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Rosanna 1965 - 1984

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Seine Mutter war eine rechtschaffene Frau in einer rechtschaffenen Zeit. Nach dem Krieg vergaß man besser, was gewesen war. Wenn man so tat, als ob nie wieder Verbrechen begangen würden, und wenn man so tat, als ob fortan Friede herrschte, dann konnte das Gefühl aufkommen, dass niemand diesen Krieg und diese Verbrechen gewollt und herbeigeführt hatte. Aber man musste im Nachhinein das Richtige und das Redliche umso konsequenter denken und fühlen.

Die Mutter hatte sich dieser Haltung ganz und gar verschrieben, mit der Folge, dass sie mit dreißig Jahren noch unberührt war. Vielleicht nicht unberührt im anatomischen Sinne. Zu ihrer Seele war jedenfalls noch keines Mannes Begehren vorgedrungen. Sie war von ihrer Rechtschaffenheit so eingenommen, dass sie glaubte, dem Vater würden die Flausen von selber vergehen. Er brauchte nur die richtige Frau an seiner Seite. Da sie die niedrigen Regungen an sich selber so gründlich ausgemerzt hatte, würde sie auch die Instinkte eines Mannes zähmen.

Dass der Vater vor, während und nach dem Krieg ein Schürzenjäger gewesen war, wusste die ganze Stadt. Die Leute gingen davon aus, dass er auch weiterhin ein Frauenheld bleiben würde. Niemand hatte Verständnis für diese Verbindung. Warum heiratete diese spröde Frau einen solch triebhaften Mann? Warum heiratete ein solch unkeuscher Mann diese ehrbare Frau? Weil sie, nach damaligen Gesichtspunkten, eine Ehe eingehen mussten. Er war vierzig und sie war dreißig. Es wurde für beide höchste Zeit, sich nach der gängigen Rechtschaffenheit zu richten. Der Himmel fügte es, dass sie von ihm schwanger wurde.

Paradoxerweise brauchte es von keiner Seite große Verführungskünste. Der Vater war auf der Suche nach der besten aller Mütter für seine Söhne. Umgekehrt war die Mutter auf der Suche nach materieller Sicherheit im Hinblick auf die zu gründende Familie. Im Jahr 1955, ein halbes Jahr nach der Hochzeitsfeier, gebar die Mutter einen ersten Nachkommen. Er blieb zehn Jahre lang ein Einzelkind. Das war außergewöhnlich. In jener Zeit hatten Ehepaare schon früh mehrere Kinder. Abgesehen davon wuchs der Junge als ganz normaler Bub in einer gut situierten Familie auf. Zwischen ihm und dem Vater kam es allerdings nie zu einem innigen Verhältnis. Dieser konnte dem Säugling nicht viel abgewinnen. Erst als das Kind zusammenhängend sprechen und denken konnte, wurde er neugierig. Aber da war es bereits zu spät.

Wie es vorauszusehen war, blieben erotische Abenteuer außerhalb der Ehe seine wichtigste Betätigung. Er hatte jedoch keine Mätresse, wie man das damals noch nannte. Niemals führte er eine dauerhafte außereheliche Beziehung mit einer bestimmten Geliebten. Zudem bewahrte er immer den Anstand, oder wenigstens den Schein, was für ihn dasselbe war, indem er die Frauen in der Umgebung in Ruhe ließ. Sein Beruf brachte ihn in alle Länder der Welt. Die Frauen, mit denen er sich auf anderen Kontinenten vergnügte, sahen ihn nie wieder. Es gab nie ein zweites Mal. Er war keiner Frau treu, was ihn glauben machte, dass er ein guter Ehegatte sei. Dass die anderen ihm nichts bedeuteten, war offenkundig. Also konnte ihm niemand einen Vorwurf machen, am allerwenigsten seine Ehefrau.

Während der ersten Ehejahre dachte die Mutter, der Vater habe die erwartete Wandlung zum Guten gemacht. Mit der Zeit wurde ihr klar, dass er sich auf seinen Reisen wie Casanova aufführte. Von da an galt ihre Liebe ausschließlich ihrem Kind. Vermutlich konnte sich der Sohn deshalb nicht für den Vater erwärmen. Nicht nur, weil dieser selten anwesend war, sondern auch, weil er sich die Zwiespältigkeit der Mutter zu eigen machte. Sie sehnte sich nie nach ihrem Mann, und wenn er ein paar Wochen zu Hause verbrachte, wartete sie nur darauf, bis sie wieder Ruhe vor ihm hatte. Mit diesen unausgesprochenen Empfindungen prägte sie auch das Kind.

Serenus, ihr zweitgeborener Sohn, rätselte später oft daran herum, wie die schon vierzigjährige Mutter von dem fünfzigjährigen Vater ein zweites Mal hatte schwanger werden können. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Vater der Mutter an die Wäsche ging. Ein paar Monate lang phantasierte Serenus daher, er sei von einem anderen Mann gezeugt worden. Dann entschied er sich für die Variante, seine Eltern hätten einen zweiten Frühling erlebt. Insgeheim nannte er es ihren „zweiten Herbst“, denn schließlich hatte er ja im Sommer Geburtstag. Auf die richtige Lösung kam er jedoch nicht.

Die Mutter wünschte sich einfach ein zweites Kind. Der Bruder war in die dritte Klasse bekommen. Nun entwickelte er eine überraschende Unabhängigkeit und begann die Gesellschaft gleichaltriger Jungen der seiner Mutter vorzuziehen. Die Mutter hatte die ersten Jahre mit dem Erstgeborenen voll ausgekostet. Sie sah keinen Sinn darin, ihn weiter mit Gewalt an sich zu binden, sondern zog es vor, nochmals von vorne anzufangen. Sie hoffte, dass ihr zweites Kind ein Mädchen werden würde, und gab ihm schon während der Schwangerschaft den Namen Serena, die Heitere. Als schließlich ein Knabe das Licht der Welt erblickte, wich sie nicht von ihrem Programm ab. Sie beschloss, dass er sie genauso gut würde erheitern können wie eine Tochter.

Die Mutter, kaum hielt sie das blutverschmierte Lebewesen in ihren Armen, akzeptierte ihn sofort als das, was er war. Möglicherweise war sie sogar ein wenig erleichtert, denn nun erwartete sie nichts Neues. Es hatte bestimmt auch sein Gutes, die Mutter zweier Jungen zu sein. Dem Vater war das Geschlecht seiner Brut einerlei; er kannte ja die Vorzüge des männlichen Geschlechtes ebenso wie diejenigen des weiblichen. Doch er gab sich diesmal mehr Mühe. Inzwischen hatte er begriffen, dass ein Säugling nichts von sich gab, was ihn interessierte. Er ließ es folglich dabei bewenden, dass der kleine Serenus wie ein Betrunkener um sich glotzte, sich übergab und sich nicht fortzubewegen wusste. Serenus wiederum begeisterte sich für die Krawatten seines Papas, woraus dieser schloss, dass sein Zweitgeborener denselben erlesenen Geschmack hatte wie er selber. Kurzum, der Jüngere hatte es viel leichter als sein Bruder. Die Mutter liebte ihn so, wie er war, und der Vater reagierte dieses Mal mit Zutraulichkeit und Stolz.

Der Bruder zeigte keinerlei Eifersucht. Seine Eigenheit war es eben, die Welt zu verstehen, indem er in die Haut der Mutter schlüpfte, indem er sie in Haltung und Handlung nachahmte. Also betätigte er sich mit Eifer in der Säuglingspflege. Dass sich selbst die Mutter mit größerem Vergnügen um Serenus kümmerte als zehn Jahre zuvor um den Bruder, war dem Fortschritt zu verdanken. Die Wegwerfwindel aus Zellulose hatte inzwischen den Markt erobert. Obendrein gab es nun auch diese feuchten Vliesstofftücher, mit denen der Babypopo in ein paar Sekunden gesäubert war. Die Mutter war genauso fasziniert davon wie der zehnjährige Bruder. Ebenso erregten Babyöl, Kinderpuder und Kamillensalbe sein Interesse. Nach wenigen Wochen konnte er alle Verrichtungen selbständig ausführen. Er zog Serenus aus, ohne sich durch dessen Geschrei aus der Ruhe bringen zu lassen, befreite ihn von den Ausscheidungen und verarztete die gereizten Hautzonen. Dann wickelte er ihn neu und kleidete ihn wieder an.

Nach ein paar Monaten kam die Ernährung mit industrieller Babykost hinzu, mit Brei, der aus Pulver und Wasser angerührt wurde. Bald wusste er die Rezepturen auswendig und verstand es im Schlaf, Wasser abzumessen und Messlöffel abzuzählen. Richtig glücklich machte ihn schließlich der Stabmixer, ebenfalls eine Errungenschaft jener Epoche. Damit bereitete der große Bruder in wenigen Minuten aus Kartoffeln und Karotten, Bananen und Äpfeln den Pamps zu, den er dem Kleinen in den Mund löffelte.

Serenus war von Geburt an eine Wasserratte. Er liebte ausgiebige Bäder und war untröstlich, wenn er aus der Wanne geholt wurde. Als er zwei Jahre alt war, überließ es die Mutter dem Bruder, ihn zu baden. Dieser schäumte ihn ein, vom Scheitel bis zur Sohle, spülte ihn ab, und rieb ihn trocken. Aus früheren Tagen besaß er eine ganze Sammlung von Entchen und Fischen, Schiffen und Unterseebooten sowie Männchen in Taucherausrüstung, mit denen sie gemeinsam herumplanschten. Denn der Bruder nahm sich Zeit und setzte sich zu Serenus in die Badewanne. Von diesem Vergnügen konnten beide nie genug bekommen.

Es begann mit den Haien, den Tauchern und den U-Booten, die ihrer natürlichen Bestimmung folgend die Geheimnisse in den Tiefen des Meeres erforschten. Immer fanden sie, von des Bruders Hand gesteuert, den Weg zu den intimen Körperzonen. Serenus wurde beinahe hysterisch von den Reizungen, verlangte aber kreischend nach mehr. Anfänglich schritt die Mutter noch ein und beendete den Radau, aber allmählich wurden die Spiele leiser. Die sexuellen Tätlichkeiten blieben jedoch nicht auf das Baden und das Abtrocknen beschränkt. Mit der Zeit befingerte der Bruder Serenus auch, wenn er ihn zu Bett brachte, wenn er ihm morgens beim Ankleiden half, wenn er ihn auf den Topf setzte. Der kleine Sack mit den beiden Eierchen und der winzige Rüssel zogen ihn in seinen Bann. Jedes Mal, wenn er Hand anlegte, schaute Serenus ihn verwundert an und begann nach einer Weile zu kichern.

Mit vier Jahren war Serenus ein richtiger Dreikäsehoch. Der Bruder war vierzehn und schoss in die Länge. Eines Tages betrachtete der Jüngere sein Geschlecht als Privatsache – „Das ist Meines!“ – und versagte dem Älteren nachdrücklich die gewohnten Vertraulichkeiten. Nach zwei oder drei weiteren Annäherungsversuchen, die Serenus jedes Mal entschieden zurückwies, gab der Bruder es auf. Daraufhin kühlte sich ihr Verhältnis ab. Es fiel jedoch nicht weiter auf, denn sie lagen altersmäßig ohnehin zu weit auseinander. Als Serenus in den Kindergarten kam, hatte der Bruder bereits seine Konfirmation hinter sich und besuchte, auf Geheiß der Mutter, die Tanzstunden. Für Serenus hatte jene genitale Phase keinen Erinnerungswert. Die Hand seines Bruders verschwand für immer aus seinem Gedächtnis.

Er verbrachte die folgenden sieben Kindheitsjahre in tiefster Unschuld. Sein Bruder durchlief die Pubertät, die man kaum bemerkte, und der Vater hatte auf seinen Geschäftsreisen eine Liebschaft nach der anderen, machte aber kein Aufhebens davon. Serenus verbrachte seine Zeit mit den Nachbarskindern, ohne zwischen Jungen und Mädchen zu unterscheiden. Mit jenen spielte er Fußball und mit diesen Gummi-Twist. Mit dem Vater zusammen betrieb er die elektrische Autorennbahn und der Mutter half er im Haushalt. Mit derselben Unschuld verliebte er sich ein bisschen, und zwar in beide Richtungen. Er bewunderte seine Lehrerin, die jung und hübsch war, und er schwärmte für seinen Taufpaten, den Bruder der Mutter, der als schwarzes Schaf der Familie galt. Seit er einen britischen Sportwagen fuhr, wurde er von allen nur noch Onkel Goldfinger genannt.

Als Serenus noch nicht ganz elf Jahre alt war, überkamen ihn erstmals rätselhafte Empfindungen, die sich mit unfassbaren Wünschen nach etwas Namenlosem verbanden. Nach und nach erfüllte Erregung seinen ganzen Körper. Doch je mehr sich dieses Verlangen in der Leibesmitte verdichtete, umso heftiger wurde es auch.

An einem Sonntag im Mai fand ein Familienpicknick statt. Außer dem Vater und der Mutter nahmen verschiedene Onkel und Tanten daran teil. Sie brachten ihre Kinder mit, die Kusinen und Cousins der beiden Brüder. Onkel Goldfinger wurde von seiner neuen Gefährtin begleitet, einem Hippie-Mädchen, das sich nicht davon abhalten ließ, ihren Gönner unaufhörlich abzuknutschen. Sie trug den kürzesten Minirock aller Zeiten und dazu ein transparentes Hemdchen aus Indien. Ihr erdrückender Duft nach Patschuli weckte bei Serenus wieder einmal jene seltsamen neuen Gefühle. Man richtete sich am Waldrand ein und verköstigte sich mit Grilladen und Salaten. Serenus trank zwei Gläser von der Waldmeister-Bowle, die ihm die Mutter zur Hälfte mit Sprudel verdünnte.

Auf einmal schmerzten Serenus die Ohren vom Gelächter und Geschrei der Gäste. Still und leise schlich er sich davon und drang tief in den Wald ein, dessen dunkler Boden mit Maiglöckchen und Schlüsselblumen übersät war. Als er keine Stimmen mehr hörte, zog er sich zitternd vor Erregung aus und legte seine Kleider über den Stamm eines Baumes, der von den Herbststürmen gefällt worden war. Er fühlte die Luft auf seiner Haut. Sein Pimmel wurde sofort groß und hart. Er bekam kaum Luft zum Atmen.

Er merkte sich die Stelle, wo seine Kleider lagen und bewegte sich behutsam durch das Holz. Außer ihm gab es keine Menschenseele. Niemand war Zeuge seines Treibens. Dennoch musste er unentwegt daran denken, dass er nackt zu sehen war. Er hatte keine bestimmte Vorstellung von möglichen Zuschauern, aber trotzdem ahnte er, dass er sich den Blicken eines weiblichen Publikums darbot. Er wünschte sich, ein Mädchen - oder mehrere – würden die Augen auf seinen Körper richten. Da ihm einfach keine wirkliche Person dazu einfiel, phantasierte er, dass diese junge Frau, die dauernd an Onkel Goldfinger herumknabberte, irgendwo im Unterholz auf der Lauer lag. Bestimmt hatte auch sie ihren kurzen Rock und die durchscheinende Bluse abgelegt. Auf der Suche nach ihr huschte er leise durch den Wald.

