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Die Ehefrau 1995 – 1999

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Mitte Dezember brachte ein früher Winter zuerst Frost und Glatteis, ein paar Tage später dann Mengen von Schnee. Es dämmerte bereits, als Serenus an einem Freitagnachmittag zu Fuß durch den Schneematsch nach Hause stapfte. Aus dem Supermarkt in seiner Straße besorgte er sich ein paar Kleinigkeiten und bevor er zur Kasse ging, tat er noch eine Flasche Doppelkorn in den Einkaufskorb. Zu Hause im Tiefkühlfach lagen die Eiswürfel vom letzten Sommer. Er wurde schnell betrunken und auf einmal fand er, es sei eine gute Idee, Sabina einen Brief zu schreiben, also holte er seinen Füllfederhalter und Briefpapier.

Serenus hatte Bina fünf Jahre lang geliebt. Im Juni hatten sie beide ihr Studium abgeschlossen und zum Ende des Sommers kam plötzlich die Trennung. Bina war für zwei Monate verreist und hatte nichts mehr von sich hören lassen, auch nicht, nachdem sie zurückgekehrt war. Er wusste nicht einmal, dass sie zum ersten September eine Stelle an der Uni angenommen hatte. Dass Bina für ihre Beziehung keine Zukunft mehr sah, war für ihn unerwartet gekommen. Der Verlust war ein Schock gewesen. Serenus wusste, was da auf ihn zukam. Das Leid lag auf der Lauer, das hatte er die ganze Zeit gefühlt. Aber er redete sich ein, dass es am Anfang einer neuen Lebensphase Wichtigeres gab als Liebeskummer.

Jetzt setzte das Leid zum Sprung an und stürzte sich auf ihn. Der Angriff traf ihn mit voller Wucht. Er vermisste Bina. Er hatte sie schon die ganze Zeit vermisst. Sein Körper begann zu zittern, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, er senkte seinen Kopf auf das Briefpapier und fing an zu weinen, bitterlich und hemmungslos. Er glaubte, er würde nie wieder damit aufhören können.

Zwei Tage später fiel ihm das Hanföl ein, welches er an Weihnachten vor vier Jahren in Amsterdam gekauft hatte. Er erinnerte sich an die kleine Dose aus dunklem Glas, wie Apotheker sie früher als Gefäß für Salben verwendeten. Heute, am ersten Advent, war genau der richtige Zeitpunkt dafür. Hanföl bereitete keine Umstände. Man nahm eine Messerspitze davon und bestrich eine gewöhnliche Zigarette damit, die man sogleich anzünden konnte. Er lief schnell zur Kneipe an der Kreuzung, um sich ein Päckchen zu besorgen. Dann stieg er auf den Küchenstuhl und suchte oben hinter den Gewürzen. Die kleine Dose aus sepiafarbigem Glas war klebrig und staubig. Zuerst säuberte er sie, dann schraubte er den Deckel ab. Der Inhalt sah aus wie Waldhonig, stank aber eindringlich nach Haschisch. Er präparierte eine Zigarette, rauchte sie und wartete. Nach einer halben Stunde rauchte er eine zweite mit der gleichen Dosierung. Als er schon nicht mehr damit rechnete, setzte die Wirkung ein.

Er war wieder mit Bina im Urlaub in der Ardèche. Sie saßen an einem der Gartentische vor dem Gasthaus Chez David mitten im lauschigen alten Dorf Aiguèze. Er war dabei, ihr zur erklären, dass ihre Unzugänglichkeit und seine Langeweile einen Teufelskreis bildeten. Er wollte sie anflehen, ihn wissen zu lassen, was in ihrem Inneren vorging. Sie sah ihn an wie eine Fremde, die kein Wort in seiner Sprache verstand. An ihrem Blick erkannte er, in welch sinnloses Unterfangen er sich gerade verstrickte. Weil sie ihm so fremd war, gefiel sie ihm, warb er um sie, bekam er niemals genug von ihr. Und sie setzte voraus, dass er sie liebte, weil sie so war, wie sie war, so fremd und nicht anders. Wollte er wirklich von ihr verlangen, dass sie zutraulicher, nachdenklicher und mitteilsamer sein sollte? Aber dann wären sie nicht mehr Bina und Serenus, sondern sie wären ein anderes Paar, von dessen Liebe sie nichts wissen konnten.

Während der Weihnachtszeit und über den Jahreswechsel hinaus wendete Serenus das Hanföl täglich an. Wenn er ihm vor dem Einschlafen zugesprochen hatte, fühlte er sich anderntags erlöst und lebensfähig. Er kam sich vor wie ein Gevierteilter, dessen Körper zusammengesetzt und komplett wiederhergestellt worden war. Er teilte sein Hanföl umsichtig ein, denn er wollte keinen neuen Stoff besorgen, wenn die kleine Glasdose eines Tages leer sein würde. Am Neujahrsnachmittag, als er gerade den ersten Joint anstecken wollte, erlebte er eine Überraschung. Das Telefon klingelte und Ralf erklärte etwas umständlich, dass sie sich ja seit dem Examen weder gesehen noch gehört hätten und dass er sich mal melden und sich nach ihm erkundigen wollte.

„Ach ja, und meine Glückwünsche zum neuen Jahr wollte ich dir bei der Gelegenheit auch bestellen.“

Ralf hatte den gestrigen Abend auf Anjas Silvesterparty verbracht. Die Hälfte der Gäste waren Kommilitonen ihres Jahrgangs, die sich zum ersten Mal wiedersahen. Es wurden dementsprechend Gerüchte und Tratschgeschichten verbreitet, aber niemand wusste, ob Serenus auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Arbeitsamt gelandet war, ob er und Bina inzwischen einen gemeinsamen Hausstand gegründet oder ob sich ihre Wege getrennt hätten. Anja meinte sogar gehört zu haben, dass Serenus weggezogen sei, in eine andere Stadt oder sogar ins Ausland. Er war ganz gerührt von der Vorstellung, wie die Freunde herumrätselten, was wohl aus ihm geworden sei. Als er Ralf von seiner Stelle im Krankenhaus erzählte, freute sich dieser aufrichtig über die gute Nachricht. Er hatte ungefähr gleichzeitig bei einem Pharmakonzern zu arbeiten begonnen. Er sei im Übrigen allein zur gestrigen Silvesterparty gegangen und auch allein nach Hause zurückgekehrt. Er gerate nicht in Versuchung, mit einer Uniabsolventin anzubändeln, um entweder nach ein paar Monaten wieder Schluss zu machen oder nach ein paar Jahren zu heiraten. Sie verabredeten sich für das nächste Wochenende und beendeten das Gespräch.

