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„Englands Jane“ Einleitung

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Es muss ein befremdlicher Anblick für Spaziergänger gewesen sein an jenem warmen Nachmittag im April: Stolze Gentlemen in Gehrock oder Galauniform und vornehme Ladys in wallenden Empirekleidern, das Haar zu Ringellöckchen gedreht, lustwandeln bei gepflegter Konversation durch den Park, sitzen auf Bänken, drehen ihre Runden um den Springbrunnen. Sussex, England, 1812? Nein, Erlangen, Bayern, 2015. Dann vielleicht ein Filmset, die Kulisse für eine viktorianische Schmonzette? Nein, die Menschen hier werden nicht dafür bezahlt, dass sie sich in ungemütliche Kostüme zwängen und beim Gruppentanz schwitzen, sie begeben sich ganz und gar freiwillig und mit Freude auf eine Zeitreise namens „Jane-Austen-Ball“. Jane Austen – schon unter ihren Zeitgenossen und frühen Lesern gibt es große Bewunderer. So vertraut der schottische Schriftsteller Walter Scott 1826 seinem Tagebuch an, ihm selbst fehle „the exquisite touch“, das besondere Fingerspitzengefühl Austens. Andere hingegen verachten sie so leidenschaftlich, dass sie sogar mit dem Gedanken spielen, ihre Totenruhe zu stören, um ihr mit ihrem eigenen Schienbeinknochen eins überzuziehen (Mark Twain in einem Brief 1898).


Jane-Austen-Ball in Erlangen 2015

Im Lauf der zwei Jahrhunderte seit ihrem Tod ist „Englands Jane“ (Rudyard Kipling) eine feste Größe im englischen Literaturkanon geworden. In Großbritannien kommen Schüler und Studenten nicht an ihr vorbei, und auch außerhalb von Schulen und Universitäten setzt sich der Jane-Austen-Kult fort. Verglichen jedoch mit ihrer Bedeutung in der Heimat, ist die Rezeption in Deutschland für manch ernsthaften Leser schmerzhaft. Dementsprechend räumt der Großteil der Ballteilnehmer in Ansbach auch ein, nie etwas von Jane Austen gelesen zu haben. Sie scheint hier zum bloßen Symbol für alles Viktorianische geworden zu sein, für alles Romantisch-Englische. Wir hören Jane Austen, wir sehen regenschwere Rosen und riechen Earl Grey und Scones. Die unzähligen Neuausgaben ihrer sechs großen Romane werden entweder mit ihrem nachträglich an die viktorianische Mode angepassten Porträt bebildert oder mit Flieder. Jane Austen als scharfzüngige, spitzfedrige Satirikerin, als stille, aber unbeirrbare Kritikerin der Gesellschaft, in der sie sich bewegte, und nicht zuletzt auch als Frau, der ebendiese Gesellschaft verbot, ihr ganzes Potenzial selbst zu erkennen und dafür kompromisslos einzustehen, diese Jane Austen bleibt oft verborgen hinter all dem Rosarot. Auch im englischsprachigen Raum gehört Jane Austen für viele Leser in den Bereich der Feel-good-Literatur, gleichzeitig wird sie dort jedoch ganz selbstverständlich in einem Atemzug mit Shakespeare genannt und darüber hinaus in immer neuen Adaptionen und Interpretationen äußerst lebendig gehalten.

Die Wiederentdeckung Jane Austens in den 90er-Jahren bedeutete gleichzeitig die massive Vereinnahmung der Schriftstellerin als Emblem für den aktuellen Zeitgeist mit seiner offensichtlichen Sehnsucht nach klaren gesellschaftlichen Strukturen und die romantische Verklärung ihres Romanstoffes im historischen Kostümfilm. 1995 verfilmte die BBC das berühmteste Werk Austens, Pride and Prejudice (Stolz und Vorurteil), mit einem jungen, düsteren Colin Firth als Mr Darcy, der in den 2000er-Jahren an der Seite von Renée Zellweger in den Verfilmungen von Bridget Jones noch einmal in seine Erfolgsrolle schlüpfen durfte. Auch Hollywood entdeckte Jane Austen also für sich. Ang Lee führte Regie bei Sense and Sensibility (unglücklicher deutscher Titel: Sinn und Sinnlichkeit), Emma gewann sogar einen Oscar. Insgesamt sind es bis heute an die 50 Verfilmungen für Kino und Fernsehen, für die Jane Austen die Vorlagen lieferte.


