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Die Mutter 2000 - 2001

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An einem Freitagabend, als Serenus, der länger gearbeitet hatte, nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Der Vater bat ihn nachdrücklich, sich zu melden. Serenus rief sofort zurück, aber das Besetztzeichen erklang. Während er wartete, dass der Vater sein Gespräch beendete, bekam er schlechte Laune, weil ihm die bevorstehende Scheidung einfiel. Es mussten eine Menge Papiere angefertigt werden: Scheidungsbegehren und -vereinbarung, Einkommens- und Vermögensnachweise. Er benötigte einen Anwalt, für den er ebenso würde zahlen müssen wie für den Prozess. Er glaubte nicht, dass er die Scheidung noch dieses Jahr hinter sich bringen würde. Die ganze Heiratsprozedur hingegen hatte nur sechs Wochen gedauert. „Eigentlich müsste es genau umgekehrt sein“, dachte Serenus. „Man müsste ein Jahr lang mit den Anwälten um die Eheerlaubnis kämpfen, aber die Scheidung bekäme man in sechs Wochen.“

Er nahm das Telefon und drückte die Repeat-Taste.

„Soeben habe ich aufgelegt“, sagte der Vater. „Ich habe mit deinem Bruder telefoniert. Er fährt jetzt gleich los und übernachtet bei uns. Du musst morgen auch kommen, wenn es dir möglich ist. Dann können wir beim Frühstück alles besprechen.“

Wenn der Bruder gleich losfuhr, das wusste Serenus, dann war mit der Mutter etwas nicht in Ordnung.

„Was ist eigentlich los?“, fragte er. „Ist etwas mit Mutter? Soll ich auch heute Abend noch kommen?“

„Für dich ist es kein weiter Weg. Komm morgen. Die Mutter liegt nicht im Sterben.“

„Aber was hat sie denn?“, rief Serenus.

„Sie war am Dienstag zur Routineuntersuchung beim Hausarzt. Er hat Knoten in den Lymphdrüsen entdeckt und sofort Blutanalysen gemacht. Am Mittwoch wurde Gewebe entnommen. Heute haben sie uns in der Klinik den Befund mitgeteilt. Es ist ein aggressiver Tumor. Sie wissen nicht, ob er sich schon ausgebreitet hat. Auf jeden Fall müssen die Knoten entfernt und danach muss eine Chemotherapie eingesetzt werden.“

Serenus wusste nicht, was er dazu sagen sollte. „Was für ein Elend“, dachte er. „Die Mutter ist fünfundsiebzig Jahre alt und hat diese Torturen vor sich. Ob sie überhaupt etwas nützen werden?“

Als ob er erraten hätte, was Serenus durch den Kopf ging, fuhr der Vater fort: „Chemotherapie ist heute nicht mehr so extrem wie vor zehn Jahren. Es hilft auf jeden Fall, auch dann, wenn die Mutter nicht mehr lange zu leben hat. Wenn man zulässt, dass sich der Krebs unkontrolliert verbreitet, wird alles viel schlimmer. Eigentlich wäre sie robust und gesund, wenn die Tumore nicht wären. Man merkt ihr überhaupt nichts an. Die Operation und die Chemotherapie werden ihr nicht allzu viel anhaben können. Sie will diese erste Runde mitkämpfen, sagt sie.“ Serenus konnte hören, wie der Vater leer schluckte: „Sie sagt, nur eine Runde, keine zweite.“

„Eine Runde kämpfen. Das passt zu ihr“, dachte Serenus, „es ist eine Anstandsrunde, eine Ehrenrunde. Die Mutter ist keine Kämpfernatur. Wenn sie für eine Runde den Kampf aufnimmt, dann nur, weil sie weiß, dass sie ihn schon verloren hat. Dass sie den beflissenen Ärzten entgegenkommt, ist eine ihrer letzten großen Gesten.“

„Der Arzt gab mir zu verstehen“, sagte nun der Vater, „dass manche Krebspatienten sich ihren Angehörigen zuliebe der Behandlung unterziehen.“

Eine halbe Minute lang fiel kein Wort. „Du hast noch kaum etwas gesprochen“, sagte der Vater.

„Ich will sie weder krank noch tot. Vielleicht ist die Mutter ja in ein paar Wochen wieder ganz gesund. Ich werde um zehn Uhr bei euch sein. Kann ich noch kurz mit ihr sprechen?“

„Sie hat ein Schlafmittel genommen. Ich würde sie nicht wach kriegen. Ich werde auch gleich eines nehmen.“

„Dann schlaft gut. Wir sehen uns ja morgen.“ Serenus legte auf.

Was sollte er jetzt tun? Mit wem konnte er sprechen? Der Bruder war sicher schon im Auto unterwegs. Seine Ehefrau fiel ihm ein. Wenn er ratlos gewesen war, hatte sie stets die Ruhe bewahrt und immer die richtigen Worte gefunden.

„Im Augenblick kannst du gar nichts tun“, hätte sie gesagt, „heute Abend nicht, und auch morgen wirst du nicht viel unternehmen können. Du weißt nicht, was auf dich zukommt. Aber du wirst tun, was du tun musst, Schritt für Schritt.“

Aber sie würde er zuletzt anrufen, egal, was passierte. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sich schon zwei Wochen nach ihrem Auszug bei ihr meldete. Womöglich würde er sich hinterher noch schlechter fühlen.