Am Samstagabend trafen sie sich bei Ralf, der ein einfaches Gericht vorbereitet hatte, Rindersteaks und Kartoffelsalat. Serenus brachte zwei Flaschen Rotwein mit, die sie ohne Eile austranken. Den ganzen Abend schwelgten sie in heiteren und ernsten Erinnerungen. Sie hatten damals dieselben Seminare besucht und sich in die gleichen Arbeitsgruppen einteilen lassen. Sie hatten sich jedoch nicht über die Uni hinaus angefreundet. Auch über diese zwar innige, aber auf die Wissenschaft beschränkte Freundschaft sprachen sie noch, bevor sich Serenus auf den Heimweg machte. Zuhause präparierte er eine Zigarette mit Hanföl, aber dann verzichtete er darauf, sie zu rauchen. Er würde die Leichtigkeit des Abends in den Schlaf mitnehmen, anstatt Binas Gespenst heraufzubeschwören, das ihm doch nur die Kehle zuschnürte. Vielleicht hatte ihm der Abend deshalb gutgetan, weil er sein Leid einmal beiseitegelassen hatte.

Eine Woche später kam Ralf zu ihm zu Besuch. Serenus schob ein Fertiggericht aus überbackenem Fisch in den Ofen und kochte Reis dazu. An diesem Abend erzählten sie sich mehr von ihrer Arbeit. Ralf war in ein aufwändiges Programm für Nachwuchskräfte aufgenommen worden. Die Firma würde ihn drei Jahre lang ausbilden und ihn anschließend für längere Zeit ins Ausland schicken. Serenus beneidete ihn nicht darum. Nach zehn Jahren Studium in drei verschiedenen Ländern drängte es ihn nicht danach, zu verreisen oder auszuwandern.

Ralf machte große Augen, als er begriff, dass Serenus die Administration des städtischen Krankenhauses leitete und für insgesamt sechzehn Angestellte, davon drei Teamleiterinnen, verantwortlich war.

„Du hast aber ganz schön Karriere gemacht“, meinte er bewundernd.

„Ich bin ja auch schon über dreißig. Ich muss Rückstand aufholen“, erwiderte Serenus.

Ein paar Tage später rief Ralf ihn gegen fünf im Büro an und erklärte, er habe Lust auf einen Drink. Sie trafen sich im Bermuda, einer Bar, wo Büroangestellte und junge Akademiker in modischen, teuren Kleidern ebensolche Cocktails tranken. Die Gäste kamen zwar zu zweit oder in Grüppchen, aber man scherzte und flirtete über die Tische und Theken hinweg. Serenus kannte ein Dutzend der Anwesenden von der Uni. Von da an nahm Ralf ihn regelmäßig zu solchen After Work-Partys mit. An den Samstagabenden besuchten sie sich weiterhin zu Hause und wechselten sich als Gastgeber ab. Bald kiffte Serenus fast nur noch am Sonntagnachmittag. Aber seine Gefühle für Bina, sein Gram und sein Groll, nutzten sich nicht ab. Doch jedes Mal, wenn er Ralf sein Herz ausschütten wollte, blockte dieser ihn ab. Sein Kumpel hielt Liebeskummer für ein unwürdiges Gesprächsthema.

„Da musst du durch. Wenn du tapfer bist und die Zähne zusammenbeißt, hast du deinen Herzschmerz nach einem Jahr ausgestanden. Du kannst dein Selbstmitleid auch auf zwei Jahre ausdehnen und deine Zeitgenossen damit langweilen. Aber wenn du willst, dass dein Appetit schon in wenigen Wochen wiederhergestellt ist, dann solltest du die vielen leckeren Mädels in den Bars beachten.“

Ralf brachte ihn mit seiner Schwester Walli zusammen, denn er hielt sie für besonders intelligent, aufgeschlossen und draufgängerisch. Eine solche Frau musste einfach eine heilsame Wirkung auf jemanden wie Serenus ausüben, dachte er. Es fiel nicht weiter auf, dass Ralfs Schwester dieselben Lokale besuchte und sich immer zu ihnen setzte. Tatsächlich mochte Serenus sie von Anfang an, aber nicht auf eine Weise, die sein seelisches Befinden verändert hätte. Walli hatte im Schnelldurchlauf das Medizinstudium mitsamt dem Staatsexamen hinter sich gebracht und daneben gutes Geld verdient, zuerst als DJ, später als Veranstalterin von legalen und illegalen Partys. Vor vier Jahren hätte sie mit den Praktika für angehende Fachärzte anfangen müssen. Aber Schichtarbeit, Bereitschaftsdienst und Überstunden widerten sie an. Inzwischen produzierte Walli die bedeutendsten und einträglichsten Techno-Events im ganzen Land und erzielte damit mehr Einkommen als eine Chefärztin.

Mit den ersten schüchternen Frühlingssonnenstrahlen erschien Yvette auf der Bildfläche. Serenus wusste nur, dass sie im zweiten Jahr ihrer kaufmännischen Lehre war und für ein paar Monate in der Patientenadministration die Fakturierung auf SAP erlernen sollte. Eigentlich hatte er nichts mit ihr zu tun und er bekam sie nicht einmal jeden Tag zu Gesicht. Aber wenn er ihr begegnete, freute er sich, und gelegentlich beobachtete er sie. Yvette war eine natürliche junge Frau, mittelgroß und mittelschlank, mit mittellangem mittelbraunem Haar. Selbst ihr Busen hatte mittleres Volumen. Es gab nichts Besonderes an ihr. Was Serenus jedoch berührte, war die vollkommene Harmonie all ihrer unauffälligen Eigenschaften und Merkmale. Mit dem ersten Blick, den er auf sie warf, hatte sie schon sein Herz erobert. Insgeheim nannte er sie „meine stille Schönheit“. Er kannte sie nur in Jeans, Pulli und Mokassins, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Außer Wimperntusche verwendete sie keine Kosmetik, nicht einmal ein Eau de Toilette. Sie roch wie das Weiße von einem hart gekochten Ei.

Jeden Dienstagnachmittag lud Serenus Yvette in die Cafeteria ein, wo sie einen Apfelkrapfen aß und heiße Schokolade dazu trank. Bei diesen Anlässen erlebte er sie unkompliziert und sogar ein wenig vergnügt, aber niemals ausgelassen. Während zwanzig Minuten vertiefte sich Serenus in den Anblick ihres Gesichtes, eines ebenmäßigen Ovals, einem Frauenportrait von Modigliani ähnlich, nur nicht so schmal, sondern etwas rundlicher. Sie hatte grüne Augen und einen wohlgeformten Mund, den er gerne geküsst hätte.