So verrann die Zeit. Serenus wurde allmählich müde davon, dass sein Verlangen keine Erfüllung fand. Unzufrieden zog er sich wieder an. Da man ihn vielleicht auf sein Verschwinden ansprechen würde, pflückte er einen dicken Strauß von Maiglöckchen. Er hätte ihn am liebsten Onkel Goldfingers neuer Freundin geschenkt, aber er wusste, dass er sich das nicht trauen würde.

Solange dieser Sommer dauerte, ging er in den Wald, um sich auszuziehen. Er begann Blumen zu pressen, damit er ein Alibi hatte. Der Vater schenkte ihm ein Buch über seltene und geschützte Pflanzen. Aber Serenus stellte schnell fest, dass diese Pflanzen so selten gar nicht waren, wenn man nur die Augen offenhielt. Einmal pro Woche, an einem freien Nachmittag, bestieg er sein Rad und fuhr zur Stadt hinaus. Werktags begegnete man keinem Menschen. Bald kannte er die stillen Plätze, wo er ungestört seine Leidenschaft ausleben konnte. Im Juli setzte eine längere Regenperiode ein. Aber Serenus war so aufgereizt, dass er sich durch die Nässe nicht abhalten ließ. Er wollte alleine sein und sich den nervösen Schauern seines Körpers hingeben. Die dicken Tropfen, die von den Bäumen auf seine Haut fielen, verstärkten sogar seine Empfindungen.

Serenus lebte inzwischen alleine mit seinen Eltern. Der Bruder hatte die Universität gewechselt und war in eine stockkatholische Stadt gezogen, um Theologie und Pädagogik zu studieren. Als die Ferien anfingen, verreiste der Vater und ließ die Mutter mit Serenus zurück. Es war Beerenzeit und die Mutter kochte jeden Tag Marmelade, Gelee, Sirup und Kompott. Wenn Serenus nicht bei ihr in der Küche saß, beschäftigte er sich mit seinen getrockneten Pflanzen, mit botanischen Büchern oder mit der Carrera-Rennbahn. Bis er eines Tages entdeckte, dass sich nachmittags auf der Wiese vor seinem Fenster die Mädchen aus der Nachbarschaft einfanden. Sie waren ungefähr gleichaltrig, manche jünger, einige schon etwas älter. Sie trugen ihre Badeanzüge und spielten in der Hitze des Nachmittags auf dem Rasen.

Serenus stand stundenlang an seinem Fenster und beobachtete sie. Am besten gefiel ihm die ganze Versammlung. Aber es gab zwei oder drei Mädchen, die er besonders mochte. Die lockige Jacqueline, die allerdings noch klein war, die ernste Erika, die als einzige schon einen Busen hatte, und die Italienerin aus dem baufälligen Mietshaus, die Rosanna hieß. Serenus verbrachte ganze Nachmittage nackt in seinem Zimmer. Oft stieg er auf seinen Schreibtisch, der am Fenster stand, und wichste sein Glied. Er fürchtete, dass die Mädchen ihn erblicken könnten, und gleichzeitig sehnte er sich danach. Bis der Vater aus Amerika zurück kam, beschäftigte sich Serenus hauptsächlich mit Jacqueline, Erika, Rosanna und den anderen, ohne dass sich jedoch die Mädchen mit ihm beschäftigt hätten. Sie wussten nicht einmal, dass er ihnen hinterher sah. Niemand beachtete den elfjährigen Jungen, der nackt am Fenster stand und gesehen werden wollte. Von da an ging er nicht mehr in den Wald.

Serenus litt unter dem Doppelleben, das er führte. Er leistete der Mutter Gesellschaft, lernte für die Schule, soviel wie nötig war, und betrieb seine Hobbies wie Pflichtübungen. Wenn die Mutter Gäste hatte, setzte er sich dazu und beantwortete die üblichen Fragen nach seinen Lieblingsfächern und seinen Traumberufen. Oder er hörte einfach zu, wie sich die Erwachsenen über ihre Nichtigkeiten unterhielten. Ebenso oft war er draußen unterwegs, um mit den anderen Kindern zu spielen, auch mit den Mädchen, die er heimlich beobachtete und für die er sich auszog, wenn seine Gefühle ihn erhitzten. Seine Nacktheit verletzte die Regeln der Gemeinschaft. Ständig quälte ihn die Vorstellung, dass man ihm seine Verrücktheit ansehen könnte. Wenn er zum Beispiel mit Rosanna Himmel und Hölle spielte, stellte er sich vor, dass sie Bescheid wusste und ihn aus purem Mitleid wie einen normalen Spielkameraden behandelte. Wenn er masturbierte, hatte er keine Angst, dass die Mutter sein Zimmer betreten könnte, denn sie kam nie in ungebeten herein. Aber nun dachte er, seine Mutter öffnete seine Türe nur deshalb nicht, weil sie genau wusste, was er dort tat. Er selber hielt es eigentlich gar nicht für eine Sünde. Schlimm war nur die Vorstellung, dass die anderen ihn dafür verachteten.


Als die Ferien zu Ende gingen, kam es ihm vor wie eine Befreiung. Es war das letzte Jahr, bevor er aufs Gymnasium übertreten würde. Er wollte hohe Anforderungen an sich selber stellen und sich damit von seinen schwülen Träumen ablenken. Der Plan ging tatsächlich auch auf. Zehn Monate lang klemmte er sich hinter die Lehrbücher. Auf diese Weise gelang es Serenus, den Brand einzudämmen. Er tat die erregenden Dinge nur noch in seinem Bett unter der Decke und beschränkte sich auf eine halbe Stunde vor dem Einschlafen.

Er befreundete sich mit dem dicken Daniel, einem Streber, den niemand in der Klasse mochte. Fast jeden Tag trafen sie sich, um zusammen Hausaufgaben zu machen. Gleichzeitig schämte sich Serenus für diese Freundschaft. Daniel wartete jeden Morgen auf dem Gehsteig vor dem Haus und begleitete ihn zur Schule. Nach dem Unterricht trottete er an seiner Seite wieder heimwärts. Serenus wusste genau, warum sich der Dicke an ihn hängte. So lange sie gemeinsam unterwegs waren, wurde Daniel nicht von den anderen Jungen gepiesackt.

Der schlimmste Quälgeist in der ganzen Schule war Bruno. Für Jungen wie Daniel war er der Angstfeind Nummer eins. Weil er andauernd die Lehrer provozierte und sich mit anderen Kindern prügelte, stand er unentwegt mit dem Direktor im Clinch. Abgesehen davon, dass er seine Aggressionen nicht zügelte, war er ein humorvoller und charmanter Kerl, der mehr Lebenserfahrung hatte, als der Rest der Klasse zusammen. Zu Daniels Schrecken wurden Bruno und Serenus ebenfalls Freunde. Außerhalb der Schule verbrachte Serenus seine Zeit mit Daniel, weil dieser ehrgeizig war und sich für die guten Noten abrackerte. Innerhalb der Schule steckte Serenus jedoch ausschließlich mit Bruno zusammen und schenkte Daniel keine Beachtung. Bruno wusste über Sexualität Bescheid und Serenus ließ sich von ihm aufklären.

„Erkläre mir nochmals, wie das Ding bei den Mädchen gebaut ist.“

„Die Mädchen haben ein Loch zwischen den Beinen. Für dich ist es besser, wenn du Scheide dazu sagst. Ich nenne es Fotze. Aber Scheide gefällt mir auch, weil da etwas genau hineinpasst.“

„Wie meinst du das, dass da etwas genau hineinpasst?“

„Der Pimmel, wenn er hart ist, hat gerade richtig Platz in einer Fotze. Ein satter Schwanz ist mindestens zwanzig Zentimeter lang und vier Zentimeter dick.“

„Und wie war das wieder mit den Lippen?“

„Das Loch liegt zwischen zwei Wülsten. Sie sind dick und weich wie kleine Bäckchen. Aber inwendig, um das Loch herum, sind diese kleinen feuchten Hautlappen. Und dazwischen, oben an dem Loch, gibt es einen winzigen Knopf aus Fleisch, der total empfindlich ist. Darum heißt er Kitzler.“

„Und der Pimmel geht zwischen diesen Lippen hindurch in die Scheide? Wie kann das denn ausgeführt werden?“

„Das geht natürlich nur, wenn der Mann und die Frau, wenn beide scharf sind, wenn sie ficken wollen. Sie müssen sich vorher ausziehen. Dann bekommt der Mann einen Ständer und die Fotze wird glitschig. So geht es ganz leicht.“

„Und am Ende spritzt etwas aus dem Mann in die Frau hinein?“

„Der Samen. Der Mann bewegt seinen Schwanz rein und raus, rein und raus. Zum Abschluss bohrt er sich in sie hinein, so tief er kann, und spritzt ab.“

„Und dann bekommt die Frau ein Kind?“

„Genau! Jeden Monat kann die Frau während ein paar Tagen Kinder bekommen. Wenn der Mann sie genau dann abfüllt, wird sie schwanger.“

„Aus meinem Pimmel kommt nichts heraus. Nur Pisse.“

„Es kann bei dir jetzt jeden Tag soweit sein. Ich hatte es auch erst ein paar Mal. Manchmal kommt es in der Nacht, wenn ich schlafe.“

Solche Dialoge führten sie täglich. Bruno ließ sich ohne Hemmungen über Sex aus. Er zeigte auch keine Überheblichkeit, wenn er merkte, wie ahnungslos Serenus war. Im Gegenteil, er gab seine Kenntnisse gerne preis. Serenus wiederum wagte nicht danach zu fragen, wo sich sein Freund dieses Wissen angeeignet und was er schon am eigenen Leib erfahren hatte. Ihre Pausengespräche brachten eine wesentliche Entspannung in den Schulhof. Solange Serenus Bruno zu diesen Dingen befragte, verprügelte dieser keine Kinder. Schließlich hieß es sogar, dass Serenus einen guten Einfluss auf Bruno habe.

Es war erstaunlich, wie viel die Gynäkologie und die Urologie zu reden gaben. Bruno ging bereitwillig ins Detail und Serenus ließ sich alles mehrmals erklären, bis er es sich vorstellen konnte. Das männliche Organ war nicht nur leicht zu verstehen, sondern es bot auch die Möglichkeit, die Theorie am konkreten Beispiel zu veranschaulichen. Serenus borgte sich des Vaters Rasierspiegel aus, dessen eine Seite ein Hohlspiegel war und sein Geschlechtsteil formatfüllend anschwellen ließ. Während der Untersuchung führte er Selbstgespräche.

„Ihr zwei seid also meine Eier. Es wird Zeit, dass ihr Spermien macht. Nehmt euch ein Vorbild an den beiden Schwellkörpern, die schon wissen, was Sache ist.“

Er zog seine Vorhaut zurück.

„Und du bist meine Eichel. Möchtest du in ein glitschiges Mädchenloch gesteckt werden?“

Nun versuchte er, sich die Reise der Spermien vorzustellen. Es gab eine Leitung von den Hoden zu einer Drüse im Beckenboden. Er steckte sich sogar den Finger in den Darmausgang, konnte jedoch das Gesuchte nicht finden. Von dort führte die Direttissima durch das Glied bis zur Spitze der Eichel. Dann ließ Serenus seine Organe verschwinden, indem er sie sich zwischen die gekreuzten Beine klemmte, und stellte sich vor, er wäre ein Mädchen. Er betrachtete seine Bauchdecke.

„Und wo soll hier drinnen ein solches Rohr Platz finden?“

Mit einem Kugelschreiber zeichnete er die Umrisse seines eigenen Phallus auf die Haut. Links und rechts davon malte er zwei Walnüsse und um den Bauchnabel herum einen Tennisball: Scheide, Eierstöcke und Gebärmutter. So mochte es in etwa hingehen.

Sexualkunde beinhaltete nebenbei auch Sprachunterricht, denn Bruno vermittelte Serenus ein gewisses Vokabular. Gleichzeitig warnte er ihn davor, diese Ausdrücke in Anwesenheit von Erwachsenen zu gebrauchen. Er würde damit nur Ärger bekommen. Zuhause schrieb Serenus die Wörter in ein kleines Notizbuch, das er gut versteckt hielt. Titten, Möpse, Möse, Fotze, ficken, bumsen, aufs Kreuz legen, knutschen, fummeln, Hure, Nutte, Schwuler, Wichser und so weiter.

Inzwischen waren sie bei den Praktiken angelangt. Serenus hatte längst begriffen, dass Mann und Frau sich beim Geschlechtsverkehr paarten. Das ergab ja noch Sinn. Aber nun erklärte ihm Bruno, dass es schwule Männer und lesbische Frauen gab, die es miteinander trieben. Serenus konnte kaum glauben, dass sie das Hindernis der Gleichgeschlechtlichkeit umgingen, indem sie sich die Geschlechtsteile stimulierten und sich sogar in den Hintern fickten. Noch mehr erstaunte ihn, dass auch gewöhnliche Paare solche Dinge taten. Bruno erklärte ihm, dass es Männer gab, die Frauen vergewaltigten oder Kinder dazu zwangen. Andere taten es mit Frauen, die es mit jedem machten, jedoch Geld dafür verlangten. Es gab sogar Männer, die Sex mit Tieren hatten. Serenus befremdete das alles sehr, aber Bruno fand nichts Besonderes dabei. Die alten Griechen seien alle schwul und pädophil gewesen, behauptete er, und im alten Rom habe es mehr Huren gegeben als verheiratete Frauen.

Serenus versuchte diese Informationen auf die Menschen zu übertragen, die er kannte. Er saß in der Küche und beobachtete die Mutter, die Weihnachtsplätzchen backte. Ihre Brüste hatte er wohl zwei oder drei Mal gesehen, aber von ihrem Unterleib hatte er keine Ahnung. Wie der Vater nackt aussah, das wiederum wusste er. Dass sie zusammen geschlafen hatten, war nicht zu leugnen, denn sonst säße er nicht hier. Aber das war vor zwölf Jahren gewesen. Hatten sie nach seiner Geburt weitergebumst? Nein, das war ausgeschlossen. Onkel Goldfinger war immer noch mit dem Minirock zusammen. Das war ein klarer Fall. Bestimmt hatte das Hippie-Mädchen Spaß an solchen Dingen. Dann fiel ihm sein merkwürdiger Bruder ein. Er würde zu den Feiertagen nach Hause kommen und fromme Sprüche von sich geben. Es war zwecklos, ihn nach seiner Freundin zu fragen. Stattdessen könnte Serenus sich vergewissern, ob er wirklich und wahrhaftig Priester werden wollte. Nicht einmal der Vater, der manchmal sehr direkt werden konnte, fragte den Bruder nach seinem Privatleben. Serenus beobachtete die Mutter, wie sie Zimtsterne auf das Backblech legte und mit Zuckerguss bepinselte. Etwa so müsste Sperma aussehen, dachte er, jedenfalls hatte Bruno das Zeug so ähnlich beschrieben. Die Mutter blickte auf und lächelte ihm zu.