Um fünf Uhr früh war Serenus wach, er hätte jedoch gerne weitergeschlafen. Die Müdigkeit bereitete ihm körperliche Schmerzen. Wenn er wenigstens klar denken könnte. Er hatte so viele Dinge zu erledigen und brauchte einen Plan, was er anpacken musste und in welcher Reihenfolge.

Sein dringendstes Problem war die Arbeit im städtischen Krankenhaus. Er war jetzt seit über vier Jahren Leiter der Administration und steckte in einer beruflichen Sackgasse. Als Erstes musste er die Suche nach einer neuen Stelle in Angriff nehmen. Am Montag wollte er um ein Zwischenzeugnis bitten und bis zum Monatsende die Kündigung einreichen.

Auf die Behandlung der Mutter hatte er keinen Einfluss. Die Ärzte würden den Ablauf bestimmen. Sie würden die Mutter sehr schnell operieren, dann ein paar Wochen warten, die erste Chemotherapie durchführen, wieder ein paar Wochen warten, die zweite Chemotherapie durchführen und so weiter.

Während der nächsten Monate würde er mit Bewerbungen und Krankenbesuchen ausgelastet sein. Folglich musste die Scheidung warten, bis er eine neue Stelle hatte und die Mutter über den Berg war. Auch die Suche nach einer anderen Wohnung konnte er vorläufig vergessen. Es würde womöglich ein halbes Jahr vergehen, bis er sich mit seiner Scheidung und mit der neuen Wohnung befassen konnte. Die Aussicht so lange hier bleiben zu müssen, wo er mit seiner Ehefrau gelebt hatte, deprimierte ihn.

Das Zwielicht des anbrechenden Tages tauchte das Zimmer in graues Halbdunkel. Serenus lag auf dem Rücken, betrachtete die Silhouette seiner Hand und schloss sie zur Faust.

Er hob den Daumen: „Ich muss eine neue Arbeit suchen.“

Er streckte den Zeigefinger: „Mutters Krankheit.“

Er öffnete den Mittelfinger: „Die Scheidung anpacken.“

Er bewegte den Ringfinger: „Umziehen. Hier bleibe ich nicht. Ich brauche eine andere Wohnung und eine neue Einrichtung.“

Aber was blieb ihm dann, wenn er all das hinter sich gebracht hatte, zu tun übrig? Eine neue Partnerin suchen?

Er fixierte den kleinen Finger und sagte: „Liebe.“

Er begann nochmal von vorne, ging seine Finger durch und prägte sich seine fünf Vorhaben in dieser Reihenfolge ein: „Arbeit, Mutter, Scheidung, Einrichtung, Liebe.“ Immer wieder betete er die kleine Litanei aus den fünf Wörtern herunter. Am Ende sagte er nur noch die Anfangsbuchstaben auf. Er zählte seine Finger und buchstabierte: „A, M, S, E, L.“

Plötzlich gewahrte er den Lärm, der in sein Zimmer drang. Vom Baum, der vor dem offenen Fenster stand, schmetterte eine Amsel ihre Strophen. Erst jetzt erkannte Serenus in den fünf Lettern den Namen des Vogels. Jeden Morgen und jeden Abend würde ihn die Amsel an seine Agenda erinnern.

Serenus nahm zwei Schmerztabletten und zwei Multivitamindragees. Er duschte und rasierte sich, aß ein Stück Brot und eine halbe Tafel Schokolade, dazu trank er vier Tassen Kaffee. Er setzte sich an sein Notebook, schrieb seinen Lebenslauf neu und sah seine Bewerbungsunterlagen durch. Bei Amazon bestellte er zwei Bücher, eines über Stellensuche im Internet und eines über das Vorstellungsgespräch. Er besorgte sich drei Tageszeitungen und schnitt alle Stellenanzeigen aus, die ihn beeindruckten. Er studierte die Anforderungsprofile und stellte eine Liste mit seinen 10 Trümpfen auf:

Zwei Universitätsabschlüsse

Betriebswirtschaftliche Praxis

Führungserfahrung

Informatikkenntnisse

Fremdsprachen

Das beste Alter

Ungebunden

Nachgewiesene Firmentreue

Ungekündigte Stellung

Gute Referenzen

Alles zusammen, die Tabletten, der Kaffee, die Schokolade, seine Initiative und vor allem seine eigenen Top Ten, hatten sein Befinden verbessert. Aber als er den Motor seines Autos startete und losfuhr, fielen ihm die Mutter und das bevorstehende Familientreffen wieder ein, und er wünschte sich, er wäre ausgeruht. Da er früh dran war, beschloss er, nur das erste Stück auf der Autobahn und den Rest auf der Landstraße zu fahren. Er gönnte sich sogar einen Umweg durch die Hügel.

