Читать книгу Die eine wahre Liebe - Raya Mann - Страница 4
Damals Mitte dreißig – 2006 bis 2013
ОглавлениеIch wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Nach einer schlaflosen Nacht hatte ich Serenus zum Flughafen gebracht und in der Eile vergessen, mir etwas Warmes überzuziehen. Es war einer dieser Oktobertage, die für Deutschland so typisch sind. Zwar herrschte strahlender Sonnenschein, aber dennoch würde es den ganzen Tag kalt bleiben.
Ich durchquerte die Abflughalle und hielt auf die verglaste Flucht mit den Ausgängen zu. Die Schiebetüren glitten zur Seite und ich trat ins Freie. Den Lärm um mich herum vernahm ich nicht, weder die Triebwerke der startenden Flugzeuge, noch die Räder der Trollies, die über den genoppten Hartgummiboden rumpelten, auch nicht die zuschlagenden Türen der Taxis. Menschen warteten oder strömten mir entgegen, doch ihre Stimmen hörte ich nicht. Ebenso wenig sah ich etwas. An der Gruppe bunt gekleideter Pakistani mit ihren zahlreichen Kindern und Koffern blickte ich vorbei. Die monströsen Busse, die mich in ihren Schatten tauchten, nahm ich nicht wahr. Obwohl mich die Sonne blendete, bemerkte ich nicht, dass der Regen inzwischen aufgehört und der steife Wind die Wolken auseinandergerissen hatte. Ich war viel zu leicht angezogen, doch ich ignorierte, dass ich vor Kälte zitterte. Ich fühlte sie nicht.
An diesem Montagmorgen Anfang Oktober empfand ich weder Schmerz noch Leere. Ich ahnte nichts von der Taubheit der Seele, die meine Liebe und alles Begehren lähmte. Die Frage, was jetzt und einst aus mir werden sollte, kam mir nicht in den Sinn. Ein eisiger Windstoß fuhr mir ins Gesicht. Mit beiden Armen umklammerte ich meine Tasche und schützte damit meine Brüste. Die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt rannte ich über den Parkplatz zurück zu meinem Wagen. Die Sonne fiel direkt auf die Frontscheibe, so dass mich drinnen ein wenig Wärme erwartete. Hastig öffnete ich die Tür, ließ mich in den Sitz gleiten und zog sie wieder zu. Ich legte die Arme auf das Lenkrad, bettete meine Stirn darauf, schloss die Augen und wartete. Endlich ließ das Pochen in meinen Schläfen nach. Dieser schreckliche Flughafen erregte meine Abscheu. Noch heftiger graute mir jedoch vor unserer Wohnung, zu der ich alleine zurückkehren würde. Es war nicht zu vermeiden und ich konnte es nicht hinauszögern. Ich ließ das Seitenfenster hinunter, atmete tief durch und startete den Motor.
Als ich vor unserem Haus aus dem Wagen stieg, stieß ich beinahe mit der Postbotin zusammen. Fröhlich begrüßte sie mich, legte aber sogleich die Stirn in Falten.
„Herr Mann lässt seine Post umleiten. Letzte Woche stellte er den Nachsendeantrag“, sagte sie und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Ohne meinem Blick auszuweichen, fügte sie hinzu: „Und einen Antrag auf Umzugsmitteilung an die Absender.“ Sie hatte keine Frage gestellt und ich tat so, als bemerkte ich ihre Neugier nicht.
„Herr Mann bleibt wohl für längere Zeit in Madrid“, mutmaßte die Postbotin.
Ich schenkte ihr ein Lächeln und sagte: „Ich auch. Mir bleiben noch drei Monate, um hier alles zu regeln. Ende des Jahres bin ich weg.“
„Ach so.“ Ihr Interesse schien verflogen.
„Haben Sie etwas für mich dabei?“, fragte ich.
Die Postbotin kramte in ihrem Packen und überreichte mir die Drucksachen und einen an mich adressierten Brief. Er war groß und dick. Ich bedankte mich, schloss die Haustür auf und stieg die Treppe hinauf.
Ich betrat die Wohnung. Ohne mich umzusehen, ging ich durch die Diele und betrat die Küche. Ich sah auf die Uhr. Ready for take off, flüsterte ich. Es war – jedenfalls nach Flugplan – die exakte Abflugzeit. An der Espressomaschine leuchtete das rote Lämpchen. Wir hatten die Wohnung heute früh verlassen, ohne sie abzustellen. Ich drehte den Schalter auf Ristretto und füllte eine Tasse mit mehreren Portionen davon. Letzte Nacht hatte ich nicht geschlafen und jetzt konnte ich kaum noch die Augen offenhalten. Mit einem Filettiermesser schlitzte ich den Umschlag auf und trug ihn zusammen mit dem Kaffee ins Gästezimmer. Als ich mich auszog, beschloss ich, mich für die verbleibenden drei Monate hier einzurichten. Ich würde mich nie wieder in das Doppelbett im gemeinsamen Schlafzimmer legen. Nachdem ich das Gästebett aufgeschlagen hatte, zog ich die Papiere aus dem Umschlag. Die Beilagen legte ich auf den Nachttisch, das Begleitschreiben behielt ich in der Hand. Ich schlüpfte unter die Decke und zog sie bis zum Kinn hoch. Der Brief war kurz.