Wieder einmal ging es nach Feierabend ins Bermuda. Es stand ein langes Wochenende bevor, denn morgen war Gründonnerstag. Ralf erzählte, dass er die freien Tage am Lago Maggiore verbringen würde. Serenus schniefte theatralisch und stieß unter gespieltem Schluchzen hervor: „Wie kann ich ohne dich fünf christliche Feiertage überleben? Das ist noch schlimmer als am Kreuz zu sterben.“

Walli streichelte ihm tröstend die Wange und sagte: „Komm doch zu Planet Motion. Das wird dir gefallen. Planet Motion wird dein erstes und letztes Trance Rave werden.“

„Höre auf meine Schwester“, bestärkte ihn Ralf. „Planet Motion ist exzeptionell. Wirklich. Selbst wenn du nie auf eine Technoparty gehen wolltest.“

Walli erzählte, wie sie vor fünf Jahren mit der Produktion von Planet Motion gestartet war. Sie hatte gehört, dass die Stadt an Karfreitag und Ostern keine Sportveranstaltungen erlaubte und dass deshalb die Adenauer-Sporthallen Jahr für Jahr verschlossen blieben. Sie hatte sofort erkannt, dass die Örtlichkeiten für ein fünftägiges Event geradezu prädestiniert waren. Planet Motion war ein solch fulminanter Erfolg, dass sie es immer wieder, Ostern für Ostern, aufs Neue veranstaltete, dieses Jahr zum fünften Mal. Walli griff in ihre Handtasche und überreichte Serenus ein Ticket im Format einer Postkarte.

„Das ist ein VIP-Pass“, erklärte sie ihm. „Damit kannst du den Gästeeingang und die Backstage-Lounge benutzen und ohne zu bezahlen so viele Drinks bestellen, bis du tot umfällst.“ Sie beugte sich an sein Ohr und flüsterte: „Der VIP-Pass gilt auch für Deine Begleitung.“

Serenus vertiefte sich in die metallisch glänzenden Hologramme, die aus der Karte ein fälschungssicheres Ticket machten, und dachte nach.

„Jetzt wird aber bloß nicht schwermütig“, neckte ihn Ralf, „deiner Bina wirst du auf Planet Motion bestimmt nicht begegnen.“

Serenus hob den Blick und erwiderte: „Ich weiß nur nicht, ob ich die richtige Garderobe für diesen Anlass besitze.“

Walli lachte schallend: „Das Hinterletzte wäre Jack Wolfskin. Ebenso peinlich wären Anzug und Schlips. Modisch und schrill ist perfekt, aber schwarz geht auch, denn dann sieht man dich nicht im Dunkeln.“

Er stieg absichtlich ein paar Haltestellen zu früh aus und ging eine Viertelstunde zu Fuß. Auf dem Weg rauchte er zwei Zigaretten, die er mit Hanföl präpariert hatte. Aber erst nachdem er seinen VIP-Pass gezeigt hatte und in die Katakomben der Adenauer-Sporthallen hinuntergestiegen war, setzte die Wirkung ein.

In den Kellergeschossen herrschte schwarze Finsternis, die von zuckenden Laserstrahlen, Stroboskopen und Projektionen zum pulsierenden Halbdunkel einer verglühten Galaxis gemildert wurde. Aus den Musikboxen schallte etwas, was Serenus noch nie gehört hatte. Diese Klänge und Rhythmen waren reduziert, repetitiv und redundant. Die sich überlagernden Geräusche erinnerten ihn an einen Waschsalon, in dem alle Maschinen gleichzeitig in Betrieb waren. Ohne instrumentale Schwingungen, nur mit den im Computer gesponnenen Fäden wurde dieser synthetische Stoff gewoben. Ein paar Tage später erklärte ihm Walli, dass es sich bei dem Stil um progressive Trance handelte.

Serenus brauchte einige Zeit, um seine Sinne mit dem seismischen Grollen und dem kosmischen Wetterleuchten vertraut zu machen. Allmählich gewannen Musik und Licht Konturen, und er konnte seine Aufmerksamkeit den anwesenden Individuen zuwenden.

Zuerst fiel ihm auf, dass die männlichen Gäste in der Minderzahl waren. In den Diskotheken, die er besucht hatte, verhielt es sich meist umgekehrt, aber hier kamen zwei Frauen auf einen Mann. Zudem herrschte Geschlechtertrennung. Die Boys bildeten ihre eigenen Cliquen und ebenso blieben die Girls unter sich. Die Jungs tanzten meistens alleine und gelegentlich auch zu zweit, während mehrere Mädchen immer in der Gruppe zusammen tanzten. Zudem erkannte Serenus, dass sich die beiden Geschlechter auf ganz verschiedene Weise herausgeputzt hatten. Die Männer hatten sich chic gemacht und sahen aus wie junge Künstler, die zur Verleihung eines Förderpreises antraten. Sie trugen weit geschnittene Hemden mit ungewöhnlichen Mustern und weiße oder ausgebleichte Jeans mit so engen Röhren, dass die Beine im Verhältnis viel zu dünn erschienen. Serenus hatte noch nie so viele hübsche Jungs auf einem Haufen gesehen.

Die Frauen schienen sich wie für einen Kindergeburtstag verkleidet zu haben. Sie trugen lauter Babyfarben: rosarot, himmelblau, blassgrün und pastellgelb. Beim Tanzen streckten sie die Hände in die Luft und gestikulierten mit ihren weißen Spitzenhandschuhen, die unter dem ultravioletten Licht wie von selber leuchteten. Manche trugen einen Haarreif, auf dem zwei Kunststoffherzen an Federn wippten. Sie sahen aus wie Kinder von der Venus, die ihre Liebesbotschaft zur Erde brachten. Andere hatten sich, in Anspielung auf Ostern, Hasenohren aus Plüsch aufgesetzt. Stiefelchen in pastellfarbigem Flokati schienen der letzte Schrei zu sein. Die jungen Frauen hatten sich in allen Farben geschminkt und sich Gesicht, Schultern und Dekolletee mit Pailletten bestreut.