Colin Firth als Mr Darcy und Jennifer Ehle als Lizzy Bennet in der BBC-Verfilmung von Pride and Prejudice (1995)

Parallel dazu wuchs die Fangemeinde im Internet oder wurde durch dessen rasante Entwicklung überhaupt erst sichtbar. Jetzt entstanden Fanseiten, auf denen man sich über sein Idol austauschte oder kurzerhand dessen Geschichten weiterspann. Fanfiction ist das Genre der Stunde. Auch dem Absatz von Merchandise-Produkten wie Tassen, Schürzen und hübsch gebundenen Terminplanern mit Jane-Austen-Zitaten half das Netz sehr auf die Sprünge. Eine ganz eigene Sparte auf dem Buchmarkt bilden neben Jane Austens eigenen Werken solche Titel, die allein mithilfe des Namens zum Kauf anregen sollen. Kochbücher, Gartenbücher, Kalender …

Es sind nicht nur die „Janeites“ unter den hauptberuflichen Lehrern, Ärzten, Hausfrauen, die nach einer irgendwie gearteten Wiederbelebung des Stoffes dürsten. Neben den Filmschaffenden fühlen sich auch professionelle Buchautoren von Jane Austen inspiriert und nehmen sich ihr und ihrer Helden in Fort- und Umschreibungen an. Allein Joan Aiken schrieb zwischen 1984 und 2001 sechs Romane mit Austen-Bezug. Seit 2011 nehmen sich im „Austen Project“ nacheinander sechs Bestsellerautoren die großen Werke vor und verlegen die Handlung ins 21. Jahrhundert, darunter Val McDermid und Joanna Trollope. Seth Grahame-Smith schickt in Stolz und Vorurteil und Zombies (Pride and Prejudice and Zombies) ein paar menschenfressende Untote in die englische Idylle und evoziert damit nicht nur interessante Gedanken zu Jane Austens Gesellschaftskritik, sondern auch zum Zombie-Genre, ausgehend vom Horror-Kultfilm Die Nacht der lebenden Toten (Night of the Living Dead) von George A. Romero. Dabei müssen sich die Bennet-Schwestern durch eine beachtliche Menge Untoter schlachten, ehe sie dann dem auch hier unangetasteten Happy End zugeführt werden können.

Ob klassische Adaption oder fantastisches Zombie-Spektakel, ob Buch oder Film, ob getrieben von literaturwissenschaftlichem Interesse oder reiner Sympathie für die Figuren und ihre Welt – Jane Austen ist ein Erfolgsgarant. Warum? Und warum ist die Diskrepanz in ihrer Rezeption so groß? Warum kann die Welt auch 200 Jahre nach Jane Austens Tod aus dem vergleichsweise wenigen Material so viel für sich gewinnen? Wer war diese Frau, als deren einziges Thema die einen gelangweilt Liebe und Hochzeit ausmachen, während die anderen sie als Protofeministin verehren, die sich erfolgreich ihrer Bestimmung als Ehefrau und Mutter entzog zugunsten eines höheren Ziels, dem Schreiben? Jane Austen hielt sich, was ihr Inneres angeht, weitgehend bedeckt. Tiefe Überzeugungen, eine mögliche politische Haltung gar zu den großen sozialen Unruhen während ihrer Lebenszeit – dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der Französischen Revolution, den napoleonischen Kriegen und der großen Not der englischen Arbeiter im Zuge der Industrialisierung – sucht man vergebens. Die kluge Zynikerin, die bissige Satirikerin und genaue Beobachterin allerdings spricht aus jeder Zeile über das englische Wetter und die neuesten Haubentrends, und es ist schwer vorstellbar, dass die Verfasserin geschwiegen hätte, wäre sie bloß je gefragt worden.