Er überquerte eine Anhöhe und fuhr auf der anderen Seite ins Tal hinunter, als er unerwartet ein riesiges Feld mit blühenden Gladiolen erblickte. Blumen zum Selberschneiden. Jetzt fiel ihm ein, dass er mit leeren Händen zur kranken Mutter unterwegs war. Er ließ den Wagen auf dem Schotterweg ausrollen und holte sein Schweizer Taschenmesser aus dem Handschuhfach. Er betrat das Feld und schritt durch die Blumen, die in allen möglichen Farben leuchteten. Die Masse der üppigen Blüten kam ihm wie ein Wunder vor. Er schnitt einen ganzen Arm voll ab, ohne auf die Farben zu achten. An der Zufahrt stand der „Opferstock“, in dessen Schlitz er einen Geldschein steckte. Der mächtige Strauß, den er der Mutter mitbringen würde, erfüllte ihn mit Stolz.

Serenus fand den Besuch bei den Eltern seltsam. Beide, der Vater und die Mutter, waren ungewohnt lebhaft, so als ob sie die Eingriffe und Behandlungen als ein Abenteuer betrachteten. Er befürchtete, dass noch Sätze fallen würden wie „Das muss man einfach einmal selber erlebt haben“, „Man wird ja schließlich nicht jeden Tag bestrahlt“ oder „Die Nähe zum Tod bringt einen auch dem Leben näher“.

Die fünfundsiebzigjährige Mutter hatte eine gute Hautfarbe, leuchtende Augen und sah eben aus wie eine Seniorin, der man noch immer ansieht, wie attraktiv sie einmal gewesen war. Immer wieder musterte sie voller Zärtlichkeit ihre beiden Söhne, so als ob sie demnächst zweifache Großmutter werden würde. Der Vater, zehn Jahre älter als die Mutter, hielt sich aufrecht wie ein Sportler auf dem Siegerpodest und redete fast unentwegt. Er hatte sich in den letzten Tagen bereits ein enzyklopädisches Wissen über follikuläre Lymphome angeeignet und sprach von Immunglobulinen und Glukokortikoiden.

Konkret war folgendes geplant: Zuerst würde man an der Universitätsklinik die Knoten entfernen. Sobald sich die Mutter vom Eingriff erholt hatte, würden die beiden nach New York reisen und dort eine Woche Urlaub machen. Anschließend würde die Mutter in einer privaten Klinik an der Ostküste untergebracht und einer kombinierten Chemotherapie unterzogen. Auf dem Heimweg versuchte Serenus sich zu erinnern, ob die Klinik in Massachusetts oder in New Jersey lag, aber es fiel ihm nicht mehr ein. Er würde auf jeden Fall für eine oder zwei Wochen hinfliegen. Einen indian summer in den USA wollte er sich nicht entgehen lassen. Er bewunderte die beiden dafür, dass sie aus dieser morbiden Angelegenheit etwas Besonderes machten. Gleichzeitig erleichterte es ihn, die Mutter in den USA zu wissen, da ihn das von der Pflicht zu täglichen Besuchen befreite. Allerdings hatte sie noch nie in einem Flugzeug gesessen. Dass sie nun diese Reise machte, erschien ihm als ein böses Omen, so als ob sie die letzte Gelegenheit ausnützen müsse.

Zwischen Gabelfrühstück und Kaffee und Kuchen spazierten Serenus und der Bruder den Fluss entlang. Dieser war redselig und schwelgte im Erfolg. Seine Rechnung, Katholizismus mal Politik, war aufgegangen. Er war seit einem Jahr Hauptabteilungsleiter des Jugendstrafvollzugs und damit direkt dem Justizminister unterstellt. Um auf der Leiter in ein noch höheres Amt hinaufzusteigen, würde er vom Landtag gewählt werden müssen.

Nach der Linzer Torte verabschiedete sich Serenus, ohne dass ihn jemand nach seiner Arbeit oder seiner Scheidung gefragt hätte. Er nahm dieselbe Strecke, fuhr zum zweiten Mal an dem fröhlichen Gladiolenfeld vorbei und hielt bei einem Supermarkt, um Lebensmittel für das Wochenende zu besorgen.

Zehn Tage später besuchte Serenus die Mutter in der Universitätsklinik. Die Entfernung der Lymphdrüsen war kein großer Eingriff gewesen. Man hatte ihr dennoch starke Medikamente gegeben. Sie war etwas benommen und gleichzeitig ein wenig high. Serenus bemerkte ihre Erleichterung darüber, dass sie von den bedrohlichen Geschwüren befreit worden war. Sie berichtete ihm ausführlich von der Aufnahme am Vortag, von den Untersuchungen und der Visite des Chirurgen. Sie habe zwar nichts Richtiges zu essen bekommen, aber dafür eine Spritze, von der sie sofort eingeschlafen sei. Vom heutigen Vormittag und von der Operation habe sie so gut wie nichts mitbekommen. Sie habe etwa eine Stunde lang im Aufwachraum gelegen und wohl auch ein wenig geweint, bis der Anästhesist sicher gewesen sei, dass ihr Kreislauf stabil war. Dann sei sie wieder eingeschlafen und beim nächsten Erwachen habe der Vater neben ihrem Bett gesessen, bis Serenus gekommen sei, um ihn abzulösen. Die Mutter war von den Ereignissen der letzten Stunden ausgefüllt und interessierte sich nur dafür, was die Ärzte und Pfleger mit ihr anstellten. Serenus blieb bis kurz vor Mitternacht. Während des ganzen Besuches dachte er daran, dass er in ein paar Monaten einen neuen Job antreten würde. Aber das musste er jemand anderem erzählen.