Serenus stand gegen die Squashwand gelehnt und beobachtete eine Gruppe von bunt glitzernden marsianischen Bunnys. Sie hielten pralle Luftballons am Mundstück fest und nahmen in Minutenabständen einen Zug vom Inhalt, was ihnen großes Vergnügen zu bereiten schien. Eine von ihnen war eine vollkommene Schönheit. Ihr Gesicht war mit metallischer Körperfarbe bedeckt und von einer silbernen Kraushaarperücke eingefasst. Sie trug weiße Kleidung. Die winzigen Shorts und das elastische Trägerhemdchen stellten ihre Schultern und Schenkel, ihre Lenden und Leisten zur Schau. Serenus fühlte auf der Stelle ein heftiges sexuelles Begehren nach der Unbekannten. Sie schaute immer wieder in seine Richtung und schickte ihm winzige vertrauliche Signale. Die Mädchen ihrer Gruppe tuschelten miteinander und verließen wenig später den Raum. Sollte er ihnen hinterhergehen oder lieber abwarten, ob er ihnen auf einem anderen Dance Floor wiederbegegnete?

Doch nach wenigen Minuten kehrte die junge Schönheit zurück, brachte einen Ballon und zwei Becher mit, stellte sich vor ihm hin und bediente ihn. Zuerst bot sie ihm Lachgas an und dann Orangensaft mit Wodka, wieder den Ballon und nochmals den Drink. Serenus beugte sich zu ihrem Ohr und fragte sie: „Kennen wir uns? Wie heißt du?“

Sie hielt sich den Zeigfinger an die türkis bemalten Lippen. War er nicht genau einem solchen Mund schon einmal begegnet? Wieder reichte sie ihm das Gas und den Drink.

„Sprichst du kein einziges Wort mit mir?“, hakte er nach. Sie schüttelte den Kopf auf eine Art, die keine Einwände duldete.

„Aber was kann ich denn dann von dir bekommen?“, lachte er hilflos.

Sie öffnete ihr winziges Handtäschchen aus weißem Teddy und nahm ein Döschen heraus. Als sie es öffnete, sah er, dass es zwei Sorten Pillen darin gab. Die einen waren hell und eckig, die anderen dunkel und rund. Sie nahm eine von jeder Sorte und steckte sie ihm in den Mund. Dann reichte sie ihm den Becher und beobachtete ihn. Als er geschluckt hatte, schenkte sie ihm einen anerkennenden Blick. Jetzt öffnete sie ihre Lippen, stellte sich auf die Zehen und begann ihn zu küssen. Dabei hielt sie in der einen Hand den Luftballon und in der anderen den Becher. Serenus hatte seinen ausgetrunken und weggeworfen. Er umschlang ihre Taille und sie ließ sich schmachtend in seine Umarmung fallen.

Er betrachtete das Platingesicht aus der Nähe, die türkisfarbenen Lider, den gleichfarbigen Mund, die Schicht aus glitzerndem Sternenstaub auf ihren Schultern. In einem Videoclip würde sie jetzt das Mikrophon nehmen und zu singen anfangen. In seinem Griff war das knappe Hemdchen hochgerutscht. Er fasste sie mit beiden Händen unter den Achseln und legte die Daumen auf ihre Brustwarzen. Sie löste sich sofort von ihm und tippte mit dem Finger auf ihr Handgelenk, dorthin, wo sie sonst ihre Armbanduhr trug.

„Ich soll mich gedulden und dir Zeit lassen?“, fragte er sie in ihr Ohr. Sie bejahte mit einem Kopfnicken.

Sie inhalierten den Rest aus dem Ballon und teilten sich die letzten Schlucke aus ihrem Becher. Gegen die Squashwand gelehnt, heftig knutschend, ließen sie eine Stunde verstreichen, vielleicht auch nur eine halbe. Schließlich nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich fort. Offenbar wusste sie, wann und wo sie ihre Freundinnen finden würde. Sie führte ihn durch zwei oder drei Hallen, durch einen Korridor und eine weitere Treppe hinunter. Sie befanden sich auf einem unterirdischen Tennis-Court, auf dem in dieser Karfreitagnacht getanzt wurde. Ihre Freundinnen waren nicht mehr unter sich, sondern es hatten sich ihnen einige Typen angeschlossen, so dass Serenus und seine Miss Sexy nicht mehr das einzige Pärchen waren.

Jetzt wollte sie mit ihm tanzen und so blieben sie lange auf dem Dance Floor, wo sie sich immer wieder umarmten und küssten. Später steckte sie ihm nochmal zwei Pillen in den Mund, die er mit einem Schluck aus dem Bierbecher eines Fremden hinunterspülte. Längst hatte er das Rätselraten aufgegeben, warum ihm seine neue Bekanntschaft so vertraut vorkam. Er konnte sich nicht an ihr satt sehen und nicht genug bekommen von ihrer Haut und ihren Berührungen.

Die synthetischen Neurotransmitter, die er in den letzten Stunden geschluckt hatte, flackerten durch sein Nervensystem und vervielfältigten die Anziehungskraft des Mädchens. Er taumelte durch einen Traum aus Licht und Dunkel, aus Klang und Tanz, aus Wunsch und Lust. Wenn er in seinem Leben schon einmal so erfüllt gewesen war, dann war es so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Die stumme Namenlose vermittelte ihm eine Absolutheit, als ob sie die aus all seinen intimen Erfahrungen extrahierte Essenz sei.

Als Planet Motion seine maximale Entfernung von der Erde erreichte, entfernte sich Serenus mit seiner Schönen im Arm von ihrer Clique. Wie ferngesteuert durchschritten sie die Katakomben und Schächte, bis sie zur Backstage-Lounge gelangten, wo sie sich mit seinem VIP-Pass Einlass verschafften. Die Zone erwies sich als ein Labyrinth aus vielen stillen Räumen und ruhigen Bars, wo sanfte Musik gespielt wurde und wo sich kaum Menschen aufhielten.

Ganz zuhinterst, in einem Raum voller Schränke, Apparate und Gerätschaften, ließen sie sich auf ein ausrangiertes Sofa fallen und zogen sich gegenseitig die Kleider aus. Als sie nackt waren, gab es auf einmal einen schrecklichen Lärm, es rumpelte und klirrte, weil hinter ihnen eine große Maschine eine neue Ladung Eiswürfel ins Auffangbecken spie. Serenus ergriff zwei Handvoll Eis und begann, seine nackte Geliebte damit einzureiben. Sie führte seine Hände, denn sie wollte, dass er ihre Brüste gefrieren ließ.

Zuerst atmete sie schwer vor Erregung. Aber bald begann sie laut zu stöhnen und unverständliche Silben zu stammeln. Ihre Stimme verriet sie sofort und Serenus hielt inne. Endlich erinnerte er sich an das ovale Gesicht mit den grünen Augen, das die Maske aus Platin und Türkis unkenntlich gemacht hatte. Es fiel ihm nicht leicht, sie sich als die natürliche junge Frau vorzustellen, die er insgeheim als „meine stille Schönheit“ bezeichnete. Er ließ seinen Blick langsam über ihren Körper wandern und jetzt erkannte er sie an der vollkommenen Harmonie all ihrer Körperteile und -merkmale wieder.