Sehr geehrte Frau Mann,
das Kuratorium hat alle Kandidaturen geprüft und seine Wahl getroffen. Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass der Ruf für die neu geschaffene Assistenzprofessur an Ihre Person ergeht. Dies wurde Ihnen vom Dekan unserer Fakultät bereits per Telefonat vom 19.09.2006 mitgeteilt. Wie vereinbart werden Sie die Stelle zum 01.01.2007 antreten. Ihre Lehrtätigkeit wird zusammen mit dem Sommersemester am 19.02.2007 beginnen. In der beiliegenden Dokumentation finden Sie alle Informationen über die Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft, insbesondere über die aktuellen Themen und die laufenden Projekte in Lehre und Forschung. Gerne nehmen wir Ihre Anregungen und Fragen zu allen Belangen entgegen.
Liebe Raya, dass Du den Ruf bekommen hast, bereitet uns allen eine große Freude. Wir werden uns mit Dir zusammen noch drei Monate lang in Geduld üben – im Wissen darum, dass Du die Zeit nutzen und Dich gut vorbereiten wirst. Indessen lass Dir gesagt sein, dass Du diese große Sache mit Gelassenheit und Zuversicht angehen solltest.
Mit unseren besten Grüßen und unseren Glückwünschen
Der Dekan der Fakultät und die Ordinaria am Lehrstuhl, dem meine Assistenzprofessur unterstellt war, hatten den Brief unterzeichnet. Während ich ihn immer wieder las, als wollte ich ihn auswendig lernen, fielen mir die Augen zu und ich schlief ein.
Herzklopfen, verursacht durch den mehrfachen Ristretto, weckte mich nach ungefähr zwei Stunden. Mein Kopf lag auf dem einen Oberarm und dieser auf dem Berufungsschreiben. Ich hatte es im Schlaf arg zerknittert. Nachdem ich es weggelegt hatte, drehte ich mich auf die andere Seite und hing, mit offenen Augen, meinen Gedanken nach.
Seltsam, dass ich mich in diesem Moment an die Beerdigung meiner Mutter erinnerte. Warum fiel mir gerade jetzt dieses Ereignis ein? Das verstand ich nicht, zumal ich mich so leer und taub fühlte. Aber tatsächlich kam mir jener Tag vor sechs Jahren in den Sinn. Es war, als blätterte ich einen Stapel von halb verblichenen Polaroids durch, die jemand auf der Beerdigung geschossen hatte.
Meine Mutter starb anfangs Juni 2000, zu Beginn der Schafskälte. Die Temperaturen fielen auf fünf Grad Celsius. Tagelang blieb der Himmel von finsteren Wolken verhangen und es regnete ohne Unterlass. Die Abdankungskapelle wurde in dieser Jahreszeit nicht mehr geheizt. Ich saß in der vordersten Bank, hatte mir einen dicken Schal umgeschlungen und meine Ohrenschützer aufgesetzt. Ich fror und weinte fürchterlich. Hinter mir sah ich die Trauergäste, fest in ihre Mäntel gehüllt. Sie hatten sogar ihre Hüte aufbehalten. Neben mir saß mein Bruder, den wir den „Mittleren“ nannten und der von allen am meisten litt und mich ansah wie ein angeschossenes Tier. Er hielt meine Hand fest, aber das machte es nur noch schlimmer. Draußen vor der Kapelle blies ein heftiger Wind, der uns die Regenschirme aus den Händen riss. Der Geistliche haspelte hastig seine Liturgie herunter, während wir um das Grab herumstanden und schnell eine Handvoll Erde hineinwarfen.
Die Krankheit meiner Mutter war mit meinem letzten Jahr in der Schweiz zusammengefallen. Sie lag wochenlang im Sterben, während ich die Prüfungen für meinen Master ablegte, der damals noch Lizentiat hieß. Schließlich kam der Tag, an dem sie starb und ich nicht bei ihr war. Zwei Tage später ging ich zu den Feierlichkeiten in der Aula und nahm die Urkunde entgegen. Der Uni-Chor und das Hochschul-Orchester hatten Mozarts Spatzenmesse, die Missa Brevis in C-Dur, einstudiert. Schon beim Kyrie brach ich in Tränen aus und als das Agnus Dei verklang, stürzte ich schluchzend aus der Aula, noch bevor der Applaus einsetzte. Am Tag danach nahm ich an der Beerdigung meiner Mutter teil.