Einige Tage später erhielt er einen Brief von der Anwältin seiner Ehefrau. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich vertreten lassen würde. Die Anwältin bat ihn, er möge ihr seinen Anwalt nennen, damit sie in Verhandlung treten könnten. Er rief umgehend seine Ehefrau an und fragte sie, was das solle. Sie war gar nicht gesprächig und antwortete nur, dass alle ihre Freundinnen ihr dazu geraten hätten. Serenus sagte kein weiteres Wort und legte gleich wieder auf. Also fragte auch er in seinem Bekanntenkreis herum und fand einen Anwalt, der als erfahren und hartnäckig galt.

Inzwischen waren die Eltern in die USA gereist. Serenus hatte Urlaub bekommen und flog an die Ostküste, wo er in einem Hotel in unmittelbarer Nähe der Klinik unterkam. Die Chemotherapie der Mutter wurde nach den neuesten Erkenntnissen durchgeführt. Die Ärzte bekämpften die Nebenwirkungen der Medikamente mit demselben Ehrgeiz, mit welchem sie gegen den Krebs vorgingen.

Sie erlaubten der Mutter alles, was sie wollte, auch spazieren gehen, ans Meer fahren oder zum Essen ausgehen. Aber an den meisten Tagen hatte sie keine Kraft dafür. Dann ließ sie ihr Bett auf den Balkon fahren, wo sie über die Wiesen und Wälder bis auf den Atlantik blicken konnte. Serenus glaubte zuerst, sie sei genauso gelassen und unerschütterlich wie vor der Operation. Aber bald bemerkte er, dass die Mutter ihre Unruhe lediglich verbarg. Er sah das Flackern in ihrem Blick, er bemerkte, wenn sie dem Gespräch nicht folgte und den Faden verlor. Sie schickte ihn weg, weil sie ein wenig ausruhen müsse, aber in Wirklichkeit wollte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Der Vater ging immer noch der Onkologie auf den Grund, besonders der Behandlung von Lymphomen. Er verbrachte täglich viele Stunden in der Bibliothek der Klinik und las ein Fachbuch nach dem anderen. Zu seiner Enttäuschung wollte keiner der Ärzte wissenschaftliche Debatten mit ihm führen. Manchmal hielt er Serenus einen kleinen Vortrag und fragte ihn nach seiner Meinung dazu.

An manchen Tagen nahm Serenus den Mietwagen und fuhr die Küste entlang oder durch die Hügel im Westen. Wenn er alleine war, fühlte er, wie sehr ihn die Situation belastete. Die Eltern ließen sich nicht anmerken, was sie durchmachten. Sie äußerten sich nicht zu ihren Ängsten und Wünschen, zu Leid und Hoffnung. Als Serenus nach zwei Wochen wieder abreiste, fühlte er sich erschöpft und freudlos.

Als er seinem Anwalt einen zweiten Besuch abstattete, trug dieser Sorgenfalten zur Schau. Er legte Serenus den Scheidungsvertrag vor, den die Gegenpartei aufgesetzt hatte. Aber ohne eine Zeile zu lesen, schob dieser das Papier weit von sich weg und fragte: „Können Sie in einem Satz sagen, was da drinsteht?“

„Unverschämtheiten. Sie müssen das rundweg ablehnen.“

„Können wir auch unverschämt werden?“, fragte Serenus.

Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Wir müssen einen Gegenvorschlag machen, der sich ganz akribisch an die übliche Rechtsprechung hält. Wenn der Richter zwischen diesem Phantasievertrag“, er deutete auf die Blätter, „und unserem Gegenvorschlag entscheiden muss, wird er gar nicht erst nachdenken. Wir werden sorgfältig rechnen und argumentieren. Wenn die Gegenseite merkt, dass wir uns auf kein sinnloses Gemetzel einlassen, werden sie wahrscheinlich von selber vernünftig. Diese Anwältin kennt mich ziemlich gut. Vermutlich hat sie zu Ihrer Ehefrau gesagt: ‚Wir testen mal, wie naiv Ihr Ehemann ist.‘“

„Was sagt denn die übliche Rechtsprechung zur Sache?“, wollte Serenus wissen.

