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Erziehung und Gesellschaft
ОглавлениеErziehung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist eingebunden in gesellschaftliche Bedingungen, in einen gesellschaftlichen Rahmen. Der Mensch ist einerseits geprägt von seiner Entwicklungsgeschichte und seinen Genen. Diese menschliche Entwicklungsgeschichte lief in den größten Teilen ihrer bisherigen Existenz als unwillkürliche ab, nicht beeinflusst vom Willen des Menschen selbst. Äußere Einwirkungen auf ihn haben ihn bisher länger und nachhaltiger geprägt als der Ausfluss seines Willens. Dennoch aber sind die Ergebnisse seines Willens und seiner Denkfähigkeit die auffälligeren. Sie haben nicht nur ihn selbst sondern auch seine Umwelt und die Erde als seinen Lebensraum sehr stark verändert.
Andererseits ist der Mensch ein soziales Wesen, was hier so zu verstehen ist, dass er nur in Gesellschaft überleben kann. Das betrifft nicht nur die modernen Gesellschaften sondern auch die Frühzeit der menschlichen Gattung. Auf diesem Niveau war der Zwang zur Gesellschaftsbildung und Zugehörigkeit des einzelnen zu dieser Gesellschaft überlebenswichtig. Die harten Lebensbedingungen und die Gefahren der sie umgebenden Natur ließen keine andere Wahl. Das Individuum, auf sich alleine gestellt, hatte kaum Überlebenschancen.
Aber auch der Mensch der modernen Gesellschaften irrt, wenn er mitunter glaubt, ohne die anderen auskommen zu können. Dieses Trugbild ist der Isoliertheit des modernen Menschen geschuldet. Die direkte Abhängigkeit, wie wir sie aus früheren Entwicklungsabschnitten kennen, ist in der modernen Gesellschaft nicht mehr so augenfällig. Und dennoch ist der moderne Mensch immer noch eingebunden und abhängig von einer Gesellschaft um ihn herum, die alles das bereitstellt, was er braucht, um einerseits überleben zu können und sich trotzdem unabhängig zu fühlen. Er nimmt die Abhängigkeit nicht mehr in dieser Direktheit wahr, wie das unsere Vorfahren in den frühen Gesellschaftsformen erlebt haben dürften. Für den modernen Menschen stellt sich diese Abhängigkeit nur noch als ein Dienstleitungsverhältnis dar. Aber selbst ohne diese „Dienstleister“ wäre er hoffnungslos verloren. Zwar kann er sich aus einem breiten Spektrum den individuellen Dienstleister z.B. als Zahnarzt auswählen, auf die „Dienstleistung Arzt“ selbst kann er aber nicht verzichten. Die direkte Abhängigkeit der Gesellschaftsmitglieder untereinander, wie wir sie aus frühzeitlichen Gesellschaften kennen, ist gewichen der diskreten Verwobenheit aller Gesellschaftsmitglieder untereinander. Insofern ist die Unabhängigkeit, die wir in unseren modernen Gesellschaften gewonnen zu haben glauben, ein Trugbild.
Da der Mensch ein soziales Lebewesen ist, so ist auch Erziehung weitgehend bestimmt durch die Gesellschaft. Sie wirkt nicht nur durch die Gesetze auf die Erziehung ein sondern auch durch ihre Wertvorstellungen, Regeln, Tabus, Ansichten und das Selbstbild, das sie von sich selbst hat und das die Individuen von sich selbst und den Gesellschaften haben, deren Mitglied sie sind. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind nicht starr, sondern sie verändern sich im Laufe der Zeit. Wenn sich die Grundlagen eines Gemeinwesens verändern, ändert sich auch das Weltbild, das auf diesen Grundlagen ruht.
Die Weltbilder der einfachen frühen Gesellschaften waren einfach, weil die Gesellschaften selbst sehr viel kleiner waren als die modernen der hoch entwickelten Industriegesellschaften. Die Menschen der Frühzeiten standen in einem direkten Austauschverhältnis zur der sie umgebenden Natur. Die Gefahren, die sie bedrohten, gingen aus von dieser Natur, der sie hoffnungslos unterlegen waren. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihren Kräften zu widerstehen. Sie waren gezwungen, sich der Natur anzupassen, sich ihren Kräften zu unterwerfen und ihr eigenes Verhalten auf die Gefahren einzustellen. Gesellschaften, die diese Überlegenheit der waltenden Kräfte ignorierten, waren dem Untergang geweiht.
Mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften änderte sich dieses Verhältnis zur Natur. Sie wurde beherrschbarer. Damit trat die Natur als Gefahrenquelle immer mehr in den Hintergrund. Zunehmend wird die Gesellschaft selbst zur größten Gefahr für das Individuum. Zwar stellt sie alles bereit, was der Mensch zu einem komfortablen Leben braucht, besonders in den reichen Industriegesellschaften. Auf der anderen Seite aber ist die einfache Klarheit des Zusammenlebens, wie es noch in den einfachen Gesellschaften der Frühzeit geherrscht hat, verloren gegangen. Das Leben ist kompliziert geworden. Die Welt ist nicht mehr so einfach zu verstehen, wenn es auch durch die Gesellschaftsbildung einfacher geworden ist, in ihr zu überleben.
Der Kontakt der Menschen zur Welt ist heute weitgehend kein direkter mehr sondern ein vermittelter. Er ist vermittelt durch Zeitungen, Medien, Meinungen, Ansichten, durch Wissenschaften und Theorien. All diese Träger von Informationen und Meinungen zeichnen ein Bild von der Welt durch die Vermittlung von Nachrichten und die Erklärungen, die sie uns anbieten über die Erscheinungen in der Welt. Das gilt für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und so auch für alles, was im weitesten Sinne mit Erziehung zu tun hat. Unsere Erziehung ist bestimmt von den Anforderungen, die die Gesellschaft an Erziehung stellt. Auch diese verändern sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen.
Besonders in den westlichen Industriegesellschaften haben die Theorie und Praxis der Kindererziehung einen Bruch erlebt durch die Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre. Die weitgehend patriarchalische Erziehung vor dieser Zeitenwende wurde abgelöst durch die sogenannte Antiautoritäre Erziehung. In der Folge dieser Bewegung traten Änderungen ein, die bis heute noch nachwirken und Erziehung beeinflussen.
Aber nicht nur diese neuen Theorien über Erziehung haben diese verändert. Vielmehr haben die veränderten gesellschaftlichen Tatsachen Erziehung beeinflusst. Die Zahl der Kinder in den Familien ist stark zurückgegangen. Waren vor dem 2. WK noch Familien mit zehn und mehr Kindern keine Seltenheit, so hat sich bis heute die Ein-Kind-Familie schon fast zur Regel entwickelt. Diese abnehmende Kinderzahl führt einerseits zu mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge, die dem einzelnen Kind entgegen gebracht werden kann. Im Gegensatz zu den kinderreichen Familien erfahren die Kinder allein schon aufgrund der geringeren Kinderzahl in den Kleinfamilien mehr Nähe und liebevolle Zuwendung. Liebe und Aufmerksamkeit müssen sich auf weniger verteilen, sodass mehr für das einzelne Kind übrig bleibt. Es muss nicht um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern gekämpft und gebuhlt werden, wie das aus den kinderreichen Familien besonders der Vorkriegszeit bekannt war. Und dank des gewachsenen Wohlstands der Nachkriegszeit können Kinder heute vielmehr entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden. Der Nachteil dieser Entwicklung zu Kleinfamilie und Förderung der Fähigkeiten ist die immer umfassendere Kontrolle und Einflussnahme der Eltern auf das einzelne Kind. Die unkontrollierten Freiräume, die der Kinderreichtum dem einzelnen Kind bot durch die Unübersichtlichkeit der Kinderschar, werden für die Kinder der Kleinfamilien immer geringer.
Dieses Schrumpfen der Freiräume wird durch die veränderten Lebensbedingungen besonders in den Städten noch dadurch verstärkt, dass der öffentliche Raum zunehmend dem Auto gehört. Das freie Spielen auf der Straße ist kaum noch möglich. Kinder spielen heute in Schutzräumen wie Spielplätzen und immer mehr kommerziellen Einrichtungen. Kinderleben findet kaum noch draußen statt. Das Austoben in der freien Natur wird immer mehr ersetzt durch das Leben in virtuellen „Wirklichkeiten“. Das Leben der Kinder ist immer mehr verplant durch organisierte Freizeitaktivität wie Vereine und Kurse. Diese Planung liegt weitestgehend in den Händen der Erwachsenen, hier vornehmlich der Mütter.
