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Offene Tür
ОглавлениеDas erste Mal betrank ich mich mit Elias’ Wein. Ich war acht oder so. Es war Passah, das Fest, an dem die Flucht aus Ägypten und, allgemeiner, die Freiheit gefeiert wird. Ich saß bei den Großen am Tisch, denn meine Eltern und dieses andere Ehepaar hatten zusammen insgesamt fünf Jungen, weshalb die Erwachsenen beschlossen hatten, es wäre besser für mich, ich würde von ihrer statt von meiner Generation ignoriert. Die Decke war orange-rot gemustert und der ganze Tisch voller Gläser, Teller, Schüsseln, Silberbestecke und Kerzen. Ich verwechselte den Stielkelch, der für den Propheten hingestellt worden war, mit meinem Schnapsglas, das direkt daneben stand und ebenfalls süßen rubinroten Wein enthielt, und trank versehentlich den Kelch aus. Als meine Mutter es schließlich merkte, ließ ich mich etwas zur Seite sacken und grinste leicht, doch als sie eine verärgerte Miene aufsetzte, spielte ich die Nüchterne statt die Beschwipste.
Sie war eine abtrünnige Katholikin, die andere Frau eine ehemalige Protestantin, aber die beiden Männer waren Juden, und die Frauen meinten, für die Kinder wäre es gut, den alten Brauch weiter zu pflegen. Weshalb für Elias das Passah-Weinglas hingestellt wurde. In manchen Versionen kehrt er am Ende der Zeit auf die Erde zurück und beantwortet alle unbeantwortbaren Fragen. In anderen wandert er, in Lumpen gehüllt, auf der Erde umher und beantwortet den Gelehrten schwierige Fragen. Ich weiß nicht, ob damals auch der Rest der Tradition befolgt und eine Tür aufgelassen wurde, damit er hereinkommen konnte, doch kann ich mir durchaus vorstellen, dass die orangefarbene Haustür oder eine der gläsernen Schiebetüren, die in den Garten dieses in einem kleinen Tal gelegenen, im Rancherstil gebauten Hauses führten, für die kühle Luft der Frühlingsnacht offen stand. Normalerweise schlossen wir die Türen immer ab, obwohl in diesem nördlichsten Wohngebiet des Countys nichts Unerwartetes die Straße herunterkam, außer Wild – Rehe, die in den frühen Morgenstunden mit ihren Hufen über den Asphalt klapp-klapp-klapperten, Waschbären und Stinktiere, die sich im Gebüsch versteckten. Dieses Öffnen der Tür für die Nacht, für die Prophezeiung und das Ende der Zeit wäre ein aufregender Verstoß gegen die üblichen Regeln gewesen. Und ich weiß auch nicht mehr, was sich mir durch den Wein eröffnete – vielleicht ein unbeschwerterer Abstand zu der Unterhaltung, die im wahrsten Sinne des Wortes über meinen Kopf hinweg stattfand, ein Gefühl der Gelassenheit in der plötzlich spürbaren Schwere eines kleinen Körpers auf diesem mittelgroßen Planeten.
Lass die Tür offen für das Unbekannte, die Tür in die Dunkelheit. Dort kommen die wichtigsten Dinge her, dort bist du selbst hergekommen, und dort wirst du auch wieder hingehen. Vor drei Jahren veranstaltete ich einen Workshop in den Rocky Mountains. Eine Studentin brachte ein Zitat mit, das, wie sie sagte, von dem vorsokratischen Philosophen Menon stammte. Es lautete: »Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?« Ich schrieb es mir auf und habe es seither nicht mehr vergessen. Die Studentin machte großformatige transparente Unterwasserfotografien von Schwimmern und hängte sie an die Decke, damit das Licht durch sie hindurchscheinen konnte, sodass die Schatten der Schwimmer über einen hinwegglitten, während man sich in dem Raum bewegte, einem Raum, der selbst aquatisch und geheimnisvoll wirkte. Die Frage, die sie bei sich trug, schien mir die grundlegende taktische Frage des Lebens überhaupt zu sein. Die Dinge, die wir uns wünschen, sind transformativ, und wir wissen nicht oder glauben nur zu wissen, was auf der anderen Seite dieser Verwandlung liegt. Liebe, Weisheit, Würde, Inspiration – wie soll man diese Dinge suchen und finden, Dinge, bei denen es in gewisser Hinsicht auch darum geht, die Grenzen des Ichs auf unbekanntes Territorium zu erweitern, jemand anderes zu werden?