„Ich habe Ihre Unterlagen durchgesehen. Während Ihrer Ehe hatten Sie ein höheres Erwerbseinkommen und dementsprechend höhere Rentenbeiträge als Ihre Ehefrau. Darauf stützt die Anwältin ihre Forderungen. Aber das Vermögen Ihrer Ehefrau ist in den drei Jahren ganz schön gewachsen. In Ihrem Ehevertrag fällt der Vermögensgewinn unter die Gütertrennung. Ihre Ehefrau hatte unter dem Strich mehr Einkünfte als Sie. Damit kommen wir beim Gericht in jedem Fall durch.“

Er machte eine Pause und sah Serenus fragend an. Als dieser sein Einverständnis zeigte, fuhr er fort: „Ihr Schwiegervater hat sie beerbt. Statt einer Mitgift bekamen Sie ein vorgezogenes Erbe. Ihr Schwiegervater bestand darauf, diese Erbschaft vor der Eheschließung zu vollstrecken. Eine solch ungewöhnliche Regelung ist mir noch nie begegnet. Wie auch immer, die Gegenseite kann Ihnen weder das Erbe noch die Nutznießung daraus als Vermögensgewinn anlasten.“

„Wie geht es nun weiter?“, fragte Serenus.

„Ich werde die Eingabe ans Gericht vorbereiten. Wenn uns die Gegenpartei nicht entgegenkommt, reichen wir sie als Klage ein.“

„Wie teuer kommt mich eigentlich das Ganze zu stehen“, erkundigte sich Serenus?“

„Mein Honorar müssen Sie vorher bezahlen. Erst danach reiche ich die Scheidung ein. Mit einem Monatsgehalt werden Sie hinkommen. Die Gerichtskosten richten sich nach Ihren Verhältnissen, und das Gericht gibt Ihnen erst einen Termin, wenn Sie die Gebühren beglichen haben.“

„Und die Gegenpartei?“ Serenus verfiel bereits in den Slang des Anwaltes.

„Falls das ein Trost für Sie ist: Wegen des Vermögens Ihrer Ehefrau wird die Anwältin ein höheres Honorar fordern. Auch dass sie die Sache so aufwändig angeht, wird sie berechnen.“

„Sorgen Sie dafür, dass es vorangeht. Ich lasse Ihnen freie Hand. Informieren Sie mich nur, wenn es nicht nach Plan läuft.“

Der Anwalt lächelte. „Dann sehen wir uns erst vor Gericht wieder.“

Ein halbes Jahr später begab sich Serenus im Frühling mit der Mutter auf eine Reise in die Schweiz. Nie zuvor hatte er sie so unternehmungslustig und lebenshungrig erlebt. Die letzte Kontrolluntersuchung war positiv verlaufen. Der Krebs schien vollständig verschwunden zu sein. Ihre Heiterkeit war ansteckend. Im Hotel Schweizerhof in Luzern schäkerte sie mit dem Rezeptionisten, dem Oberkellner und dem Barpianisten. Sie beobachtete das Federvieh auf dem Vierwaldstättersee und lachte Tränen über die aufgeplusterten Schwäne, die ordinären Möwen und die aufgeregten Blässhühner. Serenus wusste nicht, ob er wegen der albernen Wasservögel mitlachte oder angesichts der Freude der Mutter.

Sie waren ohne Plan und feste Route losgefahren. In Luzern geriet die Mutter nun in solche Begeisterung, dass sie unbedingt die anderen Seen besuchen wollte. Der Gegensatz faszinierte sie: die ruhende Weite des Wasserspiegels, umgeben von schroffen Bergflanken und düsteren Abgründen. So reisten sie nach Interlaken und nach Lausanne. Auf der anderen Seite der Alpen gab es weitere Seen und die Mutter wollte auch diese sehen. Über Aosta gelangten sie zum Lago Maggiore, zum Lago di Lugano und schließlich nach Como. Die Hänge standen voll von blühenden Sträuchern. Das Blutrot der Kamelien mischte sich unter die Pastellfarben der Hortensien. Für Serenus war der italienische Frühling eine Wohltat. Für ein paar Tage konnte er sich von Arbeit und Scheidung ablenken. Der eintönige Alltag im Krankenhaus und die anstehende Gerichtsverhandlung belasteten ihn sehr. Er hätte sich gerne der Mutter anvertraut, aber er fand keine passende Gelegenheit dafür. Es gab keine Verbindung zwischen den beiden Sphären. Die Mutter stand ganz im Banne ihrer Sinne. Sie wollte kein Bild, keinen Klang und keinen Duft verpassen.

Sie schlenderten zusammen durch die Gassen von Como, saßen in den Straßencafés und ließen sich von der Sonne wärmen. Italien brachte Serenus zum Träumen und er hing den alten Erinnerungen nach. Er dachte an das Hotel, wo er einen Sommer lang gejobbt, und an den Vatikan, wo er den Bruder besucht hatte. Er sah sich nach Venedig fahren, um Laura zu finden. Er stellte sich vor, dass Rosanna ganz in der Nähe war, vielleicht in Mailand, das nur noch eine halbe Stunde entfernt lag. Immer wieder musterte er die zierlichen Italienerinnen, die schwatzend und lachend vorbeigingen. Ihm gefiel, wie sie ihre dunklen Locken schüttelten. Die Mutter bestellte zwei Gläser Prosecco, um mit ihm anzustoßen. Sie prostete ihm zu und sagte: „Jetzt bist du wieder ganz der Alte. Du hast den ganzen Tag den Mädels nachgeguckt.“

Auf dem Rückweg in die Heimat schlugen sie einen Bogen nach Osten. Sie fuhren den Inn entlang durch das Engadin nach Österreich. Als sie ins Tirol gelangten, wandten sie sich wieder nach Westen auf das Arlberg zu. Es war die Mutter, die entdeckte, dass der Fluss, dem sie nun folgten, Rosanna hieß.