Heute vor elf Jahren war ich als Zwanzigjährige in die Schweiz gezogen, um mein Studium anzutreten. Auch daran erinnerte ich mich jetzt. Ich hatte davon geträumt, nach meinem Abitur nach Frankreich zu gehen – nach Paris, Lyon oder nach Montpellier, denn ich wollte unbedingt noch Französisch lernen. Aber nachdem ich mich nach langem Hin und Her dann doch für Germanistik entschieden hatte, fand ich es irgendwie verfehlt, mich ausgerechnet in einem Land mit romanischer Sprache in die deutsche Sprachwissenschaft zu vertiefen. Aus einer Intuition heraus fiel meine Wahl auf die mehrsprachige Schweiz und in unbekümmerter Unwissenheit stellte ich mir vor, dass ich dort bestimmt eine bilinguale Hochschule finden würde. Vorlesungen und Seminare würden in beiden Sprachen abgehalten werden und im Alltag würde man teils Französisch, teils Deutsch sprechen. Für mich selber und gegenüber meinen Eltern und Freundinnen nannte ich diese Idee die goldene Mitte der Leidenschaften, denn für mein Abitur hatte ich als Prüfungsstoff in Geschichte die griechische Antike gewählt und deshalb Aristoteles gelesen.
Nach einigem Suchen und Herumfragen fand ich die Stecknadel im Heuhaufen. Meine Überraschung darüber, dass ich genau auf der Grenze zwischen der deutschen und der französischen Schweiz die Kleinstadt mit insgesamt 40.000 Einwohnern entdeckte, hielt mehrere Tage an. Sie besaß eine katholische Universität, an der 6000 Frauen und 4000 Männer studierten. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich davon überzeugt hatte und es auch wirklich glaubte, dass die Uni ebenso vollkommen zweisprachig war wie das Städtchen selber. Es bestand zur Hauptsache aus der historisch gewachsenen Altstadt und einem schmalen Gürtel von Außenquartieren. Im Lexikon meines Vaters fand ich diese Beschreibung:
„Die Zähringer – schwäbische Grafen, die unter Kaiser Heinrich IV ihr Territorium bis ins Burgund und in die Schweiz ausweiteten – gründeten die Stadt im elften Jahrhundert. Doch schon hundert Jahre später verkauften sie sie den Grafen von Kyburg, einer Seitenlinie des Hauses Habsburg. Die Stadt liegt am Rand eines Plateaus über dem Fluss, der zahlreiche große und kleine Mäander einhundert Meter tief ins Gestein grub. Der Felsen neigt sich von der alles überragenden Kathedrale, dem Bischofspalast und dem Priesterseminar hinab zu den beiden Klöstern am gegenüberliegenden Flussufer.“
Dort oben lebte und studierte ich fünf Jahre lang, von 1995 bis 2000, um genau zu sein. Ich schloss das Studium ab und packte all meine Habe zusammen, während meine Mutter im Koma lag. Pünktlich zu ihrer Beerdigung kehrte ich in meine deutsche Heimatstadt zurück.
Noch immer lag ich ins Plumeau gehüllt im Gästebett. Ich schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Es reichte. Ich fand, ich hätte lange genug sinniert. Als ich mich aufrichtete und meine Füße auf den Bettvorleger setzte, fiel mein Blick auf die Anzeige des Weckers. Indem ich die routinierte Stimme einer Stewardess nachahmte, verkündete ich: „Willkommen in Madrid-Barajas. Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis die Anzeigen erloschen und die Triebwerke abgeschaltet sind.“ In diesem Moment begriff ich den Zusammenhang. Liebe und Abschied. Heimat und Aufbruch. Friedhof und Flughafen.
Damals, als ich mit fünfundzwanzig meine Mutter verlor, verließ ich – wie ich glaubte – für alle Zeit das Städtchen auf dem Felsen über dem Fluss und fragte mich alsbald, ob ich heimatlos oder eine Art Doppelbürgerin geworden war. Und heute, mit einunddreißig, hatte ich – unwiederbringlich, dessen war ich sicher – die eine wahre Liebe meines Lebens aufgegeben. Wir hatten um dieses Ende gerungen, so wie wir um den Wahnsinn unserer Liebe gerungen hatten. Serenus hatte sich von mir nichts Anderes gewünscht als ein Baby. Er wollte um jeden Preis mit mir nach Madrid verschwinden, mich schwängern, mit mir in Spanien leben und dort unser erstes Kind aufziehen – und vielleicht ein zweites. Davor hatte ich Angst, eine Angst, die immer mehr von mir Besitz ergriff und mich mit sich riss wie ein wildes Wasser.
