturelle Probleme in der Psychiatrie. Die Fallbeispiele handelten von Patienten mit albanischer und türkischer Muttersprache. Offensichtlich waren alle Beteiligten mit der Verständigung überfordert, die Klinikangestellten nicht weniger als die Migranten, am meisten jedoch die Dolmetscher. Für Verwirrung sorgte allerdings nicht die Sprachbarriere, diese ließ sich überwinden, sondern die Einteilung der Fachkräfte in Aufgabenbereiche, Berufsgruppen und Hierarchiestufen. Im Dschungel der Anstalt konnten sich nur die Angestellten orientieren, für Patienten und Dolmetscher blieb er unzugänglich. Als die beiden Professorinnen die Diskussion eröffneten, meldete sich Nobila mit einer Frage:

„Wurden innerhalb der Organisationskommunikation nur Fremdsprachige untersucht? Was ist mit den landessprachigen Patienten? Müsste bei ihnen die Überforderung nicht noch schwerwiegendere Auswirkungen haben?“

Ich schien die einzige im Raum zu sein, die begriff, was Nobila unausgesprochen ließ.

„Weil einheimische Patienten glauben, sie benötigten keinen Dolmetscher?“, ergänzte ich mit erhobener Hand und dachte an Serenus und an das Kauderwelsch in seinen Mails.

Den Vortrag vor dem Lunch hielt Nobila selber. In ihrer Dissertation hatte sie sich mit delinquenten Insassen beziehungsweise mit der Sprache ihrer Betreuer befasst, in der sich das Beziehungsgefälle deutlich abbildete. Den Klienten gegenüber verbalisierten diese Angestellten laufend, sie selber seien ehrenhafter, glaubwürdiger, fleißiger, wohlhabender, gebildeter, wissender und so weiter. Gleichzeitig bedienten sie sich einer Ausdrucksweise, die für die Angesprochenen schwer verständlich war. Diese Sprachasymmetrien vervielfachten sich sogar noch bei Patienten, die die Landessprache kaum oder überhaupt nicht beherrschten. Ich verstand vor allem eines: Nobila fühlte sich den Insassen verbunden, den Betreuern jedoch nicht.

Als ich den Konferenzraum verlassen wollte, gab mir Nobila ein Zeichen, ich solle ihr einen Stuhl freihalten. Beim Mittagessen saßen wir dann nebeneinander. Als Programmleiterin und Direktorin im Staatsekretariat musste sie sich ihren Gästen widmen. Aber zwischen den Gesprächen einigten wir uns darauf, eine weitere Übernachtung im Hotel Seegarten zu buchen und zusammen essen zu gehen. Ich hatte anderntags keine Verpflichtungen und eine Verabredung mit Nobila Maniok war mehr als ein gutes Alibi. Umgehend tätigte ich den Anruf für die Zimmerreservation. Ich freute mich auf den Abend.

Den Nachmittag eröffnete ein sterbenslangweiliger Vortrag mit dem Thema „Terminologie und Macht“. Mir fiel sogleich Fidel Castros Bonmot ein: „Ein Revolutionär geht nie in Pension“. Denn der Referent, Privatdozent am Institut für Wissenschaftskommunikation, sah so aus, wie ich mir einen unverbesserlichen Achtundsechziger der ersten Stunde vorstellte. Er gab einen Abriss von Sigmund Freud bis heute. Das Ganze lief daraus hinaus, dass die Öffentlichkeit rund zehn Jahre brauche, um eine neue Fachsprache zu verstehen. Deshalb wurde alle zehn Jahre eine neue Fachsprache erschaffen, weil die Psychiatrie gar nicht wollte, dass die Öffentlichkeit mitredete. Die Monotonie und meine Verdauung machten mich so schläfrig, dass ich das Notebook aufklappte und meinen Mail-Account abrief. Die aktuellste Nachricht sprang mir förmlich in die Augen.

Donnerstag, 5. Juni 2014, 11:39

Liebe Raya,

so oder so, ich sitze auf einer Insel und auf einmal haben die tausend leeren Flaschen einen Sinn. Ich stecke Schnipsel mit Gekritzel hinein, schraube den Deckel zu und werfe sie ins Meer. Ich spiele Flaschenpost. Ich bin Absender und Adressat zugleich. So kommt die Post wenigstens an. Es ist meine Absicht, einen Briefwechsel mit mir selber zu führen. Aber ich lese meine Texte, wie wenn man eine Illustrierte durchblättert. Da schreibt man ja auch nicht jedes Mal gleich einen Leserbrief. Und die nächste Nummer erscheint ohnehin. Selbst wenn man sein Abo kündigt. Jedenfalls wird auch morgen die aktuelle Ausgabe weggeschwemmt.

Serenus

Ich schaltete das Notebook wieder aus, erhob mich und verließ den Raum. Draußen auf der Freitreppe ertappte ich eine Teilnehmerin beim Rauchen. Ich stellte mich neben sie und bat sie um eine Zigarette und um Feuer. Dass ich rauchte, kam höchstens zweimal im Jahr vor. Was war los mit mir? Ich fragte mich, ob es mich so sehr traf, dass Serenus alkoholabhängig geworden war und sich in einer Suchtklinik aufhielt. Aber das war es nicht. Vielmehr erschütterte es mich, ausgerechnet hier in der psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich die Sprache von Patienten zu analysieren, die man auf eine Insel verbannt hatte. Denn jede psychiatrische Klinik, egal ob man sie von außen oder von innen betrachtete, stellte sich als Insel dar. Serenus diente die Insel offenbar als Postamt für „Schnipsel und Gekritzel“. Wenn diese Aufgabe ihn mit Sinn erfüllte, dann machte ich mich besser weiterhin auf tägliches Schwemmgut gefasst.

In diesem Augenblick erkannte ich, dass nichts, was auf dieser Konferenz besprochen wurde, mit mir und Serenus zu tun hatte. Ich war nicht hierhergekommen, um den Schlüssel zu ihm und seinen Nachrichten zu suchen. Jetzt war ich plötzlich sicher, dass es in den Mails gar nichts zu entschlüsseln gab und dass Serenus sie nicht schrieb, damit jemand sie dechiffrierte. Erleichtert kehrte ich zur Veranstaltung zurück.

Die eine wahre Liebe

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