„Yvette! Wie alt bist du? Bitte verrate es mir!“ Er bat sie mit seiner sanftesten Stimme darum.

„Siebzehn“, antwortete sie mit einem Hauch von Trotz, „siebzehn, in ein paar Wochen.“

Sie nahm seine Hände und führte das Eis zu ihren Brüsten zurück. Serenus würde Yvette niemals zurückweisen und das sagte er ihr auch mit genau diesen Worten.

Als sie auf den Platz vor den Adenauer-Sporthallen traten, war es bereits heller Tag. Er führte sie zu einem Taxi und sie stiegen hinten ein. Sie schmiegte sich an ihn und neigte ihr Ohr zu seinem Mund. Serenus sagte wieder mit seiner sanftesten Stimme: „Komm mit zu mir nach Hause. Wir kiffen ein bisschen und machen Liebe.“

Am Ostermontag rief er Ralf an und beichtete ihm, welchen Sünden er in der Karfreitagnacht erlegen war.

„Sie ist wirklich erst siebzehn und du hast es vorher nicht gewusst?“ fragte Ralf ihn ungläubig.

„Ich wusste vor allem nicht, wer sie war. Ich erkannte meine eigene Azubi nicht. Wir knutschten die ganze Nacht wie wild miteinander, aber ich kam einfach nicht darauf.“

„Und sie gab während Stunden keinen einzigen Laut von sich? Ist das wahr?“ bohrte Ralf weiter.

„Genau so war es. Erst als wir nackt auf dem Sofa lagen und sie zu stöhnen begann, hörte ich zum ersten Mal ihre Stimme. Da war mir sofort alles klar und da sagte sie mir auch, dass sie siebzehn sei. Siebzehn, in ein paar Wochen.“

„Aber du hast doch nicht mit ihr geschlafen?“, fragte Ralf.

„Es fehlte nicht mehr viel. Es war tatsächlich nur das letzte Detail, das wir ausließen.“

Jetzt lachte Ralf. „Was für eine Räubergeschichte! Sie wusste, wer du warst, und sie wusste, dass du sie nicht erkanntest. Sie baggerte dich an und fütterte dich mit Drogen. Dabei ist sie minderjährig und du bist ihr Chef und fast doppelt so alt wie sie.“ Nach einer Pause fragte er: „Wollte sie Geld von dir?“

Serenus schnappte nach Luft: „Geld? Fragst du mich, ob sie sich prostituierte?“

„Sie könnte dich auch erpressen. Sie erzählt niemandem, was ihr alles zusammen getrieben habt, aber ihr Schweigen kostet eine Kleinigkeit.“

„Red doch keinen Unsinn! Wenn jemand etwas davon erfährt, fliegen wir beide.“

„Dann wollte sie wohl einfach ihren Spaß haben.“ Ralf verstellte seine Stimme und sagte: „Seht ihr den älteren Herrn dort drüben. Schaut mal, wie er uns anstarrt. Das ist mein Chef. Glaubt ihr, ich kriege ihn rum?“

Serenus lachte: „Etwa so wird es wohl gewesen sein.“

„Und jetzt? Hast du Gefühle für sie?“

„Um ehrlich zu sein, ich schmachtete sie schon vorher ein wenig an. Doch auf der Party war ich richtig verrückt nach ihr.“

„Aber wie wirst du dich jetzt ihr gegenüber verhalten? Falls sie dich noch einmal versucht zu verführen, was tust du dann?“

„Für mich ist es ein Entweder-Oder. Ich vergesse das Ganze und lasse meine Finger von dem Mädchen, das heißt, wir tun beide so, als ob nichts gewesen wäre. Oder wir fahren beide voll aufeinander ab und gehen bis zum Letzten. Eines von beidem.“

„Sie ist doch erst, nein, noch nicht einmal siebzehn! Was hat denn ein über dreißig Jahre alter Mann von einer Beziehung mit einem Teenager?“

„Was hat er von einer Beziehung mit zwei Teenagern?“, lachte Serenus.

„Ich kann dir gerade nicht folgen“, erwiderte Ralf etwas unwirsch.

„Yvette ist zwei Teenager: eine brave Schülerin, der man die Unschuld glaubt, und eine Partynudel, die Drogen nimmt und Männer abschleppt.“

„Na ja. Wahrscheinlich wird gar nichts passieren. Es wird bei dem einmaligen Ausrutscher bleiben“, seufzte Ralf und es hörte sich fast wie Bedauern an. „Aber du musst auf dich aufpassen, Serenus. Ich rufe dich nächstes Wochenende wieder an, wegen der Fortsetzung“, schloss er das Gespräch.

Yvette machte es ihm leicht. Sie kam in sein Büro, begrüßte ihn und fragte: „Passt es dir um halb vier? Heute ist Dienstag, da gehen wir doch immer zusammen in die Cafeteria.“

„Genau. Apfelkrapfen und heiße Schokolade. Abgemacht!“

Er sah sie ein paar Sekunden lang an und musterte ihr Gesicht. Sie war wieder seine stille Schönheit und hatte nichts mit Miss Sexy vom Planet Motion gemein. Aber bevor sie sich umdrehte, um sein Büro wieder zu verlassen, legte sie den Zeigfinger an ihre Lippen.

Als Serenus am Nachmittag in die Cafeteria kam, saß sie schon an einem Tisch und wartete auf ihn. Er holte sich einen Kaffee und eine Laugenbrezel mit Butter und setzte sich ihr gegenüber. Wieder betrachtete er sie, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er diese Yvette nackt auszog und ihre Brüste mit Eiswürfeln abrieb. Gleichzeitig wusste er mit größter Sicherheit, dass er sie, wenn sie sich ihre andere Haut überzog, wieder genauso heftig begehren würde wie vor drei Tagen und sie ihn auch. Und das letzte Detail würden sie dann auch nicht mehr auslassen.