Auf jeden Fall ist das Unbekannte, die Idee oder Form oder Geschichte, die sich noch nicht eingestellt hat, das, was alle Künstler und Künstlerinnen finden müssen. Es ist ihre Aufgabe, Türen zu öffnen und Prophezeiungen, das Unbekannte, das Ungewohnte einzuladen – dort hat ihre Arbeit ihren Ursprung; hat es sich dann eingefunden, signalisiert dies den Beginn des langen, disziplinierten Prozesses, es sich zu eigen zu machen. Auch Wissenschaftler, wie J. Robert Oppenheimer einmal bemerkte, »leben immer am ›Rand des Mysteriums‹ – an der Grenze des Unbekannten«. Doch transformieren sie das Unbekannte in das Bekannte, holen es wie Fischer ein; Künstler und Künstlerinnen dagegen nehmen einen mit hinaus auf jene dunkle See.
Edgar Allan Poe verkündete: »Was philosophische Entdeckungen anbelangt, so lehrt uns alle Erfahrung, dass es bei solchen Entdeckungen das Unvorhergesehene ist, das wir am meisten in Rechnung stellen müssen.« Ganz bewusst setzt Poe den Begriff »in Rechnung stellen«, der ein kaltes Zusammenzählen von Fakten oder Zahlen impliziert, neben das »Unvorhergesehene«, das nicht gemessen oder gezählt, sondern nur antizipiert werden kann. Wie stellt man das Unvorhergesehene in Rechnung? Es scheint eine Kunst zu sein, die Rolle des Unvorhergesehenen zu erkennen, inmitten von Überraschungen das Gleichgewicht zu bewahren, mit dem Zufall zusammenzuarbeiten, zu begreifen, dass es auf der Welt einige grundlegende Mysterien gibt und das Berechnen, das Planen, das Lenken daher Grenzen hat. Das Unvorhergesehene in Rechnung zu stellen ist vielleicht genau die paradoxe Tätigkeit, die das Leben am meisten von uns verlangt.
An einem berühmten Mittwinterabend im Jahre 1817 unterhielt sich der Dichter John Keats auf dem Heimweg mit mehreren Freunden:
… manches leuchtete mir ein und plötzlich verstand ich, welche Eigenschaft es ist, die einen Mann bedeutend macht, besonders in der Literatur… ich meine die Negative Befähigung, das heißt, wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen.
Auf die eine oder andere Art und Weise taucht dieser Gedanke immer wieder auf, wie die »Terra incognita« genannten Flecken auf alten Landkarten.
»Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden – das mag uninteressant und banal sein. Unkenntnis braucht es dazu – sonst nichts«, schreibt der Philosoph und Essayist Walter Benjamin. »In einer Stadt sich aber zu verirren – wie man in einem Wald sich verirrt –, das bedarf schon einer ganz anderen Schulung.« Sich verirren, verlieren: ein sinnliches Sich-Aufgeben, verloren in deinen Armen, verloren für die Welt, vollkommen eingetaucht in das, was gegenwärtig ist, sodass die Umgebung verblasst. Benjamin zufolge bedeutet sich verirrt zu haben, völlig gegenwärtig zu sein, und völlig gegenwärtig zu sein heißt, es auszuhalten im Ungewissen und Unergründlichen. Und man wird nicht in die Irre geführt, sondern man geht in die Irre, man verirrt sich, was bedeutet, dass es eine bewusste Wahl ist, ein selbst gewähltes Sich-Aufgeben, ein psychischer, mithilfe der Geografie erreichbarer Zustand.