„Ich denke hin und wieder an Rosanna“, seufzte sie. „Was wohl aus ihr geworden ist?“

„Weißt du“, antwortete Serenus, „in Como dachte ich dauernd, Rosanna könne jeden Augenblick um die Ecke kommen.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Falls ich sie überhaupt wiedererkennen würde, nach bald zwanzig Jahren.“

Am Abend in Bregenz war die Mutter plötzlich unpässlich. Im Restaurant wurde ihr schwindlig und sie beklagte sich über die schummrige Beleuchtung. Sie konnte die Speisekarte kaum lesen. Serenus erschrak, denn die Beleuchtung war, wie er fand, eher zu grell. Er versuchte die Mutter zu beruhigen: „Die Reise war anstrengend. Der Maloja war zweitausend Meter hoch. Du bist bald sechsundsiebzig Jahre alt. Wir können ja einen Tag am Bodensee bleiben, damit du dich ausruhen kannst.“

Aber auch am nächsten Tag hatte die Mutter Probleme mit den Augen, so als ob Flecken ihr die Sicht verdeckten. Sie rief sogar ihren Augenarzt an und bekam einen Termin für den übernächsten Tag. So machten sie sich auf den Heimweg. Die Mutter war schweigsam und Serenus geriet ins Grübeln. Während er über alle denkbaren Augen- und Nervenleiden nachdachte, dämmerte ihm allmählich, dass die schlimmste aller Möglichkeiten eingetreten war. Die Mutter hatte Sehstörungen, weil sich Metastasen in ihr Hirn fraßen. Auf einmal war er froh, dass er mit der Mutter all diese Seen und Landschaften besucht hatte.

Er fing an zu sprechen und erzählte der Mutter von ihrer gemeinsamen Reise. Wie sie den Vögeln auf dem See zugeschaut hatten. Wie sie in Interlaken gefroren und in Lausanne die Kathedrale bestaunt hatten. Er bekannte, dass ihm in Italien das Herz aufgegangen war. Er schwärmte von den Farben der Kamelien und Hortensien, von Kleidung und Duft der kessen Italienerinnen. Serenus redete und redete. Manche Erlebnisse gab er mehrmals wieder. Er schrieb alles in sein Gedächtnis, denn er wusste, dass es das letzte Mal gewesen war. Die Mutter würde nie wieder auf Reisen gehen. Serenus erzählte ihr von der gemeinsamen Reise, damit er nicht darüber nachdenken musste, was bald geschehen würde.

Bald blühten die Gladiolen wieder. Soviel Zeit war seither vergangen. Als ob es gestern gewesen wäre, hörte Serenus die Stimme des Vaters am Telefon: „Sie will diese erste Runde mitkämpfen, sagt die Mutter. Sie sagt, nur eine Runde, keine zweite.“ Und jetzt mussten sich alle drei Männer dem Willen der Mutter fügen, der Vater, der Bruder und Serenus selbst. Sie hatte sich der Operation und der Chemotherapie unterzogen. Das war ihre erste Runde gewesen. Und ihre letzte. Die Mutter hatte gewusst, dass es keine zweite Runde mehr geben würde.

Der Augenarzt, der die Mutter nach ihrer Rückkehr untersucht hatte, war sofort aufmerksam geworden. „Sie haben die Augen eines jungen Mädchens“, sagte er. „Wenn Ihre Sicht getrübt ist, dann müssen wir im Hirn weitersuchen.“ Als ihm die Mutter ihre ganze Geschichte erzählt hatte, dachte er nicht lange nach. „Das ist gar nicht gut. Besser, Sie machen sich auf das Schlimmste gefasst.“

Die Mutter ließ die Ärzte abblitzen. Sie wollte weder eine Diagnose noch eine Therapie. Serenus war glücklich, dass der Vater sie voll und ganz unterstützte. Sie sollte nie wieder in eine Klinik gehen. Man konnte zuhause ohne großen Aufwand im Erdgeschoss ein Krankenzimmer einrichten und ein Spitalbett mitsamt der notwendigen Apparaturen herbeischaffen. Man engagierte eine erfahrene Krankenschwester und fand einen Onkologen, der Hausbesuche machte, wenn man seine Honorare akzeptierte.

Es war offensichtlich. Serenus sah, dass sich der Verlauf der Krankheit täglich beschleunigte. Nach zwei Wochen erhob sich die Mutter nicht mehr von ihrem Krankenbett und verlor gänzlich den Appetit. Inzwischen breiteten sich die Metastasen in den Knochen aus und quälten die Mutter mit schrecklichen Schmerzen. Der Arzt kam jeden Tag auf die Minute genau zur selben Zeit. Als er die Mutter schreien hörte, fügte er der Infusion zwei Ampullen Morphium bei. Zwei weitere Ampullen gab er dem Vater. „Wir werden sie nicht leiden lassen“, sagte er zu ihm.