Kurz bevor ich aufgab und mich allmählich vom Strudel in den Abgrund ziehen ließ, wurde mir der Rettungsring zugeworfen. Meine erste Universität bot mir ein neues Leben an: ein Anruf aus der Schweiz, gefolgt von meiner Bewerbung, dem Auswahlverfahren und schließlich meiner Berufung. Serenus begleitete und unterstützte mich, denn er wusste, dass es das Beste für mich, wenn nicht sogar die einzige Chance wäre, um mein Bewusstsein und meine Sicherheit zurück zu gewinnen. So würde ich, nachdem ich ihn heute zum Flughafen gebracht hatte, bald in meine zweite Heimat zurückkehren. Innerlich hatte ich mich bereits auf den Weg gemacht.
„Sei hart! Blick nicht zurück! Schau nach vorne!“, flüsterte ich, erhob mich vom Bett und begab mich ins Gästebadezimmer.
Während der nun folgenden acht Jahre in der Schweiz dachte ich nicht an Serenus. Ich glaube, ich träumte nicht einmal von ihm. Es fiel mir kein einziges Mal auf, dass er aus meiner Erinnerung gelöscht war. Es gab keinen Tag, an dem ich Erleichterung darüber verspürt hätte, dass das Schlimmste ausgestanden war. Auch meine Arbeit an der Uni empfand ich nicht nur als willkommene Ablenkung und schon gar nicht als überlebensnotwendig. Tatsächlich füllte mich meine neue Tätigkeit vollkommen aus. Die Gegenwart stellte ich zu hundert Prozent in den Dienst meiner Zukunft als Wissenschaftlerin und Hochschuldozentin. Im Hinblick auf meine Laufbahn befand ich mich am Anfang des wichtigsten Abschnittes. Ich war ein Insekt im Larvenstadium. Spätestens mit Vierzig musste ich mich in eine flugfähige Libelle verwandelt haben. Bis dahin galt es zu schwimmen, zu jagen und zu wachsen. Irgendwann würde ich aus dem Wasser empor klettern, Atem schöpfen und ausruhen, während Sonne und Wind meine Flügel trockneten.
Bereits unmittelbar nachdem mich der Dekan angerufen und mir mitgeteilt hatte, dass die Fakultät mich als Assistenzprofessorin anstellen wollte, und in derselben Sekunde, als ich den Hörer wieder auflegte, hatte ich die Eingebung. Plötzlich ergriff mich die Sehnsucht, ganz für mich alleine in einem großen Haus zu leben. Ich selber konnte mir kein Wohneigentum leisten, aber unsere Erbengemeinschaft war dazu in der Lage. Sie wäre die Eigentümerin. Das Haus würde nicht mir gehören, aber wenn ich es in Stand hielt und die Zinsen bezahlte, durfte ich es bewohnen und verwalten.
Wenige Tage, nachdem Serenus nach Madrid abgeflogen war, reiste ich also in die Schweiz, wo ich Immobilien besichtigte. Vier Wochen später war der Kauf besiegelt und ins Grundbuch eingetragen. Dazwischen blieb mir Zeit, mich einige Male mit den Leuten von der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft zu treffen, mir ein Bild von meinem neuen Fachgebiet und mich mit der wissenschaftlichen Literatur vertraut zu machen. Nebenbei beschäftigte ich mich mit Einrichtungsplänen.
Mein Haus stand im Niemandsland zwischen dem Stadtrand und den ersten Häusern der nächstgelegenen Ortschaft. Es erhob sich, versteckt in einer Waldlichtung, über dem Ufer eines Baches, der Glâne hieß. Ich erfuhr, dass es vor hundert Jahren von einem wohlhabenden kinderlosen Ehepaar gebaut und später von einer alleinstehenden Musikerin bewohnt worden war. Böden und Treppen, Türen und Schränke bestanden aus Kirschbaum und Ahorn. In den Doppelfenstern befanden sich noch die alten Scheiben und im Inneren gab es viel buntes Wellenglas von anno dazumal. Küche und Bäder waren mit blassrosa Platten aus schwedischem Feldspat gekachelt. Ich brauchte nur einen Malermeister und einen Küchenbauer, alles andere ließ ich, wie es war.
Ich fuhr zurück und machte mich an den Umzug und die Bücher, die ich mir aus der Bibliothek geliehen hatte. Ich las und packte, las und packte, las und packte, bis am Mittwoch nach Weihnachten der Möbelwagen vorfuhr. Während all der kurzen Tage und langen Nächten gab es in meinen Gedanken weder Raum für Zweifel und Reue noch für Schmerz und Sehnsucht. Niemand sah mir bei meinem Treiben zu. Beim Aufstehen und Schlafengehen, beim Lesen und Schreiben, beim Räumen und Putzen leistete mir niemand Gesellschaft. Vielleicht war die Wohnung von Abwesenheit erfüllt. Trotzdem fühlte ich mich nicht eine Sekunde lang einsam. Und als am nächsten Tag die Sonne unterging, die Möbelpacker sich verabschiedeten und in ihren Laster kletterten, bemerkte ich nicht, dass Serenus mit mir in mein neues Zuhause an der Route de la Glâne eingezogen war. Ein Geist, der sich nicht aus seinem Versteck rührte und der selber nicht wusste, wann seine Stunde käme, falls sie jemals käme.