„Woran rätselst du herum, mein Schatz?“, fragte sie ihn.

„Mein Bruder ist anders herum“, antwortete er ohne nachzudenken. Danach hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Die Mutter rührte langsam mit dem Backpinsel in der kleinen Schale, die den Zuckerguss enthielt.

„Du meinst...?“

Sie sprach es nicht aus. Serenus nickte.

„Er interessiert sich nicht für Frauen.“

Die Mutter bestrich die restlichen Plätzchen und schob das Blech in den Ofen. Nach einer Weile sah sie ihn wieder an.

„Es ist das Abwegigste, Serenus“, sagte sie ganz ruhig, „aber es ist doch nicht abwegig. Besser, du behältst das für dich. Ehrenwort?“

Sie setzte sich hin und dachte nach.

„Du bist noch ein Kind. Wie kamst du darauf?“

Bruno hatte ihn vor den Erwachsenen gewarnt. Er musste vorsichtig sein.

„Ich bin wohl erst elf. Und es ist nichts dabei, wenn ich mit den Mädchen von nebenan spiele. Aber ich weiß, dass die kleine Jacqueline ein süßes Gesicht mit hübschen Locken und dass Erika schöne Beine und dass Rosanna eine besondere Ausstrahlung hat. Das sagst du ja selber auch.“

„Du willst damit sagen, dass du Mädchen beachtest, dein Bruder jedoch nicht...“

„Sie sind so sehr zum Anschauen, dass man Freude bekommt, auch wenn man erst elf ist. Aber er ist einundzwanzig.“

Sie sah ihn merkwürdig an und sagte mit halblauter Stimme: „Man muss sich wohl damit abfinden. Der Ältere ist anders herum und der Kleine ist bereits ein halber Mann.“

Es klang endgültig und Serenus wusste, dass das Gespräch beendet war.

Was Bruno ihm erzählte, war immer schwer einzuordnen. Doch einen wahrhaftigen Schrecken jagte er ihm ein, als er auf die Exhibitionisten und Voyeure zu sprechen kam. Es war wieder Frühling geworden und die Polizei hatte abends im Stadtpark einen Mann festgenommen, der nur mit einem Regenmantel und Pantoffeln bekleidet gewesen war. Er hatte sich zwischen den Bäumen versteckt und auf junge Mädchen gewartet, denen er seine Erektion zeigte. Bruno wusste auch von einem Sportlehrer an ihrer Grundschule, der immer in die Garderobe kam, wenn sich die Schülerinnen duschten und umzogen. Es gab perverse Lustmolche, fasste Bruno zusammen, die sich heimlich an kleinen Mädchen aufgeilten.

Am darauffolgenden Wochenende bekam Serenus eine schwere Grippe und musste eine Woche lang das Bett hüten. Als er wieder gesund war, hatten die Osterferien begonnen, so dass er Bruno während insgesamt drei Wochen nicht mehr begegnete. Das beruhigte ihn über alle Maßen, denn er hoffte, dass der Exhibitionist bis zum Schulanfang in Vergessenheit geraten sein würde.

In der Tat, Bruno wandte sich neuen Themen zu. Er beschäftigte sich zurzeit damit, dass es in anderen Ländern andere Sitten gab. In Israel schnitt man den Knaben die Vorhaut ab. In Asien und in Afrika konnte ein Mann so viele Frauen heiraten, wie er wollte, musste sie aber ihren Eltern abkaufen. In Italien hängte man das blutige Laken der Hochzeitsnacht vor das Haus, um zu beweisen, dass die Braut noch unberührt gewesen war. Die Bayern wiederum heirateten erst, wenn die Frau schwanger war, damit ihre Fruchtbarkeit feststand. In Japan gab es Geishas zu mieten, die den Mann mit Musik und Tanz unterhielten, bevor sie mit ihm ins Bett gingen. In Arabien hielten die Könige ihre Frauen in Gefängnissen und ließen sie von Männern bewachen, denen die Eier entfernt worden waren. In Brasilien gab es Männer, die sich Brüste wachsen ließen und Damenwäsche trugen.

Als es wieder Sommer wurde, wusste Serenus nicht nur alles über Sex, sondern er bekam auch das Zeugnis mit den besten Noten seiner ganzen bisherigen Schulzeit. Allerdings verlor er in der Folge seine beiden Freunde. Bruno kam auf die Berufsschule, weil seine Eltern fanden, dass er etwas Richtiges lernen sollte. Daniel wurde auf eine private Handelsschule geschickt, weil seine Eltern ebenfalls meinten, dass er etwas Richtiges lernen sollte. Und Serenus wiederum musste das Humboldt-Gymnasium besuchen, weil die Eltern fanden, dass er etwas Richtiges lernen sollte. Also trennten sich ihre Wege. Serenus machte sich nicht viel daraus, sondern wandte sich anderen Menschen zu. Schon nach einem halben Jahr hatte er Bruno und Daniel so gut wie vergessen.


Ende der Siebziger Jahre fiel es nicht weiter auf, wenn sich zwei Teenager näherkamen. Noch zehn Jahre vorher wurden die Bürger beinahe hysterisch, wenn die Medien von antiautoritären Kindergärten berichteten, wo nackte Jungen mit nackten Mädchen spielten. Oder von so genannten Kommunen, in denen Studentinnen und Studenten Partnertausch betrieben. Oder von Popstars und ihren Groupies im Hotelzimmer.

Inzwischen war die etablierte Gesellschaft lockerer geworden. Im Sommer durften die Kleinen nackt auf dem Spielplatz herumhüpfen. In den Schwimmbädern spazierten die Damen „oben ohne“ über den Rasen, um sich ein Eis zu holen. An jedem Baggersee wurde ein Nacktbadestrand eingerichtet. Plötzlich störte sich niemand mehr daran, wenn Teenager beiderlei Geschlechts herumbalgten oder Halbwüchsige in der Öffentlichkeit herumknutschten. Wenn Serenus und die anderen Jungs mit den Mädchen spielten, wurden sie bald einmal anzüglich und manchmal auch handgreiflich. Die Erwachsenen störte es nicht. Sie waren höchstens neidisch, dass sie sich in ihrer Jugendzeit nicht so hatten gehenlassen dürfen.

Wenn es um körperliches Kräftemessen ging, war Rosanna mit Sicherheit die dreisteste von allen. Serenus bewunderte sie und fürchtete sich auch vor ihr. Er wusste, dass sie weiblicher, anmutiger und attraktiver war als die anderen Mädchen. Aber sie war eigentlich nicht sein Typ und er fühlte kein Verlangen nach ihrer Nähe. Am Humboldt-Gymnasium gab es ein paar Mädchen, in die er sich der Reihe nach verliebte und die er aus der Ferne anschwärmte. Sie gefielen ihm, weil sie reserviert waren und wie spröde Prinzessinnen auf ihn wirkten. Aber es war schwer, an sie heran zu kommen.

Dagegen war Rosanna unkompliziert und impulsiv. Sie wurde manchmal ohne Grund wütend oder brach einfach so in Tränen aus. Aber sie war ebenso schnell wieder versöhnt und trug einem nichts nach. Offensichtlich erwartete sie, dass Serenus Stärke zeigte und sie bändigte. Wenn sie nicht aufhörte ihn zu ärgern, dann packte er sie an ihrem schwarzen Lockenschopf und zwang sie zu Boden, bis sie vor ihm kniete und zu heulen anfing.

Rosanna war der einzige Mensch, der mit größter Selbstverständlichkeit zu ihm nach Hause kam. Anfangs klingelte sie an der Tür, wenn sie ihn draußen nicht antraf. Aber bald nahm sie die Gewohnheit an, einfach da zu sein, so als ob sie zur Familie gehörte. Die Mutter hatte wieder zu arbeiten angefangen und Serenus war an den Nachmittagen alleine zu Hause. Von allen Gleichaltrigen mochte Serenus Rosanna am liebsten und allmählich rechnete er jeden Tag mit ihrem Erscheinen. Gerade weil sie ihm so vertraut war, fiel es ihm nicht ein, dass sie seine erste Frau werden könnte.

Sie hatten wieder einmal miteinander gerauft, bis sie völlig außer Atem waren. Nachdem er ihren Widerstand gebrochen hatte, war er auf ihr liegen geblieben. Er fühlte sein Gewicht auf ihrem Körper und genoss es, ihr nahe zu sein. Dasselbe wiederholte sich beim nächsten und beim übernächsten Mal. Sie begannen ihren Ringkampf, aber bald ging es nur noch darum, die Waffen zu strecken und aufeinander liegen zu bleiben. Schließlich ließen sie die Balgerei ganz weg. Rosanna kam und legte sich hin, Serenus trat zu ihr hin und legte sich auf sie. Das Verlangen kam auf leisen Sohlen zu ihnen. Sie bemerkten kaum, wie sich die Veränderung einstellte. Vielleicht fiel ihnen das Atmen etwas schwerer, vielleicht wurde ihnen warm dabei, vielleicht sehnten sie sich ein wenig mehr nach einander. Sie wechselten ab. Manchmal lag er auf ihr, manchmal lag sie auf ihm. Natürlich fühlten sie, dass es jedes Mal inniger wurde und dass etwas geschehen würde.

Zweifellos war es Rosanna, die schließlich die Initiative ergriff. Als sie wiederkam, wusste er sofort, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Sie erklärte ihm, dass sie sich ausziehen würde und dass er sich nackt auf sie legen solle. Er fand einleuchtend, was sie vorschlug. Noch während sie redete, schlüpfte sie aus dem Kleid und legte sich hin. Serenus beobachtete sie, während er sich etwas umständlich seiner Kleider entledigte. Als er auf ihr lag, vergingen zuerst ein paar Augenblicke, denn er war die fremde Haut an seiner eigenen noch nicht gewöhnt. Dann strömte ein großes Glück in seine Seele.

Bei dieser und den folgenden Zusammenkünften waren sie schweigsam. Vorher und nachher unterhielten sie sich wie gewohnt. Aber wenn sie sich nahe waren, lauschten sie nur. Wenn Rosanna nackt war, hörte er, wie sie schluckte, wie sich ihre Därme bewegten, wie ihr Herz schlug und wie sie manchmal den Atem anhielt. Er fühlte, dass es an verschiedenen Zonen ihres Körpers unterschiedliche Temperaturen gab, und dass ihre Haut hier trocken und dort feucht war. Es vergingen mehrere Wochen, ohne dass sie sich dabei betrachteten oder mit den Händen anfassten. Umarmungen und Liebkosungen entdeckten sie erst später.

Eines Tages jedoch öffneten sie die Augen und begannen sich zu betrachten. Es war etwas Anderes, wenn Rosanna wusste, dass sie gemustert wurde. Sie wollte gesehen werden und sie wollte, dass er ihre Blicke erwiderte. Er besah sie wie ein Geschenk, dessen Sinn er noch nicht verstand. Er wusste noch nicht, was er damit anfangen könnte. So studierte er ihre Brüste, zu deren Zartheit er an seinem eigenen Körper keine Entsprechung fand. Rosannas Haut nahm die Sonne an und schimmerte dunkel. Aber ihre Brüste waren heller und die Brustwarzen erschienen ganz durchsichtig und farblos, so dass die Venen durch die Haut schimmerten. Sie war genauso von seiner Haut bezaubert. Oft lagen sie so neben einander und ergründeten die Merkmale des anderen.

Obwohl es immer dasselbe war, wurden sie dessen nicht überdrüssig. Sie zogen sich aus, legten sich aufs Bett, Rosanna unten, Serenus oben, oder umgekehrt. Sie belauschten das Geflüster ihrer Körper mit geschlossenen Augen. Sie lagen nebeneinander und bestaunten sich. Gerade wegen der exakten Wiederholung des Rituals bekam ihr Tun eine Bedeutung, die sie verwunderte und betroffen machte. Was bis jetzt geschehen war, konnten sie noch ungeschehen machen. Doch beide wollten, dass etwas über sie hereinbrach, das unwiderruflich war. Nur so ist zu verstehen, dass sich ihr Begehren mit dieser Gewalt auf sie stürzte... und so plötzlich.

Schon in den ersten Sekunden ihres Liebesspiels steigerte der Schmerz ihre Lust. Wieder war es Rosanna, die die Richtung vorgab. Sie dachte sich nichts dabei und wusste nicht, was sie damit bezweckte. Sie hielt einfach dem Druck nicht mehr stand. Sie packte seine Hoden, als ließe sie ihn dafür büßen, dass sie so lange gewartet hatte und dass sie sich nicht länger gegen ihre Ungeduld wehren konnte. In seinem Innersten verstand Serenus ihre Geste und erwiderte sie mit der gleichen Vehemenz.

Indem Rosanna seine Hoden in ihren Händen quetschte und Serenus ihre Brustwarzen zwischen seinen Fingern drückte, überflutete ihre Brunst die Dämme, bis sie barsten. Sie hätten auf der Stelle den Geschlechtsakt, ihren ersten, vollziehen können. Aber die Schmerzen waren so fremdartig und so erregend, dass sie sie auskosten wollten. Also zwangen sie sich, den Kampf auf die Spitze zu treiben. Ihre Krallen hinterließen Blutspuren auf der Haut und ihre Pranken blaue Flecken auf dem Fleisch des anderen.

Serenus hatte von Bruno gelernt, dass die treibende Kraft der Sexualität und aller ihrer ungezählten Spielarten, beides sein konnte, das Gute wie das Böse. Er wusste indessen auch, dass es keine Gerichtsbarkeit gab, die ihr Tun verurteilen würde. Sie bewegten sich in einem gesetzlosen Raum und waren frei, ihre Gier zu befriedigen, wie immer sie wollten. Als er Rosanna fragte, ob sie richtig fände, was sie machten, war sie verwirrt und dachte, Serenus wünschte sich etwas Anderes von ihr. Als er die Frage präzisierte, antwortete sie, sie sei gewiss nicht zimperlich und sie habe gewusst, dass er ein Grobian sei, denn sie habe schon einiges von ihm eingesteckt. Jedenfalls sei nichts kaputtgegangen, fügte sie hinzu und betrachtete die Schrammen an ihren Körpern.

Am nächsten Tag kam sie nochmals auf seine Frage zurück.