Andererseits sind immer mehr Mütter berufstätig. Zum Teil ist das wirtschaftliche Notwendigkeit, da besonders in den unteren Einkommensschichten der Bevölkerung der Lohn der einfachen Arbeitskräfte nicht mehr ausreicht, um eine Familie zu ernähren. In gesellschaftlichen Gruppen mit höherer Qualifikation ist die Berufstätigkeit der Frau oftmals nicht so sehr wirtschaftliche Notwendigkeit als vielmehr weltanschaulich begründet. Berufstätigkeit gilt als Teil weiblicher Selbstverwirklichung. In beiden Fällen führt die Berufstätigkeit der Frau zu einer Auslagerung von Erziehung aus der Familie hinein in Kindergärten, Schulen (Ganztagsschule) und sonstige Betreuungseinrichtungen oder Betreuungspersonen entsprechend den finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Erziehung wird delegiert.
Diese Entwicklung der Erziehung in Schutzräumen unter der ständigen Beaufsichtigung durch Erwachsene und die veränderte familiäre Situation der geringeren Kinderzahl hat die Möglichkeit der Kinder gemindert, sich dem Einfluss der Erwachsenen zu entziehen. Kindererziehung findet unter kontrollierten Laborbedingungen statt. Da ist nur noch wenig Platz für Kinder, sich in unkontrollierten Freiräumen selbst in der Herausbildung und Pflege gesellschaftlicher Beziehungen zu üben. Der Stil der Kommunikation wird vorgegeben von den Erziehern. Sie bestimmen den Umgang der Kinder untereinander entsprechend ihren Vorstellungen von Kindererziehung und vor allem entsprechend ihren Moralvorstellungen. Darin ist aber oftmals wenig Verständnis vorhanden über die entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die Kinder in sich tragen und die vor allem sehr unterschiedlich sind bei Jungen und Mädchen. Sie beide tragen verschiedene Programme von Entwicklung in sich, die den Moralvorstellungen und pädagogischen Erkenntnissen mitunter nicht in den Kram passen. Dennoch wirken sie aber als treibende Kräfte in unseren Kindern stärker als die Idealvorstellungen über Erziehung, die die pädagogischen Seminare manchmal vorhalten und vertreiben.
Hinzu kommt, dass insgesamt der weibliche Einfluss auf die Erziehung gewachsen und der des Mannes zurückgegangen ist. Waren Kindergärten in der Vorkriegs- und frühen Nachkriegszeit eher die Ausnahme, so sind sie mittlerweile zur Regel geworden und im Zuge neuer Gesetzgebungsinitiativen schon bald vielleicht sogar Pflicht. Die Erziehung in den Kindergärten wird bestimmt durch Frauen. Auch in den Schulen hat das weibliche Personal stark zugenommen. In den Grundschule stellen sie den überwiegenden Teil der Belegschaft. An den weiterführenden hat ihr Anteil im Gegensatz zur Vor- und frühen Nachkriegszeit stark zugenommen. Das bekommen besonders die Jungen zu spüren, die für ihre Identitätsfindung immer weniger Orientierungshilfen finden.
Diesen gesellschaftlichen Entwicklungen stehen die naturgegebenen gegenüber. Diese haben sich im Unterschied zu den gesellschaftlichen früher als Bestandteil menschlichen Verhaltens entwickelt und das über einen westlich längeren Zeitraum, weshalb sie uns als „naturgegeben“ erscheinen. Sie sind aber nicht von der Natur gegeben sondern Ergebnis einer über Jahrmillionen stattgefunden habenden Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Umfeld. Daraus sind genetische Dispositionen und Verhaltensweisen entstanden, die sich durchgesetzt haben als Formen, die ein Überleben unter dem damals herrschenden Bedingungen sichergestellt hatten. Auch diese haben sich über den langen Zeitraum menschlicher Entwicklung verändert, sind aber auch auf Grund der langen Erprobungsphasen grundlegender und nachhaltiger als die kurzfristigen Zyklen der gesellschaftlich bedingten Veränderungen. Deren Zyklen unterliegen Erkenntnissen, die oftmals von wechselnden Interessen bestimmt sind oder aber auch den veränderten Bedingungen, die sich durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik ergeben.