Am Silvesterabend gaben die Angestellten der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft ein Willkommensfest für mich. Die meisten waren mir irgendwann schon einmal vorgestellt worden, aber nun lernte ich auch ihre Ehe– oder Lebenspartner kennen. Während der Party fiel es mir gar nicht auf, sondern erst am anderen Tag, als ich versuchte, mich an alle Gesichter zu erinnern. Unter lauter Paaren war ich die einzige Person ohne Begleitung gewesen.
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Ein neues Leben anzufangen ging schneller und einfacher, als ich erwartet hatte. Das Absterben des vorherigen Lebens hingegen setzte erst nach einiger Zeit und überaus zögerlich ein. Genau genommen lebte es weiter und alterte bloß dahin, wie ein mächtiger kranker Baum, der immer wieder austreibt und sich nicht um den Sturm schert, der ihm jeweils im Herbst einen weiteren Zacken seiner Krone raubt. Es waren die massigsten Äste, die abbrachen, die langjährigsten Freundschaften, die morsch wurden und zersplitterten. Dagegen wehrte ich mich und es dauerte lange, bis mich damit abfand.
Gastfreundschaft war mein Credo. Nicht zuletzt deswegen hatte ich das schmucke Jahrhundertwendehaus ausgesucht. Zwei Paare oder eine Familie mit Kindern konnte ich bequem darin unterbringen, ohne dass es eng wurde. Das Städtchen eignete sich zum Flanieren und Verweilen. Mit dem Auto war man schnell in Bern, Thun, Neuchâtel oder Montreux. Im Westen lag das Tiefland mit den drei Seen, im Süden die Hochebene von Greyerz, im Osten das Gebirge mit seinen Wanderwegen und Skipisten, im Norden die Hügel, Täler und Flüsse. Die Vergangenheit war allgegenwärtig: Römer und Ritter, Reformation und Renaissance, Religionskriege und Revolutionen, Romantik und Realismus.
Der halben Welt schrieb ich Mails mit Fotos vom Haus, vom Städtchen und von meinen Ausflügen in alle vier Himmelsrichtungen. Jeden, den ich irgendwie kannte, lud ich ein. Fast alle kamen auch und besuchten mich, einige für ein Wochenende oder über die Feiertage, andere für eine Woche oder länger. Während der drei Jahre beherbergte ich Gäste, als führte ich eine kleine Pension. Manche kamen zweimal oder dreimal. Als der Zustrom versiegte und es still wurde im Haus, wollte ich es lange Zeit nicht wahrhaben. Im Frühjahr 2010, als ich meine Habilitationsschrift fertig stellte und meinen 35. Geburtstag feierte, lud ich alle Menschen aus meinem alten Leben noch einmal ein. Aber die wichtigsten waren verhindert oder fanden eine gute Ausrede. Als die kleine Gästeschar in der Glasveranda beisammen war, stellte ich verblüfft fest, dass nur die Männer gekommen waren. Die „Mädels“ hatten mir einen Korb gegeben oder in letzter Minute abgesagt. Der kranke Baum meines alten Lebens hatte seine letzten Blüten getragen und setzte keine Früchte mehr an.
Von meiner Familie hatte mich niemand besucht. Ich war Waise und hatte mich seit Jahren nicht mehr um die Geschwister meiner Eltern gekümmert. Falls überhaupt noch Tanten oder Onkel lebten, dann wären sie fast so alt wie das Haus, in dem ich wohnte. Mein ältester Bruder, lebte inzwischen in Deutschland, in einem der neuen Bundesländer, wo er ein politisches Amt innehatte und seine Prominenz auskostete. Wir waren jedoch nicht zusammen aufgewachsen, denn als ich geboren wurde, war er bereits ausgezogen. Wir hatten weder gemeinsame Erinnerungen noch aktuelle Berührungspunkte. Von meinem anderen Bruder, der immer als „der Mittlere“ bezeichnet wurde, wollte ich nichts mehr wissen und er ebenso wenig von mir. Es blieb mir immerhin meine Kusine Eva erhalten, die Lieblingsnichte meines Vaters. Wir waren gleichaltrig, langjährige Freundinnen und uns in den letzten Jahren noch nähergekommen. Sie hatte sich auf den ersten Blick in mein neues Haus und das Städtchen verliebt. Von da an kam Eva, wann immer sie sich freimachen konnte, zu mir in die Schweiz. Je älter wir wurden, desto enger wurde unsere Freundschaft.