„Ich finde es richtig, wie wir uns lieben. Aber dass ich zu dir komme, ist verboten. Ich bin katholisch und Italienerin. Ich darf nicht daran denken, was sie mir antun, wenn sie es herausfinden. Mein Vater trinkt und ist zu allem fähig. Auch meine Brüder sind Italiener und dürfen nichts davon erfahren.“

Serenus hatte von seiner Familie nichts zu befürchten. Die Mutter würde es genauso hinnehmen, dass er Sex hatte, wie sie sich damit abgefunden hatte, dass der Bruder womöglich schwul war, und der Vater würde ihn zu seiner Eroberung beglückwünschen. Obwohl er selber völlig unbeschwert war, nahm er wahr, dass Rosanna von einer tiefen Angst zerrissen wurde, so dass er um sie fürchten musste. Gleichzeitig war diese Bedrohung wie ein Hochofen, in dem sie zusammengeschmolzen und in eine einzige Form gegossen wurden. Die Angst stiftete sie dazu an, aus ihrer glühenden Liebe einen Schutzschild zu schmieden.

Nachdem sie zwei oder dreimal miteinander geschlafen hatten, fand Serenus ein Päckchen mit einer Notiz auf seinem Schreibtisch.

Liebe Rosanna. Es sind drei Schachteln. Das reicht fürs Erste. Nimm jeden Tag eine. Immer zur gleichen Zeit. Ich wünsche Euch beiden Glück. Eure Mutter

Rosanna war außer sich vor Freude.

„Es ist echt gut, wie sie sich kümmert. Ich hätte nicht gewusst, wie ich an die Pille kommen sollte. Meine Mutter würde ein Jahr lang heulen und mein Vater würde mich totschlagen.“

Sie organisierte ein sicheres Versteck, das nicht einmal Serenus kannte, und tatsächlich wurde es all die Jahre über nicht entdeckt. Die Mutter lieferte alle drei Monate Nachschub. Erwähnt wurde die Angelegenheit mit keinem Wort. Eine Nebenwirkung des Hormons bestand darin, dass sich die Gefäße in Rosannas Brüsten ausdehnten und das Geäder durch die Haut zu sehen war. Jetzt wirkten ihre Brüste noch durchsichtiger als vorher.


Eines Tages wollte Serenus bloß den Fotoapparat zurücklegen, den sein Vater im ausgeliehen hatte. Zuunterst und zuhinterst in dem Aktenschrank des Vaters stieß er auf das Buch. Es sah wertvoll aus. Das Auffallende daran war, dass es außen nicht beschriftet war. Innen enthielt es vor allem Text, aber auch Illustrationen, die fast wie Fotografien aussahen. Ihm schwanden beinahe die Sinne, als sein Blick auf eine Szene fiel, in der ein Mädchen bedrängt wurde. Es wurde von fünf oder sechs Männern an den Gliedmaßen festgehalten, so dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Das Mädchen war blond und blasshäutig, die Männer dagegen schwarze Eingeborene. Serenus verstaute das Buch wieder dort, wo er es gefunden hatte. Aber als der Vater seine nächste Reise antrat, entwendete er es.

Die Erzählung hieß ganz harmlos „The Leopard Girl“ und spielte in einer afrikanischen Kolonie des British Empire zur Zeit von Königin Victoria. Ein anglikanischer Missionar lebte verwitwet irgendwo in der Wildnis mit seiner Tochter und einem Dutzend einheimischer Gehilfen und Dienstmädchen.

Der erste Teil handelte vom Alltag in der Missionsstation und von den Erziehungsmethoden, denen die dreizehnjährige Halbweise ausgeliefert war. Je mehr sie bestraft wurde, desto ungeschickter und unberechenbarer wurde ihr Verhalten und desto öfter lieferte sie selber den Anlass für noch schärfere Misshandlungen.

Der Vater verbrachte Tage und Wochen außer Haus, wenn er als Seelsorger die in der Savanne verstreuten Siedlungen besuchte. In seiner Abwesenheit bemächtigten sich die Dienstboten der Tochter, um sie allen erdenklichen Erniedrigungen zu unterziehen. Sobald der Missionar abgereist war, nahmen sie ihr die Kleider weg und zwangen sie, ihnen ohne einen Fetzen am Leib zu dienen. Sie wurde zur Schau gestellt, indem man sie bäuchlings über einen Schemel legte und sie daran festschnallte, so dass sie die Beine nicht schließen konnte und ihr Geschlecht den Blicken ausgesetzt war. Wenn sie sich auflehnte, ließ man sie es mit der Gerte zwischen ihren Beinen spüren.

Als sich ihre Brüste entwickelten und ihr die ersten Schamhaare wuchsen, wurde sie nachts im Freien angekettet. Sie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen im Mondlicht, mit Händen und Füssen an vier Pflöcken fixiert. Sie hatte die Augen verbunden und konnte kaum die nackten Füße hören, wenn jemand kam und sich an ihren Brüsten und an ihrem Schoss zu schaffen machte.

Mit der Zeit luden die Schwarzen alle Stammesverwandten dazu ein, sich an dem Exzess zu beteiligen. Bei den Versammlungen, die mehrere Tage dauerten, wurde sie wie eine Puppe herumgereicht, und die Gäste spornten sich zu immer grausameren Tätlichkeiten an. Die Keuschheit des englischen Fräuleins blieb jedoch unversehrt, denn für die Defloration wurde eigens ein großes Fest vorbereitet. Doch im letzten Augenblick wurde die Missionsstation von einem anderen Clan überfallen und das gesamte Personal niedergemetzelt. Die Missionarstochter wurde gerettet, aber verschleppt.

Im zweiten Teil erfuhr man den Grund der Entführung. Für den Kriegerstamm galt es als Versündigung gegen die Ahnen, wenn eine Frau vor dem Einsetzen ihrer Menstruation penetriert wurde. Zudem wurde die Missionarstochter von den Wilden als Weibchen des Leoparden verehrt, dem Totemtier ihrer Gemeinschaft. Der Legende nach wurde der Leopard aus Schnee und Eis geschaffen und seine Haut war weiß. Er stieg von den Berggipfeln herunter, ließ sich in der Wüste nieder und zog sich ein einfaches gelbes Fell über. Als der große Zauberer ihn zum König der Savanne ernannte, schmückte er ihn mit den dunklen Blüten.

Die Krieger bereiteten daher das Mädchen auf seine Bestimmung vor, indem sie ihm über Tage mit glühenden Eisen Rosetten in die weiße Haut brannten. Ihre Schamlippen und ihre Klitoris wurden weggeschnitten und Ringe in ihre Brustwarzen gepflanzt. Am Tag ihrer ersten Blutung wurde sie schließlich in das Haus des Medizinmannes gebracht. Sie musste zusehen, wie eine Pfahl in die Erde gehämmert wurde, bis er ihr nur noch bis zum Bauchnabel reichte. Dann wurde sie hochgehoben und mit der Stange zwischen den Beinen wieder abgesetzt. So stand sie da, mit gepfählter Scheide, während ihr ein Leopardengesicht ins Antlitz tätowiert wurde. Zwei Wochen später wurde sie auf ein Gestell gefesselt und von einem brünstigen Leoparden besprungen und besamt.

Im dritten Teil wurde das Mädchen schließlich, traumatisiert und geistig umnachtet, von einem Handelsreisenden entdeckt. Man brachte sie nach Schottland in das Schloss des Kaufmanns, wo sie mit ihrem neuen Herrn das Bett teilen musste. Aber bald verschenkte er sie einem Freund, mit dem er in Afrika war, einem anglikanischen Missionar, der sie nicht mehr erkannte. Das Buch endete damit, dass der eigene Vater das Leopardenmädchen schwängerte.

Serenus, der sonst in einer Nacht mehrere hundert Seiten verschlang, würgte vierzehn Tage lang an diesem Brocken. Die Lektüre von The Leopard Girl machte ihm zu schaffen. Die Schulstunden und die Pausen verbrachte er in Gedanken versunken und auch zu Hause redete er kaum ein Wort. Die Mutter nahm wie immer Rücksicht auf seine Verstimmungen und ließ ihn in Ruhe.

Am meisten machte ihm zu schaffen, dass der Vater ein solches Buch besaß. Ob er es gekauft oder geschenkt bekommen hatte? Wusste die Mutter, dass in ihrem Haus so etwas aufbewahrt wurde? Er grübelte darüber nach, wer dieses Buch geschrieben haben könnte. Was für ein Mensch war das? Weshalb setzte er einen solchen Text in die Welt? Zudem ärgerte er sich über die Hinterlist des Autors, die Verbrechen an der Missionarstochter, die er selber erfunden hatte, den Wilden in Afrika anzuhängen.

Seine Haltung gegenüber Rosanna hatte damit nichts zu tun. Dessen war er sich sicher. Dass sich zwei Menschen beim Liebesspiel grob anfassten, war etwas Anderes. Weder seine Gedanken noch seine Taten zielten auf Rosannas Demütigung ab. Wenn er sich vorstellte, sie wäre die Missionarstochter und dem allem ausgesetzt, wurde ihm auf der Stelle übel. Wie hatte er glauben können, mit Brunos Nachhilfestunden sei er auf alles Sexuelle vorbereitet? Von ihm hatte er erfahren, dass es Straftatbestände gab wie Unzucht an Minderjährigen und Nötigung zu unzüchtigen Handlungen. Er wusste, dass es Irre und Verbrecher gab. Er fand es auch richtig, wenn man sie in Anstalten und Gefängnissen einsperrte. Aber The Leopard Girl war etwas ganz Anderes, denn es zerstörte die Unschuld seiner Welt. Es war offenbar ein wertvolles Buch, von einem gebildeten Menschen geschrieben, von einem genialen Künstler illustriert und von einem Meister in Leder gebunden. Und diese unheilige Schrift hatte ihr Versteck im Aktenschrank des Vaters.

Das Leopardenmädchen erschütterte ihn in solchem Maße, dass er nicht wusste, an wen er sich wenden sollte. Selbst Rosanna musste alle Register ziehen, bis sie ihn dazu brachte, ihr sein Herz auszuschütten. Sie gab ihm Recht.

„Ich denke ähnlich wie du. Wenn ich einen Brutalofilm sehe, dann denke ich, dass solche Szenen nur von Menschen ausgedacht werden können. Weil nur die Menschen dazu fähig sind. Ich denke aber auch, dass die Menschen nur das tun, was sie gesehen haben. Die Gewalt kommt von den Bildern. Aber die Bilder kommen ebenso von der Gewalt.“

Rosanna versuchte aber auch, ihn zu beruhigen: „Vielen Menschen genügt die Einbildung. Der Mann, der das Buch geschrieben hat, wird wohl nie im Leben ein Mädchen misshandeln. Vielleicht ist es sogar gut, dass er es aufgeschrieben und sich so davon befreit hat. Vielleicht hätte er sonst etwas Schlimmes getan.“

Ein anderes Mal sagte sie. „Auch mir macht Pornographie Angst. Aber stell dir doch einfach mal vor, wir hätten uns zusammen das Leopardenmädchen ausgedacht. Wir hätten bloß rumgemacht und so getan. Verstehst du, was ich meine? Ein erfundenes Spiel. Etwa so, wie wenn du sagst, dass du mir die Brüste abbeißt. Das denkst du auch nicht wirklich. Wenn du zum Beispiel zu mir sagen würdest: ‚Jetzt brenne ich dir am ganzen Körper ein Leopardenfell ein’, dann würde ich doch total erregt davon. Es kann ja sein, dass ein Mann und eine Frau sich gemeinsam die Geschichte ausgedacht haben. Vielleicht stellten sie sich all das beim Vögeln vor.“

Als Rosanna ihn schließlich bat, ihr das Buch auszuleihen, zögerte er zuerst. Aber da er es selber gelesen hatte, konnte er ihr den Wunsch nicht ausschlagen. Sie schien auch nicht so empfindlich zu sein wie er selber. Am anderen Tag packte er es in seine Schultasche. Nach der letzten Stunde ging er zur Direktionssekretärin und bat um einen Kopierschlüssel. Er müsse für den Biologielehrer ein Skript für die Klasse vervielfältigen. Dabei streckte er der Dame ein Handout mit den menschlichen Geschlechtsorganen unter die Nase.

Sie sagte nur: „Na, so was...“, und händigte ihm schnell den Schlüssel aus. Serenus stand eine halbe Stunde lang an dem Xerox-Gerät und lichtete das Leopardenmädchen Seite um Seite ab. Er brachte den Schlüssel zurück, ging nach Hause und verstaute das Buch dort, wo es hingehörte. Die Kopien legte er zwischen seine Schulsachen.

Serenus war von der Gewalttätigkeit so benommen, dass er beim Sex mit Rosanna nicht bei der Sache war. Er brachte es nicht über sich, ihre Brüste und ihre Vulva anzufassen. Sie fühlte, dass er geschont werden wollte. So lagen sie oft einfach nackt auf seinem Bett und hielten sich umschlungen. Sie unterhielten sich und Rosanna streichelte ihn dabei. Pure Zärtlichkeit war für beide etwas Neues und einige Male schliefen sie auf diese Weise miteinander. Sie taten es wie in Zeitlupe, sahen sich dabei in die Augen und flüsterten sich verliebte Worte ins Ohr. Letztlich verdankten sie es brutaler Pornografie, dass sie diese sublime Form der Intimität entdeckten.

Das Außergewöhnliche an ihrer Liebe waren die Intensität und die Dauer sowie ihre Jugend. Serenus war erst dreizehn und Rosanna vierzehn Jahre alt, als sie ihre Kindheit hinter sich ließen. Sie liebten und begehrten sich vier Jahre lang. Sie hätten sich weiter geliebt und weiter begehrt, wenn Rosanna nicht eines Tages verschwunden wäre. Noch außergewöhnlicher an ihrer Liebe war, dass ihnen außer ihrer Hingabe keine Ausdrucksform zur Verfügung stand. Sie trafen sich eigentlich nur im Bett und unbekleidet.

Rosanna wurde von ihrem Vater und ihren Brüdern so sehr kontrolliert, dass sie gar keinen Freund hätte haben können. Da er aufs Gymnasium ging, schien es für sie naheliegend, dass sich die Kleine von Serenus bei den Hausaufgaben helfen ließ. Da Rosanna nicht mit Jungen ausgehen durfte, überlegte das heimliche Paar gar nicht erst, was sie gerne gemeinsam unternommen hätten. Es erschien gottgewollt, dass sie einfach zu ihm kam, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Ihre Sehnsucht war stärker als die Angst vor den Männern ihrer italienischen Familie.

Während der ersten zwei bis drei Jahre kamen sie ungefähr einmal pro Woche zusammen, dann verringerte sich die Häufigkeit ihrer Treffen auf ein bis zwei Mal pro Monat. Aber zu jener Zeit veränderte sich vieles. Einschneidend war vor allem, dass sein Vater in Rente ging und von einem Tag auf den anderen zu Hause blieb. Er saß in seinem Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit seinen Studien. Viele seiner Reisen hatten ihn in Entwicklungsländer geführt und er hatte dort Zeugnisse von Magie und Aberglaube gesammelt. Die primitiven Mythen und Weltanschauungen waren nun sein neuer Zeitvertreib. Der Vater begegnete zwar Rosanna mit Wohlwollen, aber es war doch anders als vorher, als sie sich in ihrer nahezu sturmfreien Bude austoben konnten.