Wichtig in der Erziehung und der Wissenschaft über die Erziehung ist herauszufinden, was kurzfristige gesellschaftliche Mode ist und was als Ergebnis langfristiger Entwicklung verstanden werden muss. Kurzfristiges unterliegt der Beeinflussung durch Gesellschaft und Individuum, Langfristiges ist nicht zu beeinflussen, weil es oftmals auch genetisch bedingt und abgesichert ist. Die Atmung der Haut, der Herzschlag, Darmtätigkeit und viele andere Funktionen des Individuums sind von diesem selbst nicht bewusst beeinflussbar. Sie selbst und ihre Unbeeinflussbarkeit durch den Willen sind genetisch verankerte Funktionen, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung als lebenserhaltend durchgesetzt haben. Aber auch sogenanntes instinktives Verhalten ist im Laufe der Entwicklung vermutlich von einem bewusst ausgeführten Verhalten übergegangen in ein eher genetisch abgesichertes. So nimmt beispielsweise der stürzende Mensch automatisch und unwillkürlich eine Absicherungshaltung ein. Dieses Verhalten ist, wenn der Sturz nicht voraussehbar war, eine vom Bewusstsein nicht beeinflussbare Reaktion, die schneller stattfindet als Wahrnehmung und Bewusstmachung. Sie ist nicht nur über Jahrmillionen einstudiertes Verhalten sondern vermutlich auch genetisch gesichertes Reaktionsmuster zum Schutze des Körpers und des Lebens.
Gegen solche „Instinkte“ können Bewusstsein, Vernunft und gesellschaftliche Normen, also später entstandene Werkzeuge menschlicher Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, nur wenig ausrichten. In Fragen der Erziehung aber ist gerade aus diesem Grunde eine Auseinandersetzung mit diesen frühzeitlichen Entwicklungsschritten unabdingbar, will Erziehung sich nicht abarbeiten an Verhaltensweisen, die dem Bewusstsein in einer Form nicht zugänglich sind, in der Erziehung auf Verhalten einzuwirken sucht, nämlich als Ausdruck bewussten Verhaltens.
Konkret bedeutet das in Bezug auf einen der wichtigsten Streitpunkte in der Kindeserziehung, ist ein bestimmtes Verhalten bei Jungen und Mädchen übergestülptes und anerzogenes Rollenverhalten, also gesellschaftlich bedingt und erwünscht, oder äußert sich da Geschlechtsspezifisches, also Wesensmerkmale von Jungen und Mädchen. So wie sich auch in der unterschiedlichen Statur oder den primären Geschlechtsorganen Wesensmerkmale eines Geschlechts äußern. Gibt es also, so wie es unterschiedliche Wesensmerkmale in der äußeren Erscheinung gibt, auch unterschiedliche Wesensmerkmal im Verhalten, in der Bedeutung für den Fortbestand der menschlichen Spezies oder auch in den Funktionen innerhalb der menschlichen Gesellschaften, die im weitesten Sinne auch geschlechtsspezifisch sind?
Um dieser Fragestellung näher zu kommen, hilft nicht moralisierendes Verurteilen oder gar Verdammen von Verhaltens- und Denkweisen. Vielmehr muss genau und vorurteilsfrei untersucht werden, was sich da äußert und wie diese Äußerungen zu verstehen sind. Sind sie Ausdruck der heute oftmals vorgetragenen patriarchalischen Verschwörung zur Unterdrückung der Frau oder handelt es sich vielmehr um ein Erfolgsrezept menschlicher Entwicklung in Auseinandersetzung mit einer Umwelt, die auch immer wieder die Möglichkeit in sich trug, menschliches Leben zu vernichten. Diese Auseinandersetzung kann missbraucht werden für Rechthaberei im Interesse einer Theorie zur Durchsetzung eben dieser Theorie. Damit wird man aber dem Sinn von Auseinandersetzung nicht gerecht. Diese hat den Auftrag, im Interesse unserer Kinder die bestmögliche Erziehung zu finden, die ihren Anlagen und Möglichkeiten gerecht wird und ihnen einen freundlichen Weg in ein eigenständiges Leben ebnet.
