Читать книгу Was braucht mein Kind? - Rüdiger Rauls - Страница 4
Die Liebe als Prinzip
ОглавлениеDer Mensch als Gattung wie auch als Individuum ist die am höchsten entwickelte Lebensform auf unserem Planeten. Seine Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die er seiner Fähigkeit verdankt, mehr als alle anderen Lebewesen seine Handlungen planen zu können. Der Mensch denkt. Das heißt, er ist in der Lage, durch die Fähigkeiten seines Gehirns, Handlungen vorab durchzuspielen. Im Denken handelt er probeweise, was bedeutet, dass er seine Handlungsweise auf die möglichen Folgen hin untersuchen kann. Das erspart es ihm, sich Situationen auszusetzen, die für ihn gefährlich sind. Er ist in der Lage, Ereignisse zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen, die ihn Fehler vermeiden lassen.
Damit verbesserten sich seine Lebensbedingungen als ein ursprünglich relativ wehrloses Wesen, das nicht mit besonderen körperlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Er konnte nicht fliegen, war nicht sehr schnell, nur mit vergleichsweise geringen Körperkräften ausgestattet, kein guter Kletterer und auch kein hervorragender Schwimmer. Mit diesen Voraussetzungen war er eher Beute als Jäger und damit sehr weit unten in der Nahrungskette angesiedelt. Zu der Entwicklung seiner Hand als einem vielseitig einsetzbaren Werkzeug verbesserte die Zunahme seiner Denkfähigkeit in der Frühphase seiner Entwicklung seine Überlebensmöglichkeiten als Gattung in einer feindlichen Umwelt. Er stieg auf vom Beutetier zum Genie, dem es als einzigem Lebewesen gelungen ist, die Erde zu verlassen.
Je nach Einstellung und Weltbild kann man diese Entwicklung als göttlichen Plan ansehen oder entsprechend der materialistischen Weltsicht als eine Summe von Zufällen, deren Ergebnis das Leben war. Nur darf man diesen Begriff der Zufälle nicht so naiv sehen, wie die Gegner des materialistischen Weltbildes ihn gewöhnlich darstellen. Vielmehr sind diese „Zufälle“ nichts anderes als die Auswirkungen der Naturgesetze, die auf unserer Erde herrschen. Diese lösten und lösen immer noch durch Wind und Sturm, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Blitze und Feuersbrünste, Hitze und Kälte Vorgänge aus, die die Elementarteilchen auf der Erde in Bewegung halten, sie um den Globus treiben und sie aufeinandertreffen lassen. Aus diesem willkürlichen Zusammentreffen oder gar Zusammenstoßen der unterschiedlichen Atome und Moleküle gingen neue Verbindungen hervor, vielleicht sogar das Wasser. Diesen Ergebnissen gingen Jahrmillionen, ja Jahrmilliarden, einer Entwicklung voraus, die diese Ergebnisse nicht hervorgebracht hatten, weil einerseits die Naturgewalten nicht die passenden Stoffen zusammengetrieben hatten oder aber weil die Voraussetzungen der Umgebung den Fortbestand dieser neuen Verbindung nicht zugelassen hatten.
So war es auch mit dem Leben, das nur unter bestimmten Bedingungen Bestand haben konnte. Waren diese Bedingungen nicht gegeben, konnte es vielleicht entstehen, aber nicht überdauern. Vermutlich hat es in den Jahrmilliarden der Erdentwicklung schon viele solcher zufälligen Aufeinandertreffen von Stoffen gegeben, die zum Herausbilden erster lebender Organismen hätten führen können oder sogar geführt haben. Vermutlich war die „erste“ Zelle nicht die erste und einzige, sondern vorangegangen waren Millionen ähnlicher Ereignisse mit dem Ergebnis, dass Leben entstanden war, aber nur vorübergehend. Denn es zerfiel wieder und musste sich wieder neu bilden unter den Zufällen der von den Naturgewalten ausgelösten Verbindungen.