Serenus wiederum ging neuen Verpflichtungen nach. Er besuchte die Tanzstunde und am Wochenende die Partys seiner Schulfreunde. Oft konnte er gar nicht anders, als ein Mädchen auszuführen, wenn er mit seiner Clique in die Disco oder zu einem Popkonzert ging. Serenus verehrte das andere Geschlecht und es gab immer ein weibliches Wesen, das ihn zeitweilig entzückte. Er ließ sich gelegentlich zu Knutschereien hinreißen, aber sobald es ernster wurde, nahm er Abstand.

Auch Rosanna veränderte sich. Sie besuchte die Berufsschule und machte gleichzeitig ein Praktikum als Bankkauffrau. Sie musste alles geben, um den Anforderungen zu genügen. Zudem war sie oft in sich gekehrt oder launisch. Manchmal brütete sie vor sich hin oder sie sagte verletzende Dinge, über die sie selber erschrak. Es kam immer öfter vor, dass sie seine Nähe nicht ertrug und sich hundert Mal dafür entschuldigte, dass sie so abgespannt sei. Sie stritten sich oft, aber jede Auseinandersetzung gipfelte darin, dass sie sich die Kleider vom Leibe rissen und über einander herfielen. In dieser Zeit verfestigten sich ihre Rollen. Rosanna unterwarf sich ganz seiner sexuellen Dominanz, während er sich von ihr nichts mehr gefallen ließ.

Einmal, als er Analverkehr mit ihr hatte, sagte er: „Ich könnte dich auch noch ins Gesicht schlagen und du würdest mich dafür anbeten.“

Es war nur dirty talking, wie sie es nannten, ihr Spiel, mit dem sie sich gegenseitig aufheizten. Aber als sie sich nach dem Orgasmus küssten, sagte sie: „Ich möchte wirklich wissen, wie es ist, wenn du mich dabei schlägst.“

Rosannas Anspannung wurde auch nicht besser, als sich ihre Eltern trennten. Es kam zu Alkoholexzessen und Gewalttätigkeiten ihres Vaters, die schon bald jedes Maß überschritten. Immer öfter musste die Polizei einschreiten und schließlich verfügte die Staatsanwaltschaft ein Hausverbot. Rosannas Vater zog vorübergehend in ein Männerwohnheim und kreuzte nur noch gelegentlich auf, um vor dem Mietshaus Radau zu machen.

Als ihr Vater endlich fort war, übernahmen die beiden Brüder vollends das Zepter und wurden dabei von ihrer Mutter auch noch unterstützt. Rosanna erklärte Serenus, dass es ihr zu anstrengend sei, ihnen Widerstand zu leisten. In ein paar Monaten habe sie die Abschlussprüfungen hinter sich und dann sei sie volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Er sagte nichts zu solchen Äußerungen, denn er hatte noch keine Vorstellung von der Zukunft. Ihm war wohl zu Hause bei den Eltern. Das Gymnasium würde noch zweieinhalb Jahre dauern und eine unabhängige Rosanna, die genug Geld verdiente, um sich eine eigene Wohnung zu mieten, konnte er sich gar nicht vorstellen. Aber er wusste, dass es ihr bitterer Ernst war. Sie hatte nur noch ihr Diplom und ihren achtzehnten Geburtstag im Kopf.


An einem Abend im Mai wollte der Vater, dass er ihn zum Biergarten am Fluss begleite. Serenus stand der Sinn überhaupt nicht danach. Er hatte Rosanna seit über zwei Wochen nicht gesehen und wollte sie nicht verpassen, falls sie in den nächsten Stunden auftauchen sollte. Als der Vater sein Zögern bemerkte, sagte er: „Ich habe dich nicht um deine Zustimmung gebeten. Ich habe beschlossen, dass heute der Tag ist, an dem der Filius seinem fünfzig Jahre älteren Vater Gesellschaft leistet. Geh und hol dir eine Jacke, falls es nachher kühl wird.“

Es war nicht Gehorsam oder Gefälligkeit, dass Serenus sogleich folgte. Er war neugierig und fühlte sich sogar ein wenig geschmeichelt. Serenus war etwa vierzehn gewesen, als er The Leopard Girl entdeckt hatte, und ging nun auf die siebzehn zu. In diesem ganzen Zeitraum hatte er mit dem Vater kein bedeutsames Gespräch geführt.

Der Biergarten war nur halb besetzt und so fanden sie eine ruhige Ecke, wo sie ungestört plaudern konnten. Sie tauschten die üblichen Belanglosigkeiten aus. Der Vater erzählte, womit er sich zurzeit beschäftigte, und wechselte dann das Thema.

„Woher kommt eigentlich neuerdings dein Interesse für die bildende Kunst?“

„Ach, das weißt du?“

„Die Mutter erzählt mir hin und wieder etwas.“

„Und mir sagte sie, dass du dich zu ihrem Leidwesen nie für moderne Malerei interessiert hast.“

„Es ist ja schon ein Wunder, dass ich mich auf meine alten Tage mit exotischer Folklore befasse. Aber früher interessierte ich mich ausschließlich für Technik.“

„Welche wiederum für mich kein Thema ist.“

„Weißt du, Serenus, ich musste mich fünfzig Jahre lang mit dem technischen Fortschritt befassen, von Berufes wegen. Aber meine übrige Lebenszeit möchte ich anderen Dingen widmen.“

„Es ist wegen der Lehrerin für Kunsterziehung. Sie ist gigantisch. Sie hat einfach begriffen, was abgeht.“

„Vielleicht drückst du dich so aus, dass auch ein alter Mann dir folgen kann“, sagte der Vater und lachte.

„Vor Ostern ging Gisela, so heißt die Lehrerin, mit uns in eine Fabrik, wo gebrauchtes Styropor wiederverwertet wird. So etwas Alltägliches und Unwichtiges wie Styropor! Ich hatte keine Ahnung. Das gibt es in allen Farben und Formen. In dieser Fabrik stellen sie aus den Abfällen nur Füllmaterial her. Sie machen Chips, Bohnen, Würfel, Kugeln und anderes. Das Zeug wird leicht eingefärbt und ist pastellfarben: zartrosa, schwefelgelb, mintgrün, fliederfarben. Und es gibt Tonnen davon. Eine ganze synthetische Galaxis!“

„Und was hat das mit Kunst zu tun?“

„Klar, dass du das fragst. Zuerst einmal gar nichts. Aber Gisela sagt, wenn die Griechen und die Römer mit simplen Steinen Kunst machten, Statuen und Mosaike zum Beispiel, dann sollten die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Vorstellungen mit Styropor ausdrücken.“

„Also habt ihr im Zeichenunterricht Bilder aus Styropor gemacht...“

„Gisela hatte die Erlaubnis vom Schuldirektor. In der Kunsterziehung gibt es ein Budget für Farben, Material, Museumsbesuche und so weiter. Jeder Schüler durfte zehn Kilo Styropor mitnehmen. Ich habe zwei riesige Mülltüten mit Löffelbiskuits abgeschleppt.“

„Löffelbiskuits?“

„Ich nenne sie so. Abgerundete Stangen, etwa fünfzehn Zentimeter lang, von beiger Farbe. Sie sind ein wenig unregelmäßig und sehen aus wie Körperteile. Wie Unterarme von Spielzeugpuppen, ohne Hände.“

„Und wie soll ich mir jetzt ein Kunstwerk aus Löffelbiskuits vorstellen?“

„Ich habe in der Eingangshalle der Schule auf dem grauen Kunststoffboden einen Kreis von zweieinhalb Meter abgemessen. Und dann habe ich mit Heißkleber die Teile senkrecht fixiert. Jedes Organ... ich meine, jedes Löffelbiskuit hat acht Zentimeter Abstand zum nächsten.“

„Ich kann es mir nicht vorstellen.“

„Du kannst es Dir gern anschauen. Ich darf es bis zu den Pfingstferien stehen lassen.“

„Hat es vielleicht etwas Anstößiges?“

„Total. Man denkt sofort an männliche Geschlechtsteile. Aber dafür sind die Styroporstangen ein wenig zu klein, so dass das Ganze irgendwie lächerlich wirkt.“

„Und was sagen die Leute, ich meine, die Schüler und die Lehrer?“

„Sie haben Spaß daran und finden es toll. Gisela hat übrigens daneben eine Tafel montiert. Darauf steht TAUSENDUNDEIN WICHTIGTUER.“

„Warum hat Deine Lehrerin dem Dingsda einen Namen gegeben?“

„Mir fiel nichts Gescheites ein. Ich hatte mir schon Titel überlegt. ‚Himmelwärts’, zum Beispiel, oder ‚Tausend Sünden’ oder ‚aufrechte Kerle’. Aber Gisela sagte, wir sollten es ins Absurde ziehen, damit niemand daran Anstoß nimmt.“

Der Vater dachte nach.

„Es gibt schon etwas Gemeinsames zwischen Deiner Arbeit und einem antiken Mosaik. Ich habe in Rom eines gesehen, das kreisrund war und aus verschlungenen Linien in zwei Farben bestand.“

Sie schwiegen eine Weile und Serenus überlegte, was er dem Vater erwidern sollte.

„Man kann immer etwas Neues auf etwas Altes beziehen. Man nimmt ein Bild von Dalí und hält eines von Hieronymus Bosch daneben. Aber Gisela sagt, dass nicht die Kontinuität das Interessante an der Kunst sei, sondern die Brüche.“

Der Vater sah seinen Sohn fragend an und Serenus fuhr fort.

„Die Welt war während hundert Jahren ein Versuchslabor, sagt Gisela. Zwischen 1850 und 1950 wurde nur experimentiert. Hundert Jahre Frankenstein, nennt sie es. Dazu gehören die Psychoanalyse und der Marxismus, die Zwölftonmusik und der Jazz, das Bauhaus und der Expressionismus, die Vollnarkose und das Penicillin, die Atomphysik und die Konzentrationslager.“

Der Vater runzelte die Stirn.

„Die ganze Moderne war nichts als ein blasphemisches Monstrum, das sich selbständig gemacht hat?“

„Es musste einmal einen Bruch geben. Seit den Pharaonen war alles auf Herrscher, auf Götter und auf das Jenseits ausgerichtet. Man kann doch nicht dauernd alles einer Idee unterordnen.“

„Was weißt du denn von dieser Gisela?“ wollte nun der Vater wissen.

„Als Kind nahm sie Ballettstunden. Während dem Gymnasium trainierte sie wie eine Verrückte und ging nach dem Abi auch wirklich als Tänzerin zum Theater. Dann musste sie zwei Jahre lang wegen einer Verletzung aussetzen. Mehr aus Langeweile begann sie ein Studium in Kunstgeschichte. Sie ging nicht ans Theater zurück, sondern studierte weiter und lebte davon, dass sie Gymnastik- und Ballettunterricht für Kinder gab. Seit zwei Jahren arbeitet sie nun am Humboldt-Gymnasium. Wir waren ihre erste Klasse.“

„Sie ist also noch jung?“

„Um die Dreißig.“

„Dann kam sie auf die Welt, als Frankenstein schon gestorben war“, schmunzelte der Vater. „Was war denn anders in der Kunst, nachdem der moderne Mensch mit Göttern und Geistern gebrochen hatte?“

„Das Abstrakte und das Individuum.“

„Das ist mir zu allgemein. Erkläre es mir.“

„Es geht darum, dass der Künstler schon in der Antike einem Gesetz gehorcht. Er ist einer göttlichen Harmonie verpflichtet, deren Spuren er in der Natur suchen muss. Zur Harmonie hat der Mensch keinen Zugang, denn sie ist irgendwo im Kosmos verborgen. Gott schuf die Natur nach seinem Gesetz. Der Künstler muss diesem Gesetz folgen. Das ging während mehr als zwei Jahrtausenden so. Aber plötzlich lehnen sich die Menschen gegen diesen göttlichen Maßstab auf. Zuerst ist natürlich der Teufel los, als die Impressionisten und Expressionisten loslegten. Ich muss dir wohl nichts von entarteter Kunst erzählen. Das hast du ja selber miterlebt.“

Der Vater überhörte den letzten Satz.

„Aha. Mit Abstraktion meinst du also die Abwendung von der Natur. Und das Individuum?“, fragte er.

„Nach dem zweiten Weltkrieg lag nicht nur die Welt in Trümmern, sondern auch die Gesellschaft und die Kultur. Niemand, der darüber nachdachte, glaubte noch an ein göttliches Gesetz. Heute macht der Künstler, was er will, und das Publikum akzeptiert das inzwischen auch. Er kann wild drauf los schmieren oder eine pedantische Geometrie zeichnen oder ein gefundenes Stück Abfall auf einem Sockel ausstellen.“

„Und was ist damit gewonnen, wenn die Kunst nicht mehr nach harmonischer Schönheit strebt?“

„Letztlich nicht viel. Kunst ist heute leider genauso elitär wie im Mittelalter. Es wird wohl nie so sein, dass alle Menschen Künstler sind. Aber mich interessiert, wie Menschen sich ausdrücken und wie unterschiedlich.“

„Klar. Es ist offensichtlich, dass es dich interessiert. Hast du Pläne in dieser Richtung?“

„Vielleicht studiere ich nach dem Abi Kunsterziehung.“

„Du wirst es durchziehen. Du hast einen langen Atem und einen starken Willen. Mit Rosanna bist du auch schon drei Jahre zusammen.“

„Bald vier Jahre!“, korrigierte Serenus den Vater.

„Du hast dir da etwas Schwieriges ausgesucht.“

„Pass auf, was du sagst.“

„Ich rede nicht von ihr als Mensch. Wir, die Mutter und ich, haben immer respektiert, dass du mit Rosanna zusammen bist. Aber jeder kann sehen, dass sie kein glückliches Mädchen ist.“

„Ich bin froh, dass ihr nie etwas gesagt habt. Ich meine, ihr habt nie etwas gesagt wegen ihrer Familie.“

„Weil sie Italiener sind?“

„Das vielleicht auch. Weil sie eine Plage sind, ganz im Ernst. Giuseppe und Paolo sind Halbstarke oder Kriminelle und der Vater ist ein Psychopath. Rosanna verliert nie ein Wort darüber. Trotzdem spürt man, dass sie zu Hause terrorisiert wird.“

„Und wie wird sie damit fertig?“ fragte der Vater.

„Schlecht. Aber sie hat einen Plan. Sie glaubt, sie kommt heil davon, wenn sie ihr Ziel erreicht. Sie wartet nur darauf, dass sie die Flatter machen kann.“

„Und wie kommst du klar? Ich finde, dass sie seit einiger Zeit ziemlich mürrisch und unzugänglich ist, wenn du mir erlaubst, es so zu nennen.“

„Wir sehen uns ja nicht so oft. Aber wenn sie kommt, taut sie fast immer auf. Sie geht auch nie im Streit weg. Wir haben eigentlich nie lange Knatsch zusammen.“

„Du bist ja offenbar auch ziemlich verrückt nach ihr.“

„Sex ist wichtig. In meiner Klasse gibt es viele Jungs, die Frust schieben. Ich glaube, ich bin der einzige in meinem Jahrgang, der sich austobt.“

Der Vater schmunzelte.