Jane Austens kurzes Leben liegt weitgehend im Dunkel. Das Maß ihrer Beliebtheit steht in krassem Gegensatz zur Unkenntnis über ihr Dasein, und so wurde und wird über kaum ein anderes Schriftstellerleben so viel spekuliert. Die konkrete Quellenlage ist dabei überschaubar: Geboren am 16. Dezember 1775 in Steventon, verbrachte sie die ersten 25 Jahre ihres Lebens im väterlichen Pfarrhaus, wo sie schon mit etwa zwölf Jahren zu schreiben anfing und wo auch drei ihrer sechs großen Romane entstanden: Stolz und Vorurteil, Verstand und Gefühl und Kloster Northanger. Es folgte eine unstete Zeit mit Umzügen, Krisen und schließlich der Krankheit, an der sie mit nur 41 Jahren sterben sollte. In dieser Zeit schrieb Jane Austen Mansfield Park, Emma und Überredung (Persuasion), die heute ebenfalls zur Weltliteratur gehören, und arbeitete an zwei weiteren Romanen, die jedoch unvollendet blieben, Die Watsons und Sanditon. 161 Briefe, davon die meisten an Janes Schwester Cassandra gerichtet, ihre engste Vertraute, haben die Zeit überdauert – leider zensiert durch die wohlmeinende Schwester: Über die Hälfte des Schriftverkehrs fiel Feuer oder Schere zum Opfer. Jane Austens einmaliger Blick auf die Menschen, ihr Wortwitz und ihr scharfer Verstand sind zwar allgegenwärtig in ihren Briefen, und jeder, der daran Gefallen findet, wird hier gut unterhalten, doch das häusliche Leben mit all seinen Banalitäten nimmt doch einen großen Raum ein, und somit fällt die Lektüre ein wenig unbefriedigend für jeden aus, der über Spitzenhauben und Bälle hinaus etwas Konkretes erfahren möchte. Hinzu kommt die Tatsache, dass der erste erhaltene Brief aus Jane Austens 21. Lebensjahr stammt – über Kindheit und Jugend erfahren wir durch die Autorin selbst also nichts, wenn man von der Verarbeitung in ihren Büchern absieht, deren Interpretationsmöglichkeiten so zahlreich sind wie die Forscher, die sich mit Jane Austens Leben und Werk beschäftigt haben und es noch tun. Große Lücken klaffen außerdem in diesem Briefverkehr, über viele Jahre hinweg ist er entweder nicht erhalten oder bleibt vollständig aus, etwa aufgrund der schlichten Tatsache, dass Jane und Cassandra am selben Ort lebten. Von Cassandra an Jane ist kein einziger Brief erhalten, sehr zum Unglück der Forschung, denn Jane lobt immer wieder Cassandras Schreibtalent. Doch die Briefe von anderen Verwandten der Austens haben geholfen, ein klareres Bild von Janes Leben zu entwickeln. Insbesondere der Briefverkehr zwischen den Cousinen Eliza de Feuillide und Philadelphia Walter ist hier aufschlussreich.


Portrait von Jane Austen

Eine weitere wichtige Quelle sind die biografischen Werke, die die Nachkommen Jane Austens im Zuge des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Interesses für die unbekannte Schriftstellerin verfassten. Das erste, A Memoir of Jane Austen von ihrem Neffen James Edward Austen-Leigh, ist dabei in Hinblick auf Janes Seelenleben mit Vorsicht zu genießen; zu sehr steht das 1870 entstandene Werk unter dem viktorianischen Einfluss seiner Zeit, dem Bedürfnis schönzufärben und zu streichen, wo die Intimsphäre der Porträtierten und deren Familie nach damaligem Empfinden hätte verletzt werden können. Dennoch, Austen-Leigh öffnet zum ersten Mal die Familienarchive, sammelt Briefe und Berichte und zeichnet ein spannendes Bild nicht nur von Janes Zeit, sondern auch der viktorianischen, in der er selbst lebte. Weitere Briefe wurden 1884 von Austens Großneffen Lord Brabourne und 1906 in der Biografie von Austens Seefahrer-Brüdern Francis und Charles von deren Nachkommen herausgegeben. 1913 erschien eine weitere Biografie zweier Neffen, William und Richard Arthur Austen-Leigh, erweitert durch viele Briefe und persönliche Notizen Angehöriger oder Nachkommen Jane Austens.

Zensierte Briefe, persönlich gefärbte Lebensbeschreibungen und ein Werk, das zwar nicht umfangreich ist, aber unsterblich: So setzt sich das Bild Jane Austens zusammen, der – um es mit Virginia Woolfs Worten zu sagen – „vollkommensten Künstlerin unter allen Frauen“.

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