Und unter all den Millionen vergänglichen Leben entstand dann irgendwann eine Konstellation, die erstmals die Möglichkeit entwickelte, sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren. Die erste Zelle, der es gelang, sich durch Zellteilung selbst zu vermehren und am Leben zu halten, war der Beginn des Lebens, wie wir es kennen. Diese Zelle war der erste „geglückte Versuch“ des Lebens, sich der Zufälligkeit seiner Entstehung aus den Launen der Naturgewalten zu entziehen durch die eigenständige, in sich selbst angelegte Möglichkeit der Reproduktion aus sich selbst heraus. Diese ursprüngliche Lebensform der „ersten Zelle“ entwickelte unter günstigen Bedingungen immer wieder neue Lebensformen, immer höher entwickeltere, immer kompliziertere. Ein Zweig in diesem üppig ausschlagenden Lebensbaum war der Mensch.
Nun kann man diese Entwicklung als das Werk eines überirdischen Wesens sehen, eines Gottes, der nach einem himmlischen Plan alles das zusammengefügt hat, was so wunderbar als die Symphonie des Lebens und der Welt klingt. Aber diese Sichtweise ist trügerisch, da sie sich nur auf diese Versuche der Natur stützt, die überlebt haben. Nicht gesehen werden dabei all diese Fehlversuche, die nicht überlebensfähig waren, weil sie am falschen Ort oder zur falschen Zeit, also unter Bedingungen entstanden waren, die ein Überleben nicht ermöglichten. Was wie göttlicher Plan erscheint, ist nichts anderes als die Ergebnisse des Wirkens der Naturgewalten, die „geklappt“ haben. Daneben stehen aber all die Fehlversuche, die unter ungünstigen Umständen stattgefunden haben und deshalb erfolglos blieben. Sie werden nicht wahrgenommen, weil sie untergegangen sind. Aber trotzdem haben sie stattgefunden.
Das Entstehen des Lebens und sein Fortbestand sind nichts anderes als ein globales Ausschlussverfahren, das all das aussortierte, was nicht zusammen passte oder unter bestimmten ungünstigen Umständen noch nicht zusammen passte. Ein weltumspannendes „Try and Error“, dessen Ergebnis die Welt war, in der wir heute leben.
Aber wofür ist diese Überlegung wichtig in Verbindung mit unserem Thema Erziehung? In diesem globalen „Try and Error“ wurde nicht nur der Mensch geschaffen, sondern es entstanden auch Bedingungen, die Erziehung als eine wesentliche Kulturtechnik der menschlichen Gattung, als ein Erfolgsrezept des Überfliegers Mensch hervorbrachten. Erziehung ist die Weitergabe von Erfahrung.
Der Mensch ist die am höchsten entwickelte Lebensform. Dazu haben seine Denkfähigkeit und die Weitergabe der Ergebnisse dieser Denkfähigkeit durch Erziehung ganz wesentlich beigetragen. Denkfähigkeit alleine hätte nicht ausgereicht, diesen Status zu erlangen in der Entwicklungshierarchie der Arten und Gattungen des Lebens. Auch viele Tiere haben die Fähigkeit zu denken. Der Vorteil des Menschen lag darin, dass es ihm am besten gelang, die Ergebnisse seines Denkens konservieren und weitergeben zu können. Und diese Ergebnisse des Denkens waren Grundlage der Nachfolgenden für wieder neue Erkenntnisse. Das Rad musste also nicht immer wieder neu erfunden werden. Die Nachkommen konnten das bereits erfundene Rad und damit ihre Lebenssituation ständig verbessern. All diese sozialen Fähigkeiten wurden weitergegeben mittels der Erziehung. Dass dieser Prozess aber hatte stattfinden können, dafür waren Voraussetzungen nötig, die den meisten anderen Lebewesen fehlten.