„Ich war früher auch verrückt nach Sex.“

„Früher ist gut“, entfuhr es Serenus.

„Wieso sagst du das?“, fragte der Vater. „Du kannst offen mit mir reden.“

„Vor etwa drei Jahren machte mir dein Leopardenmädchen zu schaffen. Ich nahm dir diese Sache ziemlich übel.“

Der Vater kramte in seinem Gedächtnis und murmelte: „Leopardenmädchen? Kannte ich ein Leopardenmädchen?“

„Erinnerst du dich etwa nicht an das Buch? The Leopard Girl?“, fragte Serenus. Doch der Vater sah ihn ratlos an.

„Willst du mir nicht auf die Sprünge helfen?“

Serenus erklärte dem Vater, wie er das Buch gefunden und gelesen und was es bei ihm ausgelöst hatte. Dann umriss er mit ein paar Sätzen das traurige Schicksal der Missionarstochter. Der Vater pfiff durch die Zähne.

„Mensch, Serenus, das tut mir leid. Wahrscheinlich liegt das Buch immer noch dort. Ich habe es nie gelesen. Ich kann mich vage an die Bilder erinnern. Das ist ja ein Ding! Dein Onkel hat es mir mal geschenkt oder ausgeliehen. Du weißt schon, Onkel Goldfinger mit dem Aston Martin.“

Serenus sah keinen Grund, an der Aufrichtigkeit seines Vaters zu zweifeln.


Die Mutter wusste es. Serenus kam von der Schule nach Hause. Als sie ihn ansah, wusste er, dass er das, was sie wusste, nicht hören wollte. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war bestürzt von einem unermesslichen Leid. Er fühlte sogleich, dass ihr Leid nichts Anderes war, als ein schreckliches Mitleid, das sie für ihn, ihren Sohn, empfand. Es ging weder um den Vater noch um den Bruder. Wenn ihnen etwas zugestoßen wäre, hätten sie ein geteiltes Leid gehabt, dann hätte die Mutter seinen Trost ebenso gebraucht wie er den ihren. Als sie ihn ansah, wusste er, dass jemand verloren war, und dass dieser jemand er selber war. Sie begann lautlos zu weinen. Tränen quollen aus ihren Augen und liefen über ihr Gesicht. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber Serenus wich zurück. Er drehte sich um und ging zur Tür. Er wollte zurück zur Schule, um nochmals nach Hause zu kommen. Er wollte erneut heimkehren und seine Mutter lächeln sehen, so wie sie ihm gestern und vorgestern zugelächelt hatte. Stattdessen drückte er seine Stirn gegen die Tür und fragte mit einer ihm selber fremden Stimme: „Rosanna?“

Die Mutter kam näher und blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.

„Rosanna ist fortgegangen. Sie hat alle persönlichen Dinge mitgenommen. Sie hat niemandem ein Wort gesagt. Die Polizei hat herausgefunden, dass sie einen Flug nach Rom gebucht hatte. Aber sie werden sie nicht suchen, denn sie hat ja nichts verbrochen. Sie ist achtzehn und darf gehen, wohin sie will. Ich weiß es von der alten Frau, die drüben wohnt, die Nachbarin von Rosanna und ihrer Familie, Frau Tagliaferri, die mit dem Pudel. Sie kam herüber, um es mir zu erzählen.“

„Ich warte, bis sie zurückkommt“, sagte Serenus ruhig. Er ging an seiner Mutter vorbei hinauf in sein Zimmer, legte die Schultasche auf den Schreibtisch, warf sich auf sein Bett und schloss die Augen. Hier bleibe ich liegen, dachte er, bis ich Rosannas Stimme höre. Unten ging die Mutter leise in die Küche. Dann verstarb jedes Geräusch.

Es gab keine Hoffnung mehr. Rosanna hatte die Flucht ergriffen. Allein die Tatsache, dass die alte Tagliaferri ein fremdes Haus betrat, um eine solche Nachricht zu überbringen, war Beweis genug. Sie wohnte im gleichen Mietshaus und Rosanna nannte sie Tante, obwohl sie nicht verwandt waren. Jetzt begriff er, warum sie sich ihrer Sache so sicher gewesen war. In den letzten Wochen hatte sie mehrmals gesagt, dass die schlimmste Zeit ihres Lebens bald zu Ende sei. Zu ihrem Geburtstag wollte Serenus für sie beide Freundschaftsringe kaufen. Aber sie sagte zu ihm, dass sei Kinderkram und passe nicht zu ihrem Erwachsenwerden. Sie wünsche sich etwas, was sie ihr ganzes Leben lang tragen könne. So suchte er ihr goldene Ohrstecker mit Steinen aus hellblauem Topas aus. Als er ihr das Geschenk überreichte, packte sie es aus und zog sich den Schmuck an.

Sie sagte zu ihm: „Ich behalte sie an. Von heute an werde ich denen nichts mehr erklären. Du musst mir eines glauben, Serenus. Ich würde niemals etwas tun, um dich zu verletzen. Du darfst niemals denken, ich wäre böse mit dir oder ich würde dich nicht mehr lieben.“

„Ich weiß, Rosanna. Du hast doch immer gesagt, du seist die Frau, die noch nach ihrem Tod weiterliebt.“

Sie sah in ganz seltsam an und erwiderte. „Jetzt bin ich die Frau, die weiterliebt, solange sie lebt.“

Während ihrer Prüfungen trafen sie sich einmal und danach noch einmal. Serenus hatte sich gefragt, wo sie auf einmal diese Ruhe hernahm. Es war jetzt eine Woche her, dass sie ihm ihren Gesellenbrief gezeigt hatte.

„So“, sagte sie gleichgültig. „Das war es also. Ich hoffe, dass der Kampf irgendetwas Gutes hatte.“

Das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern, welche Worte sie zum Abschied gewählt hatte. Es fiel ihm nicht mehr ein. Sie war schnell gegangen und hatte sich ganz flüchtig verabschiedet, so als ob sie gleich wiederkäme.

Er lag den ganzen Nachmittag auf dem Bett. Immer wieder sah er das Bild vor sich. Wie sie im Flugzeug saß und die Stecker mit den blauen Steinen trug. Er kannte Rosanna so gut. Er wusste, dass sie während des ganzen Fluges geweint hatte. Dieses Bild von dem Mädchen mit dem glitzernden Topas im Ohr, das im Flugzeug sitzt und schluchzt, tauchte noch jahrelang in seiner Vorstellung auf.

Wie immer, wenn er Kummer hatte, ließ ihn die Mutter in Ruhe. Erst als es Abend wurde, kam sie zu ihm ins Zimmer und setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie hielt einen Schwenker mit Brandy in der Hand. Etwas schüchtern sagte sie: „Als ich jung war, habe ich Opas Cognac ausgetrunken, wenn ich traurig war. Es half.“

Serenus setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er nahm das Glas aus ihrer Hand und trank in winzigen Schlucken. Er fühlte, wie sich die Wärme des Alkohols in seinem Bauch ausbreitete und wie sich die Gedanken in seinem Kopf zur Seite legten.

„Ich mochte euch als Paar.“ sagte die Mutter leise. „Wenn es auch nicht einfach war mit der ganzen Heimlichkeit. Am Anfang war ich besorgt. Ich dachte, du wärst zu jung für so etwas. Ihr habt euch abgesondert. Ihr lagt zusammen im Bett oder hattet Streit. Das passte nicht in dieses Haus. Aber gerade deswegen mochte ich sie mit der Zeit. Sie gab dir etwas, was du von uns nicht bekommen konntest. Dieses Lebendige, Feurige, Laute. In meinem Leben gab es das nie.“

Darauf wusste Serenus nichts zu antworten. Was sie sagte, war richtig. Auch dass sie von Rosanna wie von einer Toten sprach, war angemessen. Wäre sie ums Leben gekommen, dann wäre er jetzt fast so etwas wie ein Witwer. Das wäre vielleicht einfacher. Dennoch wollte er Rosanna am Leben wissen. Eine Tote zu betrauern, das war nicht sein Ding. Er wollte unglücklich sein, weil das Unglück in dieser Lage der einzig mögliche Weg war.

„Ich werde leiden, Mutter“, sagte er schließlich. „Das wird dauern. Vielleicht so lange, wie ich hier bei euch wohnen bleibe. Solange ich hier lebe, wird auch Rosanna immer anwesend sein. Niemand kann es mir ersparen. Ich kann es euch auch nicht ersparen. Aber in zwei Jahren mache ich mein Abi und danach gehe ich für ein Jahr nach Italien. Und jetzt möchte ich noch einen Schnaps.“

In den Tagen vor den großen Ferien wurde im Klassenzimmer mehr getuschelt und gekichert als sonst. Die Zeugnisse waren schon verteilt worden und niemand nahm den Unterricht noch ernst. Die Lehrer gaben keine Hausaufgaben mehr auf und hielten keine Prüfungen mehr ab. Zeichnen war das das letzte Fach am Freitagnachmittag. Serenus trödelte mit seinen Sachen so lange herum, bis die anderen Schüler gegangen waren. Gisela bemerkte es und kam zu seinem Tisch.

„Ich habe dir eine 1.5 gegeben, weil du mit den letzten zwei Arbeiten nicht fertig geworden bist. Für dein Können und deine Fortschritte hättest du schon eine Eins verdient“, sagte sie. Serenus schüttelte irritiert den Kopf.

„Ich will keine halben Punkte geschenkt.“

„Ganze Punkte kann ich dir nicht mehr geben.“

Sie lachte. Serenus begriff sofort, dass dies seine Gelegenheit war.

„Wie viele ganze Punkte habe ich denn bei dir?“, fragte er ohne zu zögern. Auch jetzt lachte sie.

„Ich bin Deine Lehrerin...“

Wieder fiel ihm die richtige Antwort ein.

„Ich bin dein Schüler, aber nur noch heute. Morgen beginnen die Ferien.“

„Na und?“

„Kein Klassenzimmer mehr und auch kein Lehrerzimmer.“

„Stimmt“, sagte Gisela etwas unsicher, „wir werden uns sieben Wochen lang nicht über den Weg laufen.“

„Ich wollte dir auch nicht über den Weg laufen.“

„Was möchtest du dann?“, fragte sie.

„Ich möchte dich in eine Kunstausstellung mitnehmen, Gisela.“

„Ach ja?“

„In der Staatsgalerie ist dieses Riesending. Da möchte ich nicht alleine hin.“

„Du meinst Ausblicke. Ich habe die Ausstellung schon zweimal besucht. Warum sollte ich sie mir ein drittes Mal ansehen?“

„Damit ich dich Dinge fragen kann.“

Gisela antwortete nicht, sondern wartete auf eine Erklärung.

„Kannst du mir zeigen, wie sie es machen? Kannst du mir erklären, wie solche Bilder entstehen?“

„Das ist alles? Du willst nur wissen, wie sie dabei vorgehen? Wie erschaffen Warhol und Lichtenstein und Riley und Twombly ihre Werke? Ist das das deine Frage?“

Serenus sah sie nur an. Sie hatte verstanden, was sein Wunsch war.

„Und wozu?“

„Weil ich es auch ausprobieren möchte.“

„Ich denke darüber nach. Ruf mich am Wochenende an. Und jetzt zieh’ Leine.“


In der Nacht vor seiner Verabredung mit Gisela träumte er diesen unsinnigen Traum. Er rannte eine Treppe hinauf auf einen gläsernen Eingang zu. Als er die Türen erreichte, hielt ihn ein uniformierter Wächter auf. Serenus wollte ihm entwischen, aber der Mann packte ihn bei den Handgelenken. Über ihnen an der Wand hing eine große Uhr mit digitaler Anzeige. Sie zeigte 16.55. Der Türsteher sagte: „Es gibt keine Ausblicke. Der Papst war hier und hat alles konfisziert. Der Jugendschutz hat ausgedient.“

Gisela saß schon im Museumscafé und erwartete ihn. Vor ihr auf dem Tisch lagen zwei Freikarten, die sie über die Schule organisiert hatte. Zum Ausgleich übernahm Serenus die Getränke. Als er sich hingesetzt hatte, erläuterte Gisela, was ihm bevorstand.

„Wir beschränken uns auf den Schaffensprozess. Damit haben wir genug zu tun. Alles andere musst du vergessen, Stil, Bildinhalt, Persönlichkeit und Lebensgeschichte des Malers.“

Serenus war einverstanden.

„Ich habe keine Lust“, fuhr sie fort, „dir zu jedem Bild einen Vortrag zu halten. Wir drehen den Spieß ein wenig um.“

Er sah sie fragend an.

„Ich erkläre dir jetzt, wie du sehen musst. Wie ein Geologe. Du weißt wohl, was Sedimente sind?“

Serenus nickte.

„Bilder sind wie der Meeresgrund. Der Künstler trägt eine Schicht nach der andern auf. Zuunterst ist die Leinwand, die Pappe, das Holz oder sonst etwas. Darauf wird der Grund aufgetragen. Der Grund selber kann schon aus mehreren Schichten bestehen. Dann malt der Künstler das erste Sediment mit einer oder mehreren Farben. Vielleicht lässt er diese erste Schicht trocknen, aber vielleicht ist sie noch nass, das kann man sehen, wenn er die nächste Schicht aufträgt. Und so geht das weiter. Man kann fast bei jedem Bild herausfinden, welches Sediment schon fertig war und welches als nächstes dazukam. Besonders spannend ist das bei den Mischtechniken, wo Öl, Wasser und Stift in wechselnder Folge benutzt wurden. Aber auch beim Siebdruck sieht man gut, welche Farbe über der anderen liegt. Du wirst sehen, dass diese Sedimente das Wesen der modernen Kunst ausmachen.“

Serenus war verblüfft. „Aber die Alten haben doch auch in solchen Schichten gemalt“, wandte er ein.

„Nur, wenn es technisch nicht anders zu lösen war. Wenn sie konnten, malten sie nebeneinander, nicht übereinander. In der Moderne und in der Gegenwart wird mit dieser Überlagerung Tiefe und Dichte erzeugt. Im Mittelalter und in der Klassik war das anders. Aber das müsstest du eigentlich wissen.“

Serenus wollte die Prüfung bestehen.