Dazu ist notwendig, dass wir uns darüber bewusst werden, welche Lebensabschnitte unsere Kinder durchlaufen, welche Funktion diese einzelnen Abschnitte für die Entwicklung unserer Kinder haben, welche Grundlagen sie mitbringen zur Erfüllung der Aufgaben, die in diesem Lebensabschnitt abgearbeitet werden müssen, und welche Funktion dabei uns Eltern zukommt. Denn parallel zu den gesellschaftlichen Anforderungen, die an unsere Kinder gestellt werden, sind in ihnen althergebrachte Programme abgelegt, die auch zur Verwirklichung drängen und die nicht wegdiskutiert, wegmoralisiert oder unterdrückt werden können, ohne erhebliche Folgeerscheinungen zu verursachen, die der Entwicklung des Kindes abträglich sind.
Eines dieser Programme ist beispielsweise das Erwachen der Sexualität im Zuge der Pubertät. Ohne Sexualität ist das Überleben der Menschheit trotz aller modernen Hilfsmittel nicht gewährleistet. Zwar kann die Gesellschaft durch Moral und Gesetze auf das Ausleben dieser Sexualität versuchen, Einfluss zu nehmen, aber sie kann ihr Erwachen und ihr Drängen nicht verhindern. Die Ursprünglichkeit dieser Kraft ist sozusagen naturgegeben. Die Gesellschaft kann nur durch ihre Moralvorstellungen, Tabus und den Umgang mit ihr diese Urgewalt der Sexualität und die Einstellung zu ihr so verbiegen, sodass Sexualität nicht als ein Gewinn sondern als eine Strafe wahrgenommen werden kann. Aber an ihrer Triebkraft ändert das nichts. Sie verformt sie nur, indem sie aus einer positiven, erfüllenden und im doppelten Sinne belebenden Kraft eine zerstörerische macht. Andererseits kann Gesellschaft aber auch gerade das: Durch positive Einstellung zur Sexualität ihr die belebende Bedeutung einräumen, die sie für das Individuum, die Gesellschaft und die menschliche Spezies und ihr Überleben hat.
Ein anderes Beispiel der Einflussnahme gesellschaftlicher Vorstellungen auf die ursprünglichen Entwicklungsabläufe, die sich aus den Genen der Menschen speisen ist die „Erziehung zum Mann“. Auch der Vorgang der „Mannwerdung“ ist „naturgegeben“, was bedeutet, dass er stattfindet, unabhängig vom Zutun der Gesellschaft. Nur, was aus den Zeiten der patriarchalischen Erziehung bekannt ist, ist die Erziehung zum Mann zur Unzeit. Da sollten aus Kindern schon Männer werden. Man glaubte, dass man mit der Erziehung zum Mann nicht früh genug anfangen konnte. Was dabei herauskam, waren Seelenkrüppel, denen die kraftvolle Liebe des Vater ein Leben lang gefehlt hat, weil sie dessen Härte und Strenge, aber nie dessen Schutz, Verständnis und Nähe kennen gelernt haben als ein Begleiter ins Leben. Kinder sollten zu Männern werden, als die Voraussetzungen noch gar nicht dafür vorhanden waren. Aus Kindern werden von allein Männer, alleine aus dem Antrieb der Natur, wenn die Zeit dazu reif ist, das heißt, wenn sie erwachsen sind und im Zuge der Pubertät auch ihre Männlichkeit erwachen spüren, ihr Sexualität als Mann und all die anderen Attribute, die zum Wesen des Mannes gehören.
Anhand dieser beiden Beispiele soll die Fragestellung der folgenden Themen vorgestellt werden und die lautet: Was braucht mein Kind? Wann? Was spielt sich ab in ihm in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung? Wenn wir uns dessen bewusst sind, was in den Kindern austreibt, was da im Entstehen und Werden ist in den verschiedenen Entwicklungsabschnitten, dann haben wir ein klareres Bild davon, was unser Kind braucht. Dann ergeben sich die Antworten in den meisten Fällen von selbst, und das Blättern in tausenden von Ratgebern und das Suchen in der Schatztruhe pädagogischer Tricks erübrigen sich in den meisten Fällen.