In der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft fand ich die Art und das Maß von Geborgenheit, die ich für mein inneres Gleichgewicht benötigte. Die Universität war in der ganzen Schweiz berühmt dafür, überschaubar und familiär zu sein. An keiner anderen Hochschule kamen so viele Lehrkräfte auf so wenige Studenten. Schon damals, als ich hier die Ausbildung machte und mich auf das Lizentiat vorbereitete, lernte ich das Engagement meiner Lehrer zu schätzen. Wir wurden nicht nur behutsam, sondern auch kompromisslos angetrieben, so dass sich unser Ehrgeiz mit demjenigen unserer Professoren verband. Die gegenseitige Wertschätzung war so groß, dass echte Bindungen zwischen ihnen und uns entstanden. Selbst nachdem ich die Uni verlassen hatte, wachte meine Ordinaria über meine weitere Laufbahn und überredete mich sechs Jahre später dazu, mich an ihrem Lehrstuhl zu bewerben. Meine Assistenzprofessur stand nicht auf dem Sollstellenplan, sondern wurde mit Mitteln aus einem länderübergreifenden Förderprogramm der eu finanziert. Irgendwann wurde mir zugetragen, dass meine Berufung von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen sei.
So klein sie auch war, so handelte es sich doch um eine richtige Universität mit allen traditionellen und modernen Fächern. Neben den Fakultäten für Theologie, Recht, Wirtschaft, Philosophie, Sprachen, Geschichte, Medizin und Naturwissenschaften existierten auch Studiengänge in Musik, Sportwissenschaft, Kommunikation, Sozialwissenschaften, Didaktik und Mehrsprachigkeit. Es gab mehr als ein Dutzend sprachliche Abteilungen, zwei davon für Germanistik, denn deutsche Literaturwissenschaft und deutsche Sprachwissenschaft waren streng voneinander getrennt. Letztere war eine der kleinsten Abteilungen an der ganzen Uni.
Ich selber unterrichtete die Studenten des dritten und vierten Semesters in Grundlagen der linguistischen Forschung. Mein Seminar gehörte zu den Pflichtveranstaltungen für Hauptfachstudenten, deren Zahl sich an zwei Händen abzählen ließ. Mit diesem intimen Grüppchen arbeitete ich an dem Projekt, mit dem ich mich habilitieren sollte. Meine Forschung befasste sich mit Kurznachrichten, also mit den über Mobiltelefone ausgetauschten sms. Die Abteilung stellte meinen Studenten ein Handy zur Verfügung und zwar das begehrte i-Phone, das Apple in jenem Jahr neu auf den Markt brachte. Die Geräte waren so programmiert, dass jedes versendete sms auf unserem Server abgespeichert wurde. Natürlich mussten die Teilnehmer eine Schweigepflichterklärung unterschreiben, denn das Seminar fand buchstäblich in ihrer Intimsphäre statt.
Das i-Phone-Projekt, wie es bald von allen genannt wurde, machte von sich reden. Es bekam einen elitären Nimbus und ich setzte meine ganze Autorität daran, meinen zehn Studenten einen gewissen Dünkel auszureden, vielmehr, ihn gar nicht erst aufkeimen zu lassen. Ich machte ihnen begreiflich, dass Ehrgeiz und Demut zwei Seiten derselben Medaille seien. Als ich den Teilnehmern so ins Gewissen redete, ahnte niemand von uns, dass sich die Bescheidenheit bald von selber einstellen würde. Denn unser i-Phone-Projekt erwies sich schon nach kurzer Zeit als tierische Plackerei. In den ersten zwei Semestern sammelten wir eine halbe Million sms auf dem Server, sodass wir das Vorhaben von Grund auf neu überdenken mussten.
Die Uni gab mir fünf Jahre, um das Forschungsprojekt und meine Habilitation abzuschließen, denn die europäischen Fördermittel waren für diesen Zeitraum zugesprochen worden. Ich vergeudete viel zu viel Zeit, um dem Unterfangen eine Richtung zu geben und es in Fahrt zu bringen. Das Ganze war ehrlich gesagt ein paar Nummern zu groß für mich, zumal ich damals fast ununterbrochen Gäste zu Besuch hatte. Ich ging ja erst auf Mitte Dreißig zu, was aber mindestens ein Gutes hatte – nämlich meine schier unerschöpfliche Energie. Ohne diese Reserven hätte ich mich verausgabt. Als ich das i-Phone-Projekt pünktlich zum Ende des Jahres 2011 abschloss, musste ich mir eingestehen, dass ich eine solche Ausdauer künftig nicht nochmals würde aufbringen können. Aber das würde bestimmt nie wieder notwendig sein.
Die Auswertung von ein bis zwei Millionen Handy-Nachrichten entsprach dem Bau eines gigantischen Elfenbeinturms. Weder die fleißigen Studenten noch die staunenden Kollegen fragten sich, auf welchen Gründen das ganze Konstrukt ruhte. Ein festeres Fundament war undenkbar. Mein Selbstbewusstsein als Wissenschaftlerin war erdbebensicher.