Das zerstörte Hirn, das Siechtum und die Drogen bewirkten, dass die Mutter in eine andere Welt hinüberglitt. Sie verlor den Verstand. Eine Woche, bevor sie starb, kam sie ein letztes Mal zu sich. Als Serenus sie nach der Arbeit besuchte, schlief sie oder dämmerte im Morphinrausch dahin. Er nahm den Lappen aus der Wasserschale, benetzte ihre trockenen Lippen und wusch ihr das Gesicht. Sie war so abgemagert, dass er den Schädel durch die Haut erkennen konnte.

Er stellte einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Die Mutter rührte sich nicht und atmete ganz gleichmäßig. Ihre Ruhe übertrug sich auf Serenus. Er betrachtete ihren Schlaf und fiel in einen Zustand völliger Gedankenlosigkeit. Er dachte weder an das Leben, dass zu Ende ging, noch an das Nichts, das dem Leben folgen würde. Ohne dass er es bemerkte, verlangsamten sich seine Atemzüge und glichen sich denjenigen der Mutter an. Er kam wieder zu sich, als sie erwachte.

Sie flüsterte: „Bitte halten Sie mir ein wenig die Hand.“ Serenus streichelte ihre Hand und sprach zu ihr. Er erklärte ihr, dass er von der Arbeit gekommen sei und dass er schon eine ganze Weile hier gesessen habe, während sie schlief. Plötzlich kicherte sie lautlos.

„Ich weiß es. Du bist gar kein Sie. Ich weiß, wer du bist. Mit dir will ich bald wieder nach Italien reisen. Ich darf nicht endlos im Bett liegen. Die Zeit vergeht ohne Nutzen. Ich weiß gar nicht, was ich schon alles verpasst habe.“

Sie sprach ohne Stimme und Serenus konnte kaum verstehen, was sie sagte. Dann sagte sie plötzlich leise, aber deutlich: „Ich habe eine Runde gekämpft. Jetzt bekomme ich Morphium. Das ist ein schlimmes Zeichen. Alles ist so seltsam.“

Sie verfiel wieder in ihr Flüstern: „Wann fahren wir nach Como? Wann kann ich wieder aufstehen? Willst du schon mal alles vorbereiten?“

Bevor Serenus antworten konnte, war sie wieder eingeschlafen. Es war das letzte Mal, dass sie ihn erkannt hatte.

Bei seinen folgenden Besuchen war sie verwirrt und hatte keinen Zugang zur Realität. Sie begriff nicht mehr, was mit ihr geschah. Die Metastasen hatten das Sehzentrum zerstört, so dass sie vollständig blind geworden war. Sie ängstigte sich vor der Dunkelheit, die sie umgab, und verstand die Ursache nicht. Sie wolle nicht die ganze Zeit im Finstern liegen, jammerte sie unentwegt. Man solle doch endlich ein Licht anmachen, flehte sie immer wieder. Warum es dauernd so dunkel sei, fragte sie ein ums andere Mal. Serenus redete ihr gut zu und hielt ihre Hand, aber sie nahm niemanden mehr wahr. Ihr Jammern und Bitten richtete sich an ein rätselhaftes Publikum, das allein in ihrem Kopf existierte.

Eines Nachts erwachte Serenus, weil etwas vorging, das ihm unbekannt war. Er lag in seinem Bett, den Blick zum Fenster gerichtet. Es musste zwischen vier und fünf Uhr sein, denn der Himmel war nicht mehr ganz schwarz und man konnte die ersten verhaltenen Vogelstimmen hören. Er überlegte, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hatte etwas vernommen, das einem Scharren oder Pochen ähnlich war. Er nahm eine Unruhe wahr, die nicht von ihm selber ausging. Es kam ihm so vor, als ob jemand in Eile sei. Im ganzen Haus herrschte aber Totenstille. Die Ahnung kam von weit her. Jetzt fühlte er, dass ein Mensch sich aufmachte, sich aufrichtete, sich zur Wehr setzte, sich zusammenkrümmte, sich fallen ließ.

„Also stirbt jetzt die Mutter“, dachte Serenus. Er erhob sich, trat zum Fenster und sah zum fahlen Himmel im Osten. Mit der Zeit verklangen die Empfindungen, so wie ein Gewitter, das schon längst weitergezogen, immer noch am Horizont entlang irrt. Er harrte am Fenster stehend aus, bis schließlich die Erschütterungen ganz verstummt waren. Er kehrte in sein Bett zurück und lauschte seinen eigenen Atemzügen. So lag er eine Stunde lang in sich gekehrt, weder wach noch schlafend, mit nichts beschäftigt, erfüllt von der Wärme, die ihn einhüllte.

Bevor der Tag anbrach, stand er auf, duschte und rasierte sich, kleidete sich an und frühstückte eine Kleinigkeit. Kurz vor sieben Uhr rief der Vater an, um ihm mitzuteilen, dass die Mutter im Schlaf gestorben sei. Die Nachtschwester habe nichts bemerkt. Es könne nicht lange her sein, denn der Körper sei noch warm. Serenus erwiderte, dass er schon seit einer geraumen Zeit auf sei und im Begriff, das Haus zu verlassen.