Im Laufe der Entwicklung des Lebens haben sich zwei verschiedene Konzepte der Fortpflanzung entwickelt, die hier als das intensive und extensive Verfahren bezeichnet werden sollen. Die frühen Formen des Lebens haben weitgehend die extensive Methode angewandt, die wir heute noch bei den Insekten, den Fischen und Reptilien feststellen können. Ein Gelege enthält Hunderte und Tausende von potentiellen Nachkommen. Die Brut wird abgelegt in einer für die Entwicklung günstigen Umgebung und ist in seiner weiteren Entwicklung weitgehend sich selbst überlassen. Die hohe Anzahl an Nachkommen garantiert den Fortbestand der Gattung unter hohen Verlusten. Von den „unbehüteten“ Nachkommen erreichen immer nur sehr geringe Prozentzahlen das Erwachsenenalter und damit die Fähigkeit, das Leben der eigenen Gattung zu erhalten und weiterzugeben. Innerhalb der Gattungen und Arten, die diese relativ beziehungslose Fortpflanzung pflegten, entwickelte sich kein sehr hohes Maß an Intelligenz. Sie stützen sich weniger auf Erkenntnis und Erfahrung, also aktive Leistungen der Intelligenz, als vielmehr auf genetisch verankerte Verhaltensweisen.
Dem gegenüber entsteht besonders mit dem Aufkommen der Säugetiere eine andere Form der Fortpflanzung, die hier als die intensive Fortpflanzung bezeichnet werden soll. Sie stellt einen qualitativen Sprung dar in der Entwicklung des Lebens. Die Anzahl der Nachkommen ist geringer, aber im Verhältnis dazu wächst die Überlebenssicherheit der Gattung durch die behütete und betreute Aufzucht der wenigen Individuen. Die Säugetiere verfügen über flexiblere Strategien des Überlebens. Durch die längere und intensivere Bindung der Jungtiere an die Eltern sind erstere in der Lage, die Erfahrungen der Eltern zu übernehmen und Fähigkeiten unter deren Schutz zu erlernen und zu perfektionieren. Die Jungen lernen, indem sie nachahmen, was die Älteren vormachen. Diese Erkenntnis- oder Einsichtsfähigkeit, also Intelligenz, ist unterschiedlich in den verschiedenen Abarten der Säugetiere. Am weitesten entwickelt ist sie beim Menschen. Diese Methode ermöglicht es, die Art zu erhalten unter einem geringeren Ausstoß an Nachkommen, die dann aber trotzdem noch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben.
Damit dieses Lernen unter Anleitung möglich war, bedurfte es nicht nur der Entwicklung von Gebärmutter und Milchdrüsen bei den Säugetieren sowie der Weiterentwicklung ihres Gehirns zu einem komplexen Organ zur Verarbeitung von Informationen. Das waren die körperlichen Voraussetzungen für solch einen Quantensprung. Es bedurfte auch einer neuen „Einstellung“ der Eltern zu ihrer Brut.
Hatten die primitiveren Lebensformen ihre Brut ausgebracht, so war damit meistens ihr Beitrag zum Überleben der eigenen Art abgeschlossen. Vielleicht wurde das Gelege noch bewacht, um es vor Räuber zu schützen, aber eine tiefgehende emotionale Bindung zur Brut ist bei den früheren Lebensformen nicht in dem Maße erkennbar, wie sie sich nun bei den Säugetieren entwickelt. Vielleicht ist gerade das Entstehen und die Verfeinerung von Emotionalität der wesentlich größere Beitrag der Säugetiere zum Fortschritt des Lebens als die Entwicklung ihrer Intelligenz. Vielleicht ist gerade auch diese emotionale Bindung an die Nachkommenschaft wesentliche Bedingung für Intelligenz.
Was nützen die körperlichen Voraussetzungen wie Gebärmutter, Säugeapparat und die Intelligenz und die damit verbundene körperliche Nähe zwischen Eltern und Nachkommenschaft, wenn sich nicht auf der emotionalen Ebene eine Entsprechung herausbildet, die diese körperliche Nähe zur Brut und die damit verbundenen Einschränkungen annimmt. Dieses Konzept der Säugetiere konnte nur Erfolg haben, wenn sich parallel zu den körperlichen Veränderungen auch eine Veränderung der „Einstellung“ zur eigenen Nachkommenschaft auftat.