Das Grab meiner Liebe befand sich tief in der Erdkruste. Darüber lag das ganze Gewicht der Erdscheibe. Fortwährend drangen Erschütterungen an die Oberfläche und versetzten den Boden, auf dem ich stand, in Schwingungen. Ich hatte mich an sie gewöhnt und nahm sie nicht mehr wahr. Das intellektuelle Konstrukt aus versendeten und empfangenen sms ragte wie ein Denkmal für meinen Sieg über Schmerz und Leere in den Himmel.
Indessen, ich dachte nicht darüber nach, ob ich als Mittdreißigerin das bestmögliche Leben lebte, mit meinen Erfolgen als Assistenzprofessorin und mit meinem Single-Dasein in dem großen Haus an der Route de la Glâne. Ferner dachte ich auch nicht darüber nach, ob mir etwas fehlte – ein Mann an meiner Seite, ein Säugling an meiner Brust, ein Leben in einem anderen Land.
Nur zweimal schreckte ich auf. Das erste Mal in der Runde meiner Studenten, als wir über einen sms-Dialog aus dem i-Phone von Nicole, einer meiner Lieblingsstudentinnen, diskutierten. Magaly, ihre beste Freundin, lebte in Boston und studierte Ethnologie an der Harvard University. Beide waren mehrsprachig erzogen worden, tauschten sich aber auf deutsch aus. Nicole begann:
„ich denk nicht an dich“
„ich auch nicht“
„nicht denken“
„etwas anderes“
„nämlich?????“
Magaly reagierte jedoch nicht und Nicole fuhr selber fort:
„ich kann dich sooo gut riechen von usa bis hier. lol“
„transatlantische olfaktion?????“
„yep“
„glaub ich dir nicht“
Dazu ein Emoticon mit herausgestreckter Zunge und ein paar Minuten später die Aufforderung, Nicole solle ihr Beweise liefern:
„evidence!!!!!“
„du hast die mens. hmmm?????“
„go on!!!!!“
„hast die zähne noch nicht geputzt“
„drittens?????“
„du trinkst pulverkaffee“
„würg“
Magaly ließ offen, ob die Beweise zutrafen oder nicht. Vielleicht hatte sie tatsächlich ihre Periode, morgendlichen Mundgeruch und eine Tasse Instant Coffee vor sich. Nicole hörte dann auf zu schreiben. Im Seminar erklärte sie uns, dass sie an jenem Nachmittag eine Vorlesung hatte und sich auf den Weg machen musste. Als sie später ihr Handy gecheckt hatte, waren drei neue Nachrichten von Magaly eingegangen und ein Emoticon mit zwei tanzenden Mädchen, die offensichtlich Zwillinge darstellten:
„wir haben ein totem“
„du bist mein clan“
„hast du auch die maler im keller?????“
„yep, bin mit heinz, aber mega“, schloss Nicole.
Gemeint war die Monatsblutung. Heinz war die bekannte Ketchup-Marke.
Drei Dinge bestürzten mich damals: der intime Umgangston, die Metapher des Riechenkönnens und die Formel „ein Totem haben und ein Clan sein“. Meine Erinnerungen an verregnete Sonntage, die Serenus und ich im Bett verbracht hatten, unsere Neckereien und unsere Ausdünstungen, wenn wir zusammen Liebe gemacht und uns nach dem Orgasmus in den Armen gehalten hatten. Vor dem Frühstück holte Serenus manchmal zwei Gläser und eine Flasche Ladyburn, meinen Lieblingswhisky. Wenn wir beschwipst waren, plapperten wir über unseren Clan. Wir nannten uns den Clan Destiny, weil es unser Schicksal sei, ein Paar zu sein, und Clan-Destin, weil niemand von unserer heimlichen Heirat wusste. Wir liebten beide solche veralteten Wörter wie klandestin. Zu meinem dreißigsten Geburtstag hatte mir Serenus eine Fahrt den Mississippi hinunter geschenkt, mit dem Raddampfer von Memphis nach New Orleans. Von dort aus fuhren wir nach Valparaíso in Florida, wo wir uns trauen ließen. Unseren Honeymoon verbrachten wir auf der Halbinsel Destin. Daraus ergab sich der Name für unseren Clan.
Das zweite Mal schreckte mich Eva auf, als sie mich im Jahr 2008 oder 2009, genau weiß ich es nicht mehr, anrief. Über die Gerüchteküche unserer weitverzweigten Familie hatte sie von Serenus gehört. Es hieß, hinterbrachte mir Eva, er sei immer noch in Madrid und lebe zusammen mit einer Zwanzigjährigen, einer Prostituierten aus der Karibik, und deren kleiner Tochter. Ich unterbrach sie und nahm ihr das Versprechen ab, nie wieder etwas über ihn verlauten zu lassen.