„Ich möchte etwas mit dir besprechen“, unterbrach Yvette seine Gedanken. „Es ist wegen meines Rotationsplans. Ich bin zwar erst sechs Wochen bei euch in der Administration, aber ich beherrsche die Fakturierung auf SAP schon jetzt. Heute sagte selbst die Teamleiterin zu mir, dass sie mir nichts mehr beibringen könne. Aber meine nächste Rotation ist erst zum ersten Juli vorgesehen. Ich habe jedoch gehört, dass im Dialyse-Ambulatorium zwei Sekretärinnen ausgefallen sind. Dort wären sie sicher froh, wenn ich einspringen würde, vor allem jetzt, wo ich auf SAP abrechnen kann.“

„Die Idee ist genial. Die Pflegedienstleitung wird dir die Füße dafür küssen. Hast du schon mit Schwester Jacqueline gesprochen?“

„Soviel ich weiß, ist Schwester Jacqueline diese Woche noch im Urlaub. Die Idee kam mir am Wochenende. Andererseits gefällt es mir gut bei euch in der Administration und ich gehe nicht gerne fort.“

Serenus hatte Yvettes Absicht sofort durchschaut. Solange sie in seiner Nähe war, wären sie beide der ständigen Versuchung ausgesetzt, oder zumindest ihren Fantasien. Das wollte sie mit der Versetzung ins Dialyse-Ambulatorium verhindern, denn dieses befand sich außerhalb des Krankenhauses, in einem anderen Teil der Stadt.

„Und wohin führt dich die Rotation im Juli?“, fragte er interessiert.

„Dann komme ich für vier Monate in die Klinikleitung zu den Chefarztsekretärinnen.“

„Das passt ja alles bestens zusammen. Ich kann dir nicht wirklich etwas entgegenhalten. Leider...“, seufzte er.

„Wenn ich mit der Lehre fertig und volljährig bin, bewerbe ich mich einfach in deinem Bereich“, tröstete ihn Yvette und strahlte ihn an.

Als das nächste Jahr anbrach, verliebte sich Serenus ernsthaft und folgenreich. Er hatte die Frau schon oft beobachtet, wenn er Ralf und Walli nach Feierabend im Bermuda getroffen hatte. Aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Verhaltensweisen hielt er sie für sein weibliches Pendant. Die anderen Frauen im Bermuda trugen mehr Schmuck und mehr Make-up, rochen schwerer und süßer, gingen auf höheren Absätzen. Die Persönlichkeit dieser Frau strahlte sowohl Sicherheit und Ruhe als auch eine gewisse Verlorenheit aus. Sie schien nicht so viele Leute zu kennen, dafür führte sie mit ihren Freundinnen lange und ernsthafte Gespräche, wozu sie eine Zigarette nach der anderen rauchte. Als er eines Tages beobachtete, wie sie vergeblich nach einer Zigarette in ihrem leeren Päckchen suchte, verlangte er beim Barmann ein neues, trat zu ihr und bot ihr eine daraus an. Das Päckchen trug er von da an immer bei sich. Seither schenkte sie ihm jedes Mal ein Lächeln, wenn er ins Bermuda kam.

Das große Ereignis jener Tage bestand darin, dass Ralfs Schwester sich einen lang gehegten Traum erfüllt und endlich ihr eigenes Lokal eröffnet hatte. Sinnigerweise nannte sie es ganz einfach und schlicht Wallis Bar. Nun feierte Serenus seine After Work-Partys dort, so dass er erst nach einigen Monaten wieder einmal das Bermuda betrat. Er war alleine unterwegs und früher dran als sonst. Die meisten Gäste würden erst in einer Stunde kommen. Er nahm sich eine Tageszeitung, setzte sich an die Bar und begann zu lesen.

Er hörte die Frau nicht kommen und erschrak daher, als sie sich zu ihm setzte und ihn ansprach: „Welch schöne Überraschung nach so langer Zeit. Ich habe dich vermisst! Warst du verreist?“

Er erklärte ihr die Sache mit Wallis Bar, welche sie auch kannte, in der sie aber bisher nur einmal gewesen war, weil ihre Bekannten eben nicht dort, sondern im Bermuda verkehrten. Sie wusste, wer Ralf war, weil sie beide zufällig für dieselbe Firma arbeiteten, hatte jedoch nie mit ihm zu tun gehabt, denn sie war in der Forschung tätig. Sie hatte in Biochemie oder Mikrobiologie promoviert, was Serenus ohnehin nicht unterscheiden konnte. Ihr Spezialgebiet war ein bestimmtes Virus und sie kannte jedes Atom und jede Bindung in der molekularen Struktur seines Erbgutes auswendig. Am Computer zeichnete sie neue chemische Substanzen, die exakt zur Struktur des Virus passten, so dass sie andocken und damit die Fortpflanzung des Virus blockieren konnten. Wenn sie ein solches Molekül entworfen hatte, versuchte sie, es im Reagenzglas herzustellen. Damit sich die einzelnen Gruppen von Kohlenwasserstoffen zu dem vorausberechneten Molekül zusammenfügten, waren zahlreiche chemische Reaktionen notwendig, die bei Minustemperaturen von hundert Grad und kälter abliefen. Das konnte einen Monat oder auch ein Jahr dauern. Wenn der vermutete Wirkstoff fertig war, überprüften die Kristallographen im Elektronenmikroskop, ob das Molekül auch tatsächlich die gesuchte Form besaß.

Serenus hatte noch nie einen naturwissenschaftlichen Vortrag gehört, der so abstrakt und gleichzeitig so verständlich war. Er konnte sich alles, was sie ihm erklärte, ganz genau vorstellen. Zugleich sprach die Frau mit einer Begeisterung, mit einem solchen feu sacré, dass er um ein Haar Gänsehaut bekommen hätte. Für sie stellte ihr Labor so etwas wie eine Geburtsklinik dar, in welcher molekulare Babys gezeugt und auf die Welt gebracht wurden.

Nach diesem Abend ging sie nicht mehr ins Bermuda, sondern in Wallis Bar, und zwar an denselben Wochentagen wie Serenus. Ralf zeigte sich zufrieden mit dieser Entwicklung und lobte ihn für seine Wahl.

„Endlich gibst du dich mit einer Frau ab, die sowohl erwachsen als auch zurechnungsfähig ist. Weder ein Teenager noch eine Verrückte. Serenus, ab jetzt wird dein Leben unkompliziert. Du wirst sehen, dass die Liebe im Prinzip total easy ist. Ich bestelle noch zwei Mojitos, damit wir auf deine Zukunft als Normalo anstoßen können.“

„Eigentlich eine schöne Idee“, gab Serenus zu. „Seit ich jeden Tag zur Arbeit gehe und jeden Monat mein Gehalt auf dem Konto habe, denke ich tatsächlich auch über ein geregeltes Liebesleben nach.“

„Ich wusste, du kapierst es“, rief Ralf aus. „Männer, die mit dreißig ihre Adoleszenz nicht abgeschlossen haben, landen früher oder später im Irrenhaus!“

Der Barmann stellte den Nachschub auf den Tresen und sie prosteten sich zu.

„Und was ist mit dir? Warum bist du noch ungebunden?“, wollte Serenus wissen.