Dasjenige, wovon man gar nicht weiß, was es ist, ist gewöhnlich genau das, was man finden muss, und es zu finden ist eine Frage des In-die-Irre-Gehens. »Lost«, das englische Wort für »verirrt«, für »verloren«, kommt vom altnordischen »los«, was so viel bedeutet wie die »Auflösung eines Heeres«; so verbindet sich die ursprüngliche Wortbedeutung mit der Vorstellung von Soldaten, die sich aus ihrer Formation lösen, um heimzukehren – ein Waffenstillstand mit der weiten Welt. Ich befürchte, heutzutage lösen viele nie ihre Heere auf, gehen nie über das hinaus, was sie wissen. Alles wirkt darauf hin: die Werbung, alarmierende Nachrichten, Technologien, die ständige Geschäftigkeit sowie die Gestaltung des öffentlichen und privaten Raumes. Ein kürzlich veröffentlichter Artikel über die Rückkehr wilder Tiere in die Vorstädte beschreibt schneebedeckte Gärten, die zwar voller Tierspuren sind, wo sich jedoch keine Fußabdrücke von Kindern finden. Was die Tiere anlangt, so sind die Vororte eine verlassene Landschaft, in der sie voller Selbstvertrauen umherstreifen. Kinder dagegen streifen nur selten umher, selbst in den sichersten Gegenden. Da ihre Eltern Angst haben vor den ungeheuerlichen Dingen, die passieren könnten (und auch tatsächlich passieren, aber nur selten), werden sie der wunderbaren Dinge beraubt, die ganz selbstverständlich geschehen. Mir gab das Umherstreifen in der Kindheit Eigenständigkeit, einen Richtungssinn, ein Gespür für Abenteuer, Fantasie, den Willen, etwas zu erforschen, mich ein bisschen zu verirren und dann den Weg zurück zu finden. Ich frage mich, wozu es wohl führt, wenn man die heutige Generation unter Hausarrest stellt.
In jenem Sommer in den Rockies, als ich Menons Frage hörte, wanderte ich mit den Studenten in eine Landschaft hinein, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Zwischen weißen Espensäulen wuchsen zierliche, kniehohe grüne Pflanzen, deren Blätter wie grüne Fächer, wie Hustenbonbons, wie Muscheln aussahen und deren Stängel sich mit ihren weißen und violetten Blüten im leichten Wind wiegten. Der Pfad führte zu einem Fluss hinunter, den die Bären gern besuchten. Als wir zurückkamen, wartete am Weganfang eine kräftige, sonnengebräunte Frau, die ich zehn Jahre zuvor kurz kennengelernt hatte. Dass sie mich erkannte und ich mich an sie erinnerte, war eine Überraschung; dass wir uns nach diesem zweiten Treffen anfreundeten, das war mein Glück. Sallie war schon lange Mitglied des Bergrettungsdienstes, und als wir sie an jenem Tag trafen, war sie auf einem Routineeinsatz – eine jener Suchaktionen nach verirrten Wanderern, die, wie sie sagte, normalerweise irgendwo in der Nähe der Stelle wieder auftauchen, an der sie auch verschwunden sind. Sie lauschte an ihrem Funkgerät und passte auf, wer den Weg heraufkam, einer der Wege, auf dem die verirrte Gruppe voraussichtlich auftauchen würde, und so fand sie mich. In jener Gegend sehen die Rockies aus wie zerknitterter Stoff, eine steile Landschaft aus Bergkämmen und Tälern, die in die verschiedensten Richtungen verlaufen, wo es leicht ist, sich zu verirren, und nicht allzu schwer, wieder herauszufinden, immer zu den Straßen hinab, die durch viele Talsohlen führen. Für die freiwilligen Mitarbeiter des Bergrettungsdienstes jedoch ist jede Rettungsaktion ein Ausflug ins Unbekannte. Sie können einen dankbaren Menschen finden oder eine Leiche, sie können die Gesuchten schnell oder erst nach wochenlangem intensiven Einsatz finden, oder aber sie finden die Vermissten oder lösen deren Geheimnis nie.
Drei Jahre später fuhr ich zurück, um Sallie und ihre Berge zu besuchen und sie zu fragen, wie es mit dem Sich-Verirren sei. Im Laufe meines Besuches wanderten wir einmal entlang der Kontinentalscheide, auf einem Weg, der aus einer Höhe von 3600 Metern anstieg und über Grate führte und durch die alpine Tundra, die sich oberhalb der Baumgrenze wie ein Teppich ausbreitet. Während wir immer weiter emporstiegen, eröffnete sich uns ein Blick in alle Richtungen, bis unser Weg die Mittelnaht einer Welt zu sein schien, die am gesamten Horizont von gezackten blauen Bergketten gesäumt war. Der Begriff »Kontinentalscheide« ließ das Bild von Wasser entstehen, das zu beiden Ozeanen hinabfließt, von einem Rückgrat der Berge, das sich fast über den gesamten Kontinent erstreckt, es rief die Vorstellung von den vier strahlenförmig von dort