Niemand – Serenus ausgenommen – hatte mich jemals als schöne Frau bezeichnet, schon gar nicht in meinen Dreißigern. Ich war einigermaßen groß und recht schlank: 172 Zentimeter und 63 Kilogramm. Ich hatte ziemlich lange Beine, die allerdings ein wenig krumm gewachsen waren, sodass ich nicht gern kurze Röcke trug. Meine Brüste waren winzig, denn schon nach meiner Menarche entwickelten sie sich nicht mehr weiter. Das Schönste an mir, fand ich, war mein Hintern. Dafür schämte ich mich für mein Bäuchlein, das ich auch mit Hungerkuren nicht wegbekam. Mein Kopf thronte auf einem zu langen und zu festen Hals. Mein Haar hatte keine richtige Farbe, es war weder dunkelblond noch braun. Dafür war es üppig und lang und reichte mir bis zu den Knien. Ich trug es immer noch zu einem dicken Zopf geflochten, der mir weit den Rücken hinunter hing. Leider hatten meine Augen einen merkwürdigen Schnitt, der mich immer traurig aussehen ließ und deren Form durch meine Weitsichtigkeit und meine Brille noch betont wurde. Dafür liebte ich ihre Iris – riesig und himmelblau mit einem Stich ins Grün-Grau. Ich sah nichts an mir, was ich sexy gefunden hätte, außer vielleicht das Lächeln meines großen Mundes mit seinen geschwungenen Lippen. Am schlimmsten fand ich meinen Unterkiefer. Er war zu klein und mit einem deutlichen Doppelkinn versehen. Ich mochte weder meine Nase noch meine Ohren, denn sie wirkten zu groß für mein kleines Gesicht. Meine Haut nahm überhaupt keine Sonne an und wirkte besonders im Sommer immer kränklich. Dafür hatte ich noch kein einziges Fältchen – weder im Gesicht noch am Hals, nicht einmal an den Händen. Insgesamt sah ich fünf bis zehn Jahre jünger aus, worum mich fast alle anderen Frauen beneideten. Mich hingegen störte es, denn es kam mir so vor, als unterschied ich mich zu wenig von meinen Studentinnen.
Zu meiner wiederkehrenden Verwunderung standen nicht wenige Männer auf mich – jüngere ebenso wie ältere. Nur die Männer meines Alters übersahen mich, als trüge ich eine Tarnkappe, was mich kränkte und verunsicherte. Die Jüngeren ließen mich in Ruhe und verehrten mich eher aus der Ferne, aber die Älteren warben offensiv um mich. Ich wusste nicht, was ihnen an mir gefiel, und sie sagten es mir auch nicht. Ich nahm an, ich sei eben der Typ Frau, dem Männer keine Komplimente machten. In den fünf Jahren als Assistenzprofessorin bekam ich mehr Anträge als in allen anderen Lebensphasen zusammen. Ich versuchte alles, um meine innere Kälte zu verscheuchen. Ich bemühte mich darum, von einem Mann geküsst zu werden. Aber unter der Straßenlaterne vor dem angesagtesten Restaurant des Städtchens blieb mein jeweiliger Begleiter mit hängenden Armen und einem schiefen Lächeln vor mir stehen und wusste nicht, ob er sich verabschieden oder mich nach Hause begleiten sollte.
So unbefriedigend sich auch mein Privat- und Gefühlsleben entwickelte, so erfolgreich war hingegen mein berufliches Fortkommen. Nach fünf Jahren schloss ich das i-Phone-Projekt und die Niederschrift meiner Thesen und Erkenntnisse ab. Im April 2012, wenige Tage nach meinem siebenunddreißigsten Geburtstag erhielt ich die Habilitation, den Titel einer Professorin und eine halbe Stelle als Privatdozentin an unserer Fakultät. Ein Jahr später veröffentlichte ich ein populäres Sachbuch: Bin mit Heinz – aber mega. Die Sprache der sms-Kurznachrichten.
Am letzten Tag des Jahres 2013 nahm ich zum achten Mal an der traditionellen Silvester-Party der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft teil. Wie immer war ich die einzige Frau ohne Begleitung. Kurz vor Mitternacht nahm mich die Ordinaria unseres Lehrstuhls beiseite und flüsterte:
„In einem Jahr bekommst du deine Professur.“
Ich brachte kein Wort heraus. Sie lächelte und deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo sich ihr Kollege mit zwei Doktorassistentinnen unterhielt.
„Unser Kollege wird vorzeitig in den Ruhestand gehen. Und du wirst seine Nachfolgerin. Darüber herrscht Einstimmigkeit.“
„Die Professur für Plurizentrik?“, stieß ich atemlos hervor.
„Siehst du? So gehen Wünsche in Erfüllung – unsere und deine.“
„In einem Jahr? Das ist gut. Ihr könnt auf mich zählen.“
„Darauf müssen wir anstoßen!“