Denn die Versorgung der Nachkommenschaft im Stile der Säugetiere ist sehr viel aufwendiger im Vergleich zu derjenigen früherer Lebensformen, da sie das Leben der Eltern erheblich einschränkt und zusätzlichen Gefahren aussetzt. Dieses Konzept kann nicht funktionieren, wenn die Elterngeneration die eigene Brut als die Belastung empfindet und sie deshalb vernachlässigt oder gar ablehnt.
So werden alle anderen Entwicklungsstränge, die diese Verbindung von körperlicher und emotionaler Nähe nicht herausbilden konnten, gescheitert und abgestorben sein. Vermutlich sind alle existierenden Säugetierarten nur ein dünner Bodensatz all der Mutationen, die sich nicht hatten halten können, weil ihnen die wesentliche Grundbedingung fehlte, die Ausstattung mit einem der Aufgabe entsprechenden emotionalen Instrumentarium.
Dieses Instrumentarium fassen wir im Bereich der menschlichen Gattung unter dem weiteren Begriff der Liebe zusammen. In diesem Begriff sind Einstellungen und Verhaltensweisen wie Fürsorge, Opferbereitschaft, Verantwortung, Beschützer“instinkt“ und viele andere mehr zusammengefasst
Die Säugetiere konnten unter den mörderischen Bedingungen der Konkurrenz um Nahrungsmittel nur überleben, weil in ihnen Instanzen entstanden waren, die dem Überleben der Gattung den Vorrang gaben vor dem Überleben des Individuums, indem die Eltern sich aufopfern für die Brut. Die Eltern sind bereit das eigene Leben zu opfern für das Überleben der Kinder. Ohne diese Einstellung hätten die an Nachkommenschaft geringen Säugetiere nicht überleben können.
Die starke emotionale Bindung an die eigene Nachkommenschaft macht gegenüber früheren Entwicklungsschritten der Lebensformen die Stärke der Säugetiere aus und ganz besonders in der unter ihnen am weitesten vorangeschritten Lebensform, dem Menschen. Die Liebe war neben der Hand und dem Gehirn die entscheidende Voraussetzung für die Erfolgsgeschichte Mensch. Ohne sie hätten die Vorteile, die die Verfeinerung von Hand und Hirn für die menschliche Gattung mit sich gebracht hatten, nicht weitergegeben und als Gemeingut der menschlichen Gattung erhalten werden können. Und ohne diese Weitergabe an Erfahrung und Wissen wäre es fraglich gewesen, ob auch die Entwicklung von Hand und besonders Hirn so schnell hätte voranschreiten und solch eine Perfektion hätten erreichen können.
Die Liebe ist es, was den Menschen ausmacht. Dahin drängt seine Entwicklung. Der Mensch will Liebe sein. Der Mensch will gut sein. Darin drückt sich nicht nur das Menschliche im Menschen aus, sondern auch gleichzeitig das Göttliche. Die entwicklungsgeschichtliche Aufgabe des Menschen ist es, das Göttliche im Menschen zu erkennen, in sich selbst und nicht in einem Wesen, das er außerhalb von sich selbst als Gott gesetzt hat. Dieses Göttliche in sich selbst gilt es, herauszuarbeiten und Wirklichkeit werden zu lassen. Das bedeutet, das Göttlich-Menschliche oder Menschlich-Göttliche in der Welt umzusetzen, zum Prinzip werden zu lassen, das die Welt beherrscht. Das Mittel dazu ist die Liebe, die Liebe zu sich selbst als Individuum, zu sich selbst als Gattung und zur Welt, die ihn umgibt und ohne die er nicht leben kann. Denn er ist nur Bestandteil dieser Welt und nicht ihr Beherrscher, als der sich der heutige Mensch noch weitgehend ansieht und fühlt.