Wenn es in der ersten Junihälfte nochmals richtig kalt wird, ist oft von der so genannten Schafskälte die Rede. Am Morgen der Beerdigung herrschten fünf Grad Celsius. Aus düsterem Himmel fiel Regen und Windstöße fuhren unbarmherzig durch den Friedhof. In der Kapelle war es so kalt, dass die Trauergäste die Mäntel anbehielten. Der Theologe, der die Ansprache hielt war der Bruder. Wegen des scheußlichen Wetters verlief die Zeremonie am Grab etwas hastig. Der Bruder leierte die Liturgie herunter, die Gäste warfen mit der einen Hand Blumen und Erde auf den Sarg, während sie mit der anderen den Griff des Regenschirms festhielten. Nach ein paar Minuten machte man Schluss und begab sich zur Vesper in das nahegelegene Gasthaus.

Die Tage nach der Beerdigung blieben kalt und es regnete ohne Unterlass. Serenus fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. Er dachte ununterbrochen an die tote Mutter. Er hätte jedoch nicht mit Sicherheit sagen können, dass sie ihm fehlte, aber ebenso wenig, dass sie ihm nicht fehlte. Ein ähnliches Problem hatte er mit seiner Arbeit. Was er im Krankenhaus tat, war völlig sinnlos, dachte er. Aber ebenso sinnlos erschien ihm, es nicht zu tun.

Je näher der Gerichtstermin rückte, umso unwirklicher kam ihm seine Scheidung vor. Er versuchte erst gar nicht, sich an sein Eheleben zu erinnern. Er war davon überzeugt, dass er alles vergessen hatte, was von Bedeutung gewesen war. Seine Ehefrau war ihm so gleichgültig geworden, dass er annehmen musste, sie habe ihm auch vorher nicht viel bedeutet.

Er suchte seinen Anwalt auf, um ihm darzulegen, dass er bei der Verhandlung so wenig wie möglich sprechen wolle, nicht mit dem Richter und schon gar nicht mit seiner Ehefrau. Außerdem sei er nicht zum geringsten Kompromiss bereit. Jede Forderung seitens der Ehefrau sei illegitim. Offensichtlich freute sich der Anwalt über seine Haltung.

„Lassen Sie mich nur machen. Ich werde Ihnen ein Papier mit meinen Argumenten geben und Sie lesen mit, was ich vorbringe. Dem Gericht antworten Sie nichts, was nicht auf dem Papier steht.“

„Sie wissen, was auf uns zukommt?“

Der Anwalt antwortete: „Natürlich kenne ich den Richter vom Gericht, aber auch noch vom Studium. Er gilt als inkompetent und neurotisch. Aber er kompensiert es mit peinlicher Akribie. Ich werde ihm deshalb genug Präjudize auftischen, dass er sich mit einem Urteil in unserem Sinn sicher fühlt. Er wird denken, dass nichts schiefgehen kann, wenn er unserem Kurs folgt.“

„Wird eine Verhandlung ausreichen?“, wollte Serenus wissen.

„Es sieht nicht nach Vertagung aus, so wie der Fall angelegt ist und so, wie die Aktenlage aussieht. Der Richter wird verfügen und Sie können sich an die nächste Instanz wenden, wenn Ihnen das Urteil ungerecht erscheint.“

Serenus erhob sich. „Ich bin froh, dass Sie mir diese Bürde abnehmen. Die Sache ist es nicht wert, Energie hineinzustecken“, sagte Serenus und reichte dem Anwalt die Hand. Als er das Gebäude verlassen wollte, stellte er fest, dass er seinen Regenschirm oben in der Kanzlei hatte stehen lassen.

Es ging auf Weihnachten zu und das Gefühl der Sinnlosigkeit wurde mit jedem Tag stärker. Serenus konnte nicht begreifen, dass seine Mutter tot, er aber immer noch verheiratet war. Dazu kam seine Arbeit, die im immer schwerer fiel. Doch dann geschah etwas, was ihm im Traum nicht eingefallen wäre. Als Leiter der Administration war er im städtischen Krankenhaus für die Löhne der Angestellten verantwortlich. Es gab aber immer mehr Zeitarbeitskräfte, die von einer Personalagentur ausgesucht und vermittelt wurden, die Flexo hieß. Serenus arbeitete eng und gut mit Flexo und deren Leuten zusammen. Es lag somit auf der Hand, dass er sich bei Flexo um eine neue Stelle bewarb. Es kam jedoch zu einer Indiskretion: Die Geschäftsleitung des Krankenhauses bekam Wind von der Sache und das Ganze artete in einem riesigen Eklat aus. Eine derartige Illoyalität könne nicht geduldet werden. Als Serenus die Flucht nach vorne antrat und seine Kündigung einreichte, wurde er sofort freigestellt. Unglücklicherweise musste sich Flexo von seiner Kandidatur distanzieren, um einen ihrer wichtigsten Kunden nicht zu brüskieren. Dass er seine Arbeit im Krankenhaus los war, hatte auch sein Gutes, aber damit, dass er wie ein Hund vor die Tür gesetzt und fortgejagt wurde, tat sich Serenus schwer. Wie schwer, konnte er noch nicht wissen.

Serenus II

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