„Logisch. Sie arbeiteten mit der Perspektive und ihren Ebenen, mit Vordergründen und Hintergründen. Willst du sagen, dass die Ebenen der Alten in der Moderne von den Schichten abgelöst wurden?“

„Das ist genau der Punkt. Du darfst es nicht zu sehr vereinfachen. Aber jetzt gehen wir. Denk daran, dass ich schon zweimal hier war. Du musst mir schon etwas bieten, damit ich mich nicht langweile.“

Es war tatsächlich genau so, wie Gisela es ihm erklärt hatte. Natürlich arbeiteten nicht alle Künstler gleich und manche Bilder waren vielschichtiger als andere. Das Spannende aber war, dass man nachvollziehen konnte, wie die Sedimente übereinandergelegt worden waren. Gisela sagte fast nichts. Serenus hingegen geriet in Fahrt und redete wie ein Wasserfall. Auf diese Weise beschrieb er etwa zwanzig Werke. Das letzte Bild, das sie zusammen untersuchten, war ein großes Querformat. Es war knapp einen Meter hoch und etwa fünf Meter breit. Es bestand aus rhythmischen Abfolgen von Linienmustern, die aus Klecksen und Farbtropfen zusammengesetzt waren. Der Maler hatte ein Dutzend Farben verwendet. Serenus erklärte Gisela, dass er mit Schwarz begonnen hatte, dann folgte Dunkelgrau. Die dritte Schicht musste das Türkis gewesen sein. Danach folgte nochmals ein Schwarz, welches aber einen Farbstich hatte. Dann kam Karmesinrot und darüber Gelb. Und so weiter.

Als sie nach zwei Stunden die Ausstellung verließen, sagte Gisela: „Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Das Weitere ist deine Sache.“

Sie spazierten zusammen bis zu den Kneipen am Fluss, wo man draußen sitzen und den Menschen beim Flanieren zuschauen konnte. Sie bestellten Radler und als die Getränke auf dem Tisch standen, schaute Gisela auf die Uhr.

„Es ist bald fünf.“

Serenus betrachtete seine Digitalanzeige und antwortete:

„16.55. Na so was. Davon habe ich letzte Nacht geträumt.“

„Wie? Du hast von dieser Uhrzeit geträumt?“ Es klang ungläubig.

„Tatsache! Aber es war völlig wirr.“

Er schilderte, wie der Sicherheitsmann ihn am Besuch der Ausstellung hinderte und welche hohle Erklärung er ihm dafür gab. „Es gibt keine Ausblicke. Der Papst war hier und hat alles konfisziert. Der Jugendschutz hat ausgedient.“

„Du magst Deinen Traum nicht“, stellte Gisela fest.

„Wieso soll ich nicht in diese Ausstellung dürfen? Weil der Papst sie verbietet? Das ist doch meschugge.“

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie und setzte sich kerzengerade auf.

„In einem Monat werde ich siebzehn, auf den Tag genau. Warum?“

„Du bist eigentlich erst sechzehn, aber nicht mehr lange.“

Serenus runzelte die Stirn. Plötzlich spitzte er die Lippen und stieß einen Pfiff aus.

„Gütiger Gott! Darauf wäre ich nie gekommen! Die Uhr ist ein Kalender. Es sind gar nicht Stunden, sondern Jahre. In meinem Leben ist es fünf vor siebzehn Uhr.“

Nach einer Weile sagte er trotzig: „Na wenn schon. Tatsache ist, dass ich soeben in der Ausstellung war und alle Bilder noch dort hingen.“

Gisela machte Anstalten, den Rest ihres Radlers auszutrinken. Serenus gab einen tiefen Seufzer von sich.

„Das wird der traurigste Geburtstag meines Lebens. Rosanna sitzt irgendwo in Rom oder weiß Gott wo und wird nie mehr zu mir zurückkehren.“ Beinahe hätte Serenus zu weinen begonnen.

„Habe ich richtig gehört? In Rom oder weiß Gott wo? Dann hätte sie es zum Papst wirklich nicht mehr weit. Der Heilige Vater hat also deine große Liebe zu sich geholt.“

Serenus sah Gisela gebannt an.

„Ja. Sie flog nach Rom. In die Heilige Stadt. Es ist wirklich wahr. Einen Monat bevor ich siebzehn werde. Und die Aussichten sind schlecht“, sagte er langsam.

„Es gibt keine Ausblicke, jedenfalls nicht für dich und deine Rosanna. Es geht gar nicht um die Ausstellung. Jetzt fehlt noch das Rätsel mit dem Jugendschutz. Ist sie so viel älter als du?“

„Nur ein Jahr. Sie wurde vor einem Monat volljährig. Das ist alles.“

„Du bist vielleicht ein schräger Vogel“, sagte sie schließlich. „Warst du lange mit dem Mädchen zusammen?“

„Vier Jahre“, flüsterte Serenus.

„Du kommst jetzt gleich mit zu mir und dann erklärst du mir genauer, was los ist.“

Sie winkte der Bedienung und bezahlte. Serenus folgte ihr zum Standplatz, wo ein Taxi wartete.

Als sie in ihrem Wohnzimmer standen, sagte Gisela: „Für die nächste halbe Stunde verschwinde ich in der Küche. Du hast bestimmt auch Hunger. Möchtest du solange etwas lesen oder Musik hören? Fernsehen kann ich dir nicht anbieten.“

Serenus warf einen Blick auf das große Sofa, das mit dunkelrotem Leder bezogen war.

„Am liebsten würde ich mich einfach nur hinlegen.“

„Gut. Dann mache ich die Küchentür zu.“

Sie verschwand und schloss die Tür hinter sich.

Serenus streckte sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen. Er sah Rosanna vor sich, wie sie im Flugzeug saß, den Kopf zum Fenster abgewandt, mit bebenden Schultern und tränennassen Wangen. Und wieder sah er ihr dabei zu, wie sie das Döschen aus dem Geschenkpapier schälte und die blauen Steine an ihren Ohren befestigte. Doch die Bilder verschwanden und er fühlte nur noch ihre Haut auf seiner Haut. Er roch die Schwärze ihrer Locken und schmeckte ihren Atem auf seiner Zunge. Dann fiel er rückwärts in die dunkle Tiefe.

Er erwachte, als Gisela auftrug. Eine Schüssel mit Spaghetti, ein Pfännchen mit Tomatensauce und zwei Teller mit Blattsalat. Zum Schluss brachte sie eine Flasche Wein und zwei Gläser aus der Küche. Sie trat zu Serenus, nahm ihn an seinen beiden Händen und half ihm mit einem Ruck auf die Füße. Sie hatten beide Hunger und langten zu. Sie redeten kaum dabei. Als Serenus seinen Teller zurückschob, sagte Gisela zu ihm: „Es ist am einfachsten, wenn du von vorne beginnst. Wie hast du Rosanna kennengelernt? Was ist in den vier Jahren alles passiert? Schön der Reihe nach, bitte.“

Er erklärte ihr, dass er Rosanna immer schon gekannt und gemocht hatte, dass sie Nachbarskinder waren und zusammen im Sandkasten gespielt hatten. Er beschrieb ihr italienisches Temperament und ihre Wildheit. Wie sie auf Bäume kletterte und mit Jungen kämpfte. Er erzählte, wie er aufs Gymnasium kam und für Mädchen zu schwärmen begann, die viel stiller und zurückhaltender waren, und dass er eigentlich gar nicht in Rosanna verliebt gewesen war. Er erinnerte sich, wie sie zu schmusen anfingen und wie daraus eine sexuelle Beziehung entstand. Er erwähnte die Sache mit der Pille, die die Mutter alle drei Monate besorgt hatte. Dann sprach er davon, dass Rosanna von ihrer Familie kontrolliert worden war, dass sie nicht mit Jungen ausgehen durfte, dass sie sich immer heimlich treffen mussten. Er schilderte, welche Ängste Rosanna deswegen ausstand, wie wenig Zeit sie für einander hatten, wie sie sie im Schlafzimmer und im Bett verbrachten.

Er kam auf ihre Veränderung zu sprechen, dass sie immer launischer und verschlossener wurde, bis er nicht mehr wusste, was sie dachte und was sie vorhatte. Er berichtete, wie sie ihre Ausbildung begonnen hatte, dass sie ihren ganzen Ehrgeiz mobilisierte und dass sich schließlich alles auf ihren Abschluss und auf ihren achtzehnten Geburtstag hin zuspitzte, bis zu dem Tag, wo er von seiner Mutter erfuhr, dass sie nach Rom geflogen war und nur das Wichtigste mitgenommen hatte. Zum Schluss führte er aus, wie er die letzten Wochen verbracht hatte, dass er kaum noch etwas fühlte, weil er den Schmerz in seinem Inneren gar nicht aushalten könnte.

„Rosanna liebt dich mit Haut und Haar, mit ihrem ganzen Wesen. Sie hat nur dich. Du bist der einzige Mensch in ihrem Leben. Sie gehört dir ganz allein. Du bist ihr Mann.“

Serenus sah seine Lehrerin an und schwieg. Genau so war es. Nein, er zweifelte nicht an Rosannas Liebe. Ihr Verschwinden hatte damit nichts zu tun. Wenn sie aufgehört hätte, ihn zu lieben, wäre sie nicht auf diese Weise weggegangen. Es gab keinen anderen Mann. Niemand hatte sie in Rom erwartet. Sie war mit nichts außer ihrer Liebe geflohen. Ihm war die ganzen Tage hindurch immer klarer geworden, dass es etwas Drittes gab, etwas Unaussprechliches, etwas, das mit Hass und Ekel zu tun hatte. Aber es betraf nicht ihn. Auch er gehörte ihr allein. Er hatte nie daran gedacht, sich ein anderes Mädchen zu nehmen.

„Rosanna war weiter als ich, entwicklungsmäßig, meine ich. Das habe ich erst in letzter Zeit begriffen. Ich bin nur ein Gymnasiast. Ich lebe von Schulstunde zu Schulstunde und von Ferien zu Ferien. Ich habe keinen Ärger und muss keine Probleme lösen. Bei Rosanna war das anders. Sie musste sich überlegen, was für ein Leben sie leben wollte. Das wusste ich nicht. Oder doch? Vielleicht ahnte ich es, aber ich kümmerte mich nicht darum. Woher sollte ich denn wissen, dass sie um ihr Leben kämpfte? Weiß ich überhaupt, was es heißt, zu kämpfen? Rosanna hatte verstanden, dass sie eine einsame Entscheidung treffen musste, weil sie nicht mit mir rechnen konnte. Ich habe sie verraten, indem ich einfach kindisch und gedankenlos war.“

„Ihr seid ein erstaunliches Paar“, fasste Gisela zusammen. „So etwas gibt es nur selten. Es macht mich glücklich, dass es überhaupt möglich ist. Es gibt wenig Jungs zwischen dreizehn und siebzehn, die sich so auf ein Mädchen einlassen und eine solch tiefe Bindung eingehen. Ich kenne auch keine Mädchen zwischen vierzehn und achtzehn, die sich so vorbehaltlos für einen Mann entscheiden. Du hast etwas Einzigartiges erlebt mit Rosanna und für sie gab es nichts Besseres als dich.“

„Das mag schon sein“, erwiderte Serenus, „aber es ist ein Problem. Jetzt ist es ein Problem, fürchte ich.“

Gisela sah ihn neugierig an.

„Für mich gibt es kein anderes Mädchen. Ich hänge an ihr. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie abgehauen ist. Ich weiß, dass sie nicht zu mir zurückkehrt. Ich gehe weiterhin zur Schule und erledige meine Dinge. Aber ich weiß nicht mehr, was aus mir werden soll. Rosanna zu lieben, ist mir noch wichtiger geworden, jetzt, wo es sie nicht mehr gibt.“

„Ich weiß auch nicht, was aus dir werden soll“, erwiderte Gisela. Ihre Ratlosigkeit war augenscheinlich.

„Was du mir heute von den Sedimenten erklärt hast, wird mir vielleicht weiterhelfen. Ich denke, dass die Seele auch wie ein Meer ist, das Stoffe ausscheidet, die sich in Schichten ablagern: Zuneigung, Enttäuschung, Leidenschaft, Entsetzen, Freude, Trauer. Und so weiter. Ich möchte so malen, dass die Farbschichten den Seelenschichten entsprechen.“

„Du hast also nicht vor, Landschaften, Stillleben und Portraits zu malen.“

„Nicht unbedingt. Oder vielleicht doch. Auch Figürliches kann vielschichtig sein. Ich weiß es nicht. Ich werde mit meinen Eltern vier Wochen auf Rhodos verbringen. Ich brauche Farben, Pinsel und Papier, sonst sterbe ich sicher vor Langeweile... und vor Sehnsucht nach Rosanna.“

„Ich weiß, was du brauchst. Im Supermarkt gibt es diese kleinen Farbkästen mit zwölf Tuben Gouache, Made in China. Die Qualität ist erstaunlich. Am besten kaufst du dir gleich ein paar Schachteln und ein Kilo weiße Dispersion vom Baumarkt. Weiß braucht man am meisten. Ich besorge dir richtige Pinsel und einen Packen holzfreies Büttenpapier. Gouache auf Ingres ist das Beste für den Urlaub. Die Farbe trocknet so schnell, dass du sie im Nu übermalen kannst.“

„Danke. Das sind tolle Tipps. Ich werde alles genau so machen.“

„Morgen wollte ich sowieso in der Schule noch ein paar Dinge erledigen. Komm doch einfach am Nachmittag vorbei.“

„Dann mache ich mich jetzt mal auf den Heimweg. Wir sehen uns morgen. Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken soll.“

„Denk nicht darüber nach. Dafür hast du mir deine Geschichte mit Rosanna anvertraut. Wetten, dass du sie noch nie jemandem erzählt hast?“


Die vier Ferienwochen auf Rhodos wären tatsächlich um ein Haar todlangweilig geworden. Der Vater las den ganzen Tag Bücher über Zauberei in Lateinamerika und die Mutter putzte das Häuschen, das sie gemietet hatten, ging zum Markt einkaufen und widmete sich der griechischen Küche. Serenus schleppte den verwitterten Holztisch, der unten auf der verdorrten Wiese stand, auf die schattige Terrasse und überklebte ihn mit einer dicken Schicht aus alten Zeitungen. Der Tisch war groß genug, um darauf zehn Blätter und ein paar Pappteller auszulegen. So malte er Serien von zehn Bildern in der jeweils gleichen Farbkombination. Da er mit den Farbtuben geizte und mit der weißen Dispersion großzügig war, entstanden zarte pastellfarbene Blätter.

Er sehnte sich nach Rosanna und fühlte nichts außer diesem tiefen Riss in seiner Seele. Diese Empfindung wollte er darstellen: leere Öffnungen, blinde Fenster, leblose Flächen, erloschene Schatten. Die Mutter stellte einen Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer neben den Maltisch und setzte sich immer wieder dorthin, um ihm beim Malen zuzuschauen. Einmal, als er eine Folge in Grau und Schwefelgelb malte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Hoffentlich geht es dem Mädchen gut“, stammelte sie, stand auf und ging wieder ins Haus zurück. Da wurde Serenus bewusst, dass auch die Mutter Rosanna vermisste. Er ging ihr nach und fand sie in der Küche an die Wand gelehnt. Er trat ganz nahe an sie heran und ließ sich von ihr in die Arme nehmen. „Sie hatte dich immer lieb“, flüsterte er der Mutter ins Ohr und biss die Zähne zusammen, damit er nicht laut zu schreien anfing.