„Jetzt mach mal halb lang“, lachte Ralf. „Du bist vier Jahre älter als ich. Wenn ich so alt bin wie du jetzt, wirst du mein Trauzeuge sein. Denk an meine Worte.“

Serenus runzelte die Stirn. „Muss es gleich heiraten sein?“

„Wenn ich dich mit deiner neuen Flamme sehe, wirkt es auf mich, als wärst du schon ihr Ehemann. Merkst du überhaupt, wie gut sie dir tut?“ Serenus dachte nach und stimmte dann zu.

„Ja. Ihre Ausgeglichenheit und ihre Munterkeit sind ansteckend. Das möchte ich mir unbedingt bewahren.“

Serenus hätte niemals zugegeben, dass er sich in die Frau verliebte, weil sie einfach alles hatte. Sie lebte alleine in einer großzügigen Vierzimmerwohnung, die komplett mit schönen Möbeln ausgestattet war. Sie hatte die Einrichtung von ihrem Vater zur Promotion geschenkt bekommen. Sie fuhr einen neuen japanischen Sportwagen, einen Zweiliterturbo mit über zweihundert PS, der gerade mal tausend Kilometer auf dem Zähler hatte. Ihre Garderobe füllte eine ganze Schrankwand, die fünf Meter breit und zwei Meter hoch war. Sie kleidete sich zwar weder teuer noch auffällig, aber sie kaufte gerne ein und sie sammelte sündhafte Unterwäsche, die außer Serenus niemand zu Gesicht bekam.

Auch ihr Wesen erschien ihm irgendwie vollständig und abgerundet. Sie fand jeden Tag einen Anlass sich zu freuen und wenn sie frustriert war oder sich ärgerte, hatte sie es nach ein paar Stunden wieder vergessen. Ihr Seelenleben folgte einem festen Rhythmus und ihre Einstellung den Wechselfällen des Lebens gegenüber war so unerschütterlich wie ihre Prinzipien. Ohne Fehler lerne man nichts und ohne Frust verändere man nichts. Katastrophen seien dazu da, dass man irgendwann etwas zum Staunen und Lachen habe. Insgeheim bewunderte Serenus sie und hoffte, sie würde sein Leben in ruhigere Bahnen lenken. Nicht, dass er etwas aus seinem bisherigen Leben bereute, aber dass es so weiterging wie bisher, entsprach dennoch nicht seinen Plänen.

Nach einem Monat steuerte er den Sportwagen, nach zwei Monaten teilte sie die Vierzimmerwohnung mit ihm und nach drei Monaten sprachen sie vom Heiraten. Nach vier Monaten nahmen sie gemeinsam Urlaub, um nacheinander ihre und seine Eltern zu besuchen.

Seine zukünftigen Schwiegereltern lebten, bewacht von zwei abgerichteten Hunden, in einem gigantischen dunkelbraunen Bungalow mit einem unförmigen Walmdach, in welchem die oberen zwei Etagen verborgen waren. Fremden blieb der Anblick allerdings erspart, denn das Grundstück war von einer vier Meter hohen Hecke umgeben. Das Innere des Hauses war mit unzähligen Wildeberköpfen und Steinbockgehörnen dekoriert.

Nach dem Abendessen bat der Vater Serenus immer in das Herrenzimmer, wo die Glastürenschränke mit den Flinten und Gewehren standen. Sie schlürften dunkelbraunen Armagnac und unterhielten sich in einer Atmosphäre erzwungenen Wohlwollens, die darauf gründete, dass Serenus vorgab, demnächst die Jagdkunst zu erlernen, über Politisches und Wirtschaftliches. Die Mutter floss über vor Vertrauen und Zuversicht, dass ihr einziges Kind die einzig richtige Wahl getroffen hatte, was sie jeden Tag mehrmals kundtat. In dieser Umgebung gab sich seine Zukünftige etwas kindlicher, als wenn sie alleine waren. Aber ihre Mädchenhaftigkeit unterstrich auf liebenswerte Weise ihre Natürlichkeit. Zudem ging Serenus davon aus, dass er sie höchstens in jährlichen Abständen hierher würde begleiten müssen.

Nur ein einziges Mal fühlte er sich wirklich verunsichert, als nämlich sein Schwiegervater beim Armagnac auf die Mitgift für seine Tochter zu sprechen kam. Serenus schlug unbekümmert ein, obwohl er nicht begriff, was ihm angeboten worden war. Einige Zeit später erklärte ihm sein Anwalt, dass es sich um ein vorgezogenes Erbe handelte, wobei jedoch dieses Erbe mitsamt der Nutznießung nicht unter den Ehevertrag fiel.

Den anderen Urlaub verbrachten sie nicht im Elternhaus, wo Serenus aufgewachsen war, denn der Vater hatte sie alle zusammen für ein paar Tage in das Gästehaus auf einem Weingut eingeladen, welches auf der Höhe von Colmar an den Osthängen der Vogesen lag. Serenus war das Kind seiner Eltern. Er hatte eine Schwäche sowohl für gutes Essen als auch für alkoholische Getränke.

Der Vater konnte sich für vieles begeistern, sprach aber am liebsten von seinen volkskundlichen und ethnographischen Studien. Er korrespondierte nach wie vor mit seinen Bekannten vom Verein Freunde der Völkerkunde Wien, der auch ein paar seiner Aufsätze veröffentlicht hatte.

Die Mutter interessierte sich in erster Linie für alles, was den Söhnen wichtig war. Folglich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Schwiegertochter. Ihr Erstgeborener hatte überhaupt nichts mit Frauen im Sinn gehabt und Theologie studiert. Als gerechten Lohn für die Geduld, die sie für „ihre Männer“ aufgebracht hatte, präsentierte ihr Jüngster jetzt eine Braut, die sich als freundliche und wohlgeratene Tochter aus gutem Hause erwies. Sie fanden sogar ein gemeinsames Steckenpferd, nämlich Möbel und Textilien. Sie verbrachten einen ganzen Tag zusammen und besuchten ohne die beiden Männer das Tapeten-Museum in Rixheim. Währenddessen wanderten Vater und Sohn von Munster aus auf den Petit Ballon. Serenus war nicht entgangen, dass der Vater eher reserviert auf seine Zukünftige reagierte, und er nutzte die Gelegenheit, um ihn direkt danach zu fragen. Der Vater lachte und antwortete lakonisch: „Sie ist ein Schluck Wasser. Sie erinnert mich kolossal an die Mutter vor vierzig Jahren, als sie so jung war wie deine Frau heute. Du hast demnach gute Chancen, mit ihr alt zu werden.“

Die Trauung fand an einem Mittwoch Ende Juli statt, am selben Tag, an welchem Serenus zweiunddreißig Jahre alt wurde. Zum Standesamt kamen das Brautpaar, alle vier Elternteile und die Trauzeugen, nämlich Ralf und Xenia, die beste Freundin der Braut. Abends ging man zu acht vornehm essen.