Aber es ist nicht nur der Blick auf die Bedürfnisse des Kindes wichtig sondern auch die Frage: „Was geht vor in uns Eltern?“ Auch diese Frage darf nie vernachlässigt werden, weil auch wir Eltern nicht neutral sind, nicht immer nur beseelt sind von Vernunft und pädagogischem Geschick. Auch wir Eltern sind Ergebnis unseres Werdens, unserer Geschichte, unserer Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die wir vorfanden im Laufe unseres Lebens. Auch wir Eltern sind Menschen mit unseren Schwächen und Fehlern, mit unseren Widersprüchen in uns selbst und mit unserem Bild von uns selbst. Auch wir Eltern sind nicht nur Erziehende, die über der Situation schweben. Wir sind als Eltern Teil der Situation und damit auch Teil des Problems. Als Eltern ernten wir, was unsere Erziehung gesät hat. Dem sollten wir Rechnung tragen, nicht in der Form, dass wir in der Begleichung dieser Rechnung etwas schuldig sind und diese Schuld abtragen.
Wir sind unseren Kindern nichts schuldig, es sei denn dass wir sie wissentlich verletzt und ihnen in böser Absicht Schaden zugefügt haben. Das ist aber in der Regel nicht der Fall. Wir haben ihnen das Leben geschenkt, und das haben wir in den meisten Fällen gerne gemacht. Und die meisten Eltern taten, was sie taten, gerne für ihre Kinder, mit den besten Absichten, aber auch mit all ihren Unzulänglichkeiten, mit all den Fehlern und Fehleinschätzungen, die in allen Bereichen menschlichen Lebens an der Tagesordnung sind. Fehler sind unvermeidlich, alleine schon, weil wir mitunter Entscheidungen treffen müssen aufgrund eingeschränkter Kenntnisse und Erkenntnisse. Wir machen Fehler, weil wir alles so machen, wie wir es für richtig halten. Dahinter steht gute Absicht. Das bedeutet aber nicht immer, dass es das Richtige war. Auch Eltern, die immer glauben zu wissen, was das Richtige für ihre Kinder ist, wissen es nicht immer. Diese Einstellung ist meistens die erste Voraussetzung für ein Verhalten, das sich nicht am Kindeswohl orientiert sondern an der eigenen Angst, keine Fehler zu machen.
Eltern sind keine allmächtigen Götter, die immer genau zu wissen glauben, was ihr Kind braucht. Im Anfang tasten wir, weil das Kind noch nicht reden kann. Und auch später stützen wir uns oft auf unsere Vermutungen, weil wir nicht immer verstehen, was das Kind uns sagen will mit dem, was es uns sagt. Seien wir bescheiden als Eltern und demütig. Wir sind nicht allwissend und schon gar nicht unfehlbar. Erlauben wir uns den Fehler. Aber unterstützen wir uns auch in der Größe, unseren Kindern einzugestehen, dass wir einen Fehler gemacht haben. Seien wir nachsichtig mit uns selbst und machen wir deutlich, dass wir es gemacht haben in der besten Absicht, das Richtige zu tun. Gestehen wir es uns ein, dass wir es getan haben in dem heutigen Wissen, das Falsche getan zu haben. Sagen wir mit Festigkeit, nicht mit Härte, dass es uns Leid tut, wenn es wirklich so ist und angebracht ist. Versuchen wir den Fehler wieder gut zu machen, wenn es nötig und möglich ist, aber nicht indem wir uns freikaufen, denn es handelt sich nicht um ein Geschäft. Wir lassen uns von unseren Kinder keine Absolution erteilen, denn wir haben einen Fehler begangen und keine Sünde. Auch unsere Kinder werden Fehler uns gegenüber begehen und begangen haben, wenn sie erwachsen sind. All das geschieht nicht, weil wir Schuld abzutragen haben, sondern weil es uns Leid tut, unseren Kindern Unrecht zugefügt zu haben. Aber wir tun es nicht zuletzt auch, um unseren Kindern zu zeigen, wie man mit Fehlern umzugehen hat, um sie aus der Welt zu schaffen.
Aber Schuld, die wir auf uns geladen haben und die nicht wieder gutzumachen ist, die müssen wir tragen. Das ist Erwachsensein.