„Dein Geburtstagsgeschenk wartet zu Hause und muss noch gemacht werden“, sagte der Vater beim Frühstück. „Die Mutter und ich haben Pläne gemacht. In deinem alten Zimmer quälst du dich nur mit deinen Erinnerungen. Wir werden dir das Zimmer deines Bruders neu einrichten. Wenn du einverstanden bist, richten wir in deinem alten Zimmer ein kleines Atelier für dich ein, mit Wasser und Licht und allem.“

Serenus schämte sich, als er den Vorschlag vernahm. Offenbar machte sein Befinden gröbere Maßnahmen erforderlich. Es war tatsächlich soweit, dass er sein altes Zimmer nur noch mit Widerwillen betrat. Indessen gab es im Haus ausreichend Raum für alle drei. Die Mutter hatte ein Nähzimmer, der Vater ein Arbeitszimmer und beide jeweils ein eigenes Schlafzimmer. Er würde ein Malzimmer und ein Schlafzimmer bekommen. Wenn er jetzt auch zwei Räume zugeteilt bekam, dann hieß das, dass er nun zu den Erwachsenen gehörte. Zudem hatte er sein Liebstes und Wichtigstes verloren, nachdem er vier Jahre lang nur dafür gelebt hatte. Dafür bekam er nun die Anerkennung seiner Eltern. Er musste etwas sagen.

„Ihr habt Euch das Allerbeste für mich ausgedacht.“

Er stand auf und drückte dem Vater die Hand. Dann ging er zur Mutter und küsste sie auf beide Wangen. Als er sich wieder hinsetzte, sagte der Vater: „Wir haben zusammen geredet, die Mutter und ich. Dein Leid ist auch unser Leid. Wir haben dich zwar auf den Namen Serenus, der Heitere, getauft, aber das soll dich zu nichts verpflichten. Es ist nun einmal so, wie es ist.“

Sein neues Reich wurde ein Knüller. Die Möbel des Bruders genügten seinen Ansprüchen vollkommen. Es musste lediglich eine neue Beleuchtung installiert werden. Zudem kauften die Eltern einen riesigen flauschigen Teppich, auf dem man stundenlang liegen und lesen konnte. Der Umbau des alten Schlafzimmers zu einem Atelier war aufwändiger. Der Vater ließ Handwerker kommen, die eine Wasserleitung legten und eine Spüle montierten. Serenus bekam einen großen Arbeitstisch und einen alten Planschrank mit Schubladen für Papiere und Bilder. Als alles fertig war, strahlte der Raum Zweckmäßigkeit aus und lud zum Arbeiten ein. Tatsächlich verging während der folgenden zwei Jahre kaum ein Tag, an dem Serenus nicht in seinem Atelier zugange war.

Ebenso wichtig wie die Malerei wurde die Freundschaft mit Gisela. Er besuchte sie regelmäßig in ihrer Wohnung, durfte kommen, wann er wollte, und musste sich nicht vorher anmelden. Serenus brachte oft seine neuesten Arbeiten mit und ließ sich von Gisela beraten. Sie wies ihn auf die Textur des Papiers und des Pinsels hin und machte ihn auf die Wirkung der Farben und Kontraste aufmerksam. Manchmal betrachtete sie ein Blatt lange und dachte laut darüber nach.

„Man muss nur genau hinschauen. Da ist etwas Vibrierendes, etwas wie eine unterdrückte Wut in diesen rötlichen Schatten und in den flüchtigen Pinselstrichen über dem dunklen Grund. Aber das Königsblau, das überall hindurchschimmert, gibt dem Ganzen etwas Versöhnliches.“

Serenus prägte sich solche Worte genau ein, denn sie inspirierten ihn dazu, eine bestimmte Stimmung gezielt zu erzeugen. Er war ganz versessen darauf, an solchen Zweideutigkeiten und Widersprüchen zu arbeiten. Gab es denn eine Alternative? Harmonische Schönheit nach einem göttlichen Gesetz musste er in den Sedimenten seiner Seele jedenfalls nicht suchen.

Eines Tages zogen die Mutter und die Brüder von Rosanna aus dem Mietshaus nebenan aus und verließen die Nachbarschaft für immer. Nur die alte Tagliaferri mit ihrem Pudel erinnerte ihn noch gelegentlich an jenen Tag des Entsetzens. Schlimmer als die Erinnerung und die Sehnsucht war ein vermeintliches Gefühl der Ruhe, wie an einer verlöschenden Feuerstelle, von der gerade noch ein Rauchfaden aus der weißen Asche aufsteigt. Es kam ihm vor, als könnte er die Flammen ganz einfach wieder entfachen, und alles wäre wie früher. Der Feuerplatz wäre sogar eine Idylle, wenn man nicht wüsste, was hier in Rauch aufgegangen war.

Ein gesundes Selbstbewusstsein verbrennt langsam und unter der Asche hält sich die Glut lange. Serenus hatte einen schönen Vorrat an männlichem Stolz angelegt, den er sowohl Rosannas Liebe als auch seinem Ansehen bei den anderen Jugendlichen verdankte. Er war seit jeher der Junge gewesen, der immer schon sein Mädchen hatte. Im Umgang mit Gleichaltrigen hatte er sich stets locker und frei gefühlt. Es war ihm ein Rätsel gewesen, warum manche Menschen gehemmt waren und sogar soziale Ängste entwickelten.

Aber mit der Zeit verunsicherte es ihn mehr und mehr, dass Rosanna ihn hatte sitzen lassen, und er begann sich Fragen zu stellen, die seine Selbstsicherheit untergruben. Wäre Rosanna bei ihm geblieben, wenn er bestimmte Eigenschaften gehabt hätte, die ihm offenbar abgingen? Fehlte ihm vielleicht die Fähigkeit, Mädchen glücklich zu machen? Würde er in Zukunft aufpassen müssen, dass sie ihm nicht eine um die andere davonliefen? Seine Kumpel hatten inzwischen alle eine Freundin und nun blieb er der Einzige, der allein war. Alle schienen mehr Glück und mehr Verstand zu haben als er. Dabei mochte er das andere Geschlecht genauso gerne wie eh und je. Seine Klassenkameradinnen schäkerten ziemlich unverfroren mit ihm und sie ließen sich gerne von ihm necken. Wenn ihm ein Mädchen wirklich gefiel, dann überlegte er sich neuerdings als Erstes, ob er ihm überhaupt genügen konnte und ob es nicht etwas Besseres verdient hatte als ihn. Er stand also kurz davor, sich Komplexe zuzulegen. Was ihn davor rettete, war eine Begebenheit mit den Mädchen aus seiner Klasse, denen die Tragweite ihres Tuns freilich keineswegs bewusst war.

Der Sportunterricht am Dienstagnachmittag wurde bei schönem Wetter ins Schwimmbad verlegt. Anschließend versammelte sich die ganze Klasse bei den alten Ahornbäumen im hinteren Teil der Anlage, wo sie den Rest des Nachmittags verbrachte. Die Mädchen scharten sich in der Sonne zusammen und die Jungen legten sich in den Schatten. Der Abstand zwischen den beiden Gruppen betrug wohl gut zwanzig Schritte.

Die Wortführerin der Mädchen war Doris. Eines Tages rief sie zu den Jungen hinüber, dass Serenus doch bitte kurz herüberkommen wolle. Gelächter erklang und Serenus wusste nicht, wie er reagieren sollte. Konnte er in aller Öffentlichkeit den Launen einer Doris nachgeben? Oder war es schlimmer, als Feigling dazustehen, wenn er nicht zu den Weibern hinüberging? Seine Kameraden spornten ihn an und schubsten ihn solange, bis es schließlich aussah, als täte er es nur ihnen zuliebe. Er schlenderte hinüber und Doris forderte ihn auf, sich einen Moment hinzusetzen.

„Hör zu, Serenus“, hob sie an. „Wir Mädchen haben darüber geredet, welchen von unseren Jungs wir zum Mister Classroom wählen würden. Wir vergaben vier Noten: Gesicht, Körperbau, Ausstrahlung und Anstand. Unsere Wahl endete einstimmig. Wir halten dich für den Attraktivsten von allen, und zwar mit Abstand.“

Serenus saß auf dem Rasen und sah die zwölf Mädchen an, die in ihren Bikinis auf den Badetüchern lagen. Ihre Augen waren auf ihn geheftet. Er versuchte die Größe dieses Augenblicks einzuschätzen. Würde er jemals wieder ein solch geballtes Kompliment bekommen?

„Es gibt noch ein paar andere in der Klasse, die etwas hermachen, wenn nicht mehr. Aber eines ist sicher: Ich könnte mich nicht entscheiden, wenn ich die Interessanteste und Hübscheste von Euch bestimmen müsste“, erklärte er schließlich und schenkte seinen zwölf Jurorinnen ein breites Lächeln.

Als er zu seinen Kameraden zurückkehrte, verlangten diese zu erfahren, was vorgefallen war.

„Sie wollten wissen, welche von ihnen uns am besten gefällt“, schwindelte er.

„Und weshalb haben sie gerade dich gefragt?“

Serenus holte tief Luft.

„Sie sagten, ich könnte so gut zeichnen und müsste von der Miss Classroom ein Pin-up anfertigen.“

„Und was hast du geantwortet?“

„Nur die ganze Gruppe. Und nur oben ohne.“

Die Jungs grölten.

„Stellt euch das vor. Die dicke Lili mit ihren Möpsen.“

„Und erst Mary mit ihrem Flachbrett.“

Serenus überhörte die Witze der jungen Männer und schwieg. Das Urteil erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Es half ihm, seine Unsicherheit abzulegen und nicht mehr über seine Fehler nachzugrübeln. Ein paar Tage später erzählte er Gisela von dem Vorfall. Sie schmunzelte und sagte: „Das konntest du natürlich nicht wissen. Von der ganzen Klasse bist du der Hübscheste und Interessanteste. Das steht außer Frage.“

Trotz dieser positiven Erfahrung erlebte Serenus von dem Tag, an dem er von Rosannas Flucht erfuhr, bis zu seinem Schulabschluss keine einzige Sekunde, in der er sich wirklich glücklich fühlte. Das Meer seiner Seele und die Sedimente in der Tiefe waren unter dem Schlamm seines Schmerzes versteckt. Serenus gab es auf, den traurigen Morast wegschaffen zu wollen. Stattdessen übte er sich darin, ihn zu ignorieren und dabei sich selber zu vergessen.

Beim Malen ließ er sich vom Werden der Bilder hypnotisieren, bis er selber Blatt und Pinsel wurde. Er fühlte am eigenen Leib, wie die Farben gegen einander aufgehetzt und wieder miteinander versöhnt wurden. Es fiel ihm leicht, seinen Vorsatz, jeden Tag ein Bild zu malen, in die Tat umzusetzen. Beim Lernen verbohrte er sich in diejenigen Fächer, die ihm fremd waren und die ihn kalt ließen. Am allerwenigsten mochte er Geschichte. Wenn er den Stoff herunterbetete, bis er ihn auswendig wusste, überkam ihn eine Ruhe, als würde er im Zug fahren und Strommasten zählen. Dreißigjähriger Krieg, hundertjähriger Krieg, Erbfolgekrieg, Opiumkrieg, Sezessionskrieg. Utrecht, Odessa, Boston, Versailles, Trafalgar. Die Geschichte kam ihm vor wie ein Mörser, in dem die Menschen von der Gier nach Macht zerstampft wurden. Aber sie ermöglichte es ihm, Rosanna zu vergessen und eine Eins nach der anderen zu schreiben.

Wenn er trotz Kunst und Krieg keine Ruhe fand, half er sich mit Cannabis. Serenus war überaus empfänglich für die Moleküle, die im indischen Hanf enthalten waren. Wenn er kiffte, fühlte er, wie seine Haut glatt und weich wurde, wie sich die Kapillare mit der Süße seines Blutes füllten, als ob heißer trockener Sand über seinen Körper rieselte. Er rauchte den Stoff, bevor er zu Bett ging, und gab sich den Halluzinationen hin, bis der Rausch nach zwei, drei Stunden in den Schlaf überging.

Während dieser zwei Jahre geriet er kein einziges Mal in sexuelle Versuchung. Wenn ihn doch einmal die Erregung überkam, masturbierte er unter der Dusche, sodass er Selbstbefriedigung und Selbstreinigung miteinander verbinden konnte. Gisela zog ihn hin und wieder damit auf, dass er wie ein Mönch lebte. Sie deutete an, dass bei ihm die sexuelle Entwicklung ein paar Jahre zu früh eingesetzt hätte und dass er jetzt die Abstinenz der Vorpubertät nachholte. Serenus konterte, dass sie selber ja offensichtlich auch eine Trockenperiode durchmache. Gisela lachte und meinte, dass sie wahrscheinlich deswegen Freunde geworden seien, weil ihnen das Verlangen nicht in die Quere gekommen sei.“

Allerdings gab es zwischen Gisela und Serenus, trotz ihrer platonischen Zuneigung, einen Streitpunkt. Seit ihrer Zeit als Studentin sympathisierte sie mit den Terroristen der Roten Armee Fraktion. Sie hielt das Andenken der Selbstmörder von Stammheim in Ehren und rätselte oft daran herum, was wohl aus den anderen Untergrundkämpfern geworden war. Darauf reagierte Serenus jedes Mal mit Empörung. Als er sich wieder einmal über sie ärgerte, sagte Gisela: „Du begreifst eben nicht, dass ihr auch ein Teil dieser Geschichte seid.“

Serenus sah sie fassungslos an.

Sie erklärte ihm: „Du hast mit Rosanna angebändelt, nachdem Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis starben. Und dann, kurz nachdem dich Rosanna verließ, wurden Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz verhaftet. Ich persönlich glaube fest daran, dass die RAF wiederauferstehen wird, sobald deine Trauerzeit vorbei ist und du eine neue Liebe gefunden hast.“

„Spinnst du? Weißt du überhaupt, was du da redest? Als ob es an mir sei, diese Mörder aufzuhalten! Weißt du was? Ich werde einfach nie mehr ein Mädchen anfassen und dann kannst du dir deine Helden irgendwohin stecken.“

Serenus war noch tagelang wütend, bis Gisela sich bei ihm entschuldigte und ihm versprach, nie wieder etwas in dieser Richtung verlauten zu lassen.

Aber ein halbes Jahr später erfüllte sich ihre Prophezeiung auf seltsame Weise. In der Nacht, als Serenus zum ersten Mal mit seiner neuen Liebe Laura schlief, wurden bei einem Überfall auf ein Waffengeschäft zwanzig Pistolen und Revolver erbeutet. Damit begann die Wiederbewaffnung der RAF. Aber das war im venezianischen Spätherbst und er bekam überhaupt nichts davon mit.

Serenus I

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