Zwei Tage später stieg in Wallis Bar ein rauschendes Fest in geschlossener Gesellschaft mit mehr als zweihundert Personen. Auch seine Abteilung vom Krankenhaus kam vollzählig. Unter den Gästen befanden sich viele ehemalige Kommilitonen, Anja zum Beispiel, sowie die wichtigsten Bekannten von den After Work-Partys und natürlich zahlreiche Freundinnen und Arbeitskollegen seiner Ehefrau.

Ganz unvorbereitet traf ihn die Anwesenheit einer einzigen Person. Walli hatte den besten DJ der Stadt engagiert, der an diesem Abend die passende Musik auflegte. Dieser brachte seine schwangere Freundin mit, die soeben ihre kaufmännische Lehre abgeschlossen hatte. Sie war erst achtzehn, seit ein paar Wochen. Sie trug eine silberne Kraushaarperücke, schaute immer wieder in seine Richtung und schickte ihm winzige vertrauliche Signale. Sobald er sich von seinen Gästen freimachen konnte, begab er sich zum Mischpult, begrüßte zuerst kurz den DJ und danach Yvette, die sich lange von ihm umarmen und drücken ließ. Er fühlte ihren dicken Bauch, der sich ihm entgegenwölbte, und empfand ein gewisses Bedauern.

Sie verreisten in ihre Flitterwochen. Eigentlich wäre Serenus mit seiner Ehefrau am liebsten nach Sevilla oder nach Wien gefahren, um ihr etwas von seiner Vergangenheit zu zeigen. Sie jedoch drängte auf Strandferien und wählte Portugal als Urlaubsland, weil sie für den neuen Hausstand farbiges Geschirr und fröhliche Wäsche einkaufen wollte. Damit war er einverstanden, denn das Steingut mit den blauen und bunten Mustern erinnerte ihn an Spanien. Dafür begleitete sie ihn zu allen historischen Denkmälern, die er besichtigen wollte. Sie verbrachten drei Wochen an der Algarve und fühlten sich dort so richtig als frisch vermähltes Ehepaar.

Sein neuer Zivilstand erfüllte ihn mit verschiedenen intensiven Gefühlen, von denen zwei besonders herausragten: Verliebtheit und Stolz. Er hatte eine attraktive Frau geheiratet, die seinen sinnlichen Bedürfnissen entsprach. Er liebte ihren Anblick, ihre Stimme und ihren Geruch. Sie zu berühren, zu küssen und zu umarmen bereitete ihm Lust. Darin bestand seine Verliebtheit. Der Eintritt ins Eheleben gab ihm das Gefühl, an Bedeutung gewonnen zu haben. Jetzt ließ er seinen Status als Uniabgänger und Berufsanfänger unwiderruflich hinter sich. Nach den Flitterwochen würde er die letzte Handlung vollziehen und seine Studentenbude räumen. Er hatte es geschafft, und nichts hinderte ihn mehr daran, sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu etablieren. Die Heirat beendete somit seine Adoleszenz. Er war erwachsen geworden. Darin bestand sein Stolz.

Ungefähr ein Jahr nach der Hochzeit begannen beide Gefühle zu schwinden. Unbemerkt zuerst, aber unaufhaltsam. Nach zwei Jahren blieb nur noch ein kläglicher Rest von seiner Verliebtheit und seinem Stolz übrig. Theoretisch hatte er zwar gewusst, dass Verliebtheit ihren Glanz verliert, aber er war davon ausgegangen, dass sich an ihrer Stelle etwas Neues, vielleicht etwas Höheres, entwickeln würde.

Als zwei Jahre um waren, erregten ihn ihr Anblick, ihre Stimme und ihr Geruch nicht mehr. Sie zu berühren, zu küssen und zu umarmen, verursachte ihm lediglich ein schales Gefühl. Dies geschah, obwohl sie eine tadellose Zeit gehabt hatten. Die Wohnung war immer schöner geworden, sie waren dreimal im Jahr zusammen verreist, zweimal hatten sie ihren Urlaub zusammen mit Ralf und seiner Schwester Walli verbracht. Vor ein paar Monaten hatte er sich sogar ein eigenes Auto gekauft. Seine Frau war im Begriff, Karriere zu machen, und die Firma hatte ihr bereits ein stupendes Angebot unterbreitet. Serenus plante, noch ein, höchstens zwei Jahre im Krankenhaus zu arbeiten und sich dann etwas Neues zu suchen.

Er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen würde und er wusste ebenso, dass er darauf wartete, dass es eintrat. Da er sich nicht vorstellen konnte, wie sich die Stunde der Wahrheit zeigen würde, geriet sie ihm zur Überraschung. Es war banal. An einem Samstagmorgen nach dem Frühstück erklärte ihm seine Frau, dass die Zeit reif sei, um sich endlich nach einem Grundstück für den Hausbau umzusehen. Sie beschrieb ihm das zukünftige Haus und den Garten in allen Farben, und sie ließ nicht einmal die beiden Hunde aus, die das Grundstück bewachen sollten. Dann lächelte sie ihn an und sagte: „Ich wäre bereit für ein Kind von dir.“

Die Antwort entfuhr ihm, bevor er seine Gedanken geordnet hatte. Zu seinem eigenen Staunen, hörte er sich selber sagen: „Auch ich wäre bereit für ein Kind, aber nicht mit dir.“

Seine Ehefrau ging aus der Tür und nahm nur die Handtasche mit, die an der Klinke hing. Sie fuhr direkt zu ihren Eltern, wo sie das Wochenende verbrachte und danach noch für zwei Wochen krankgeschrieben wurde.

In der zweiten Woche klingelte eines Abends das Telefon. Serenus bemerkte sofort, dass Ralf ganz aufgeregt war, und kam gar nicht dazu, etwas von seiner Ehekrise zu sagen. Die Firma, für die er arbeitete, hatte in Los Angeles ein kleines erfolgreiches Unternehmen übernommen und schickte Ralf dorthin, um die neue Tochter in den Mutterkonzern zu integrieren. Er rechnete damit, dass er zwei oder drei Jahre drüben bleiben würde, länger wahrscheinlich nicht. Serenus sagte nicht viel dazu, sondern dachte bei sich, dass er nun Frau und Freund gleichzeitig verlor.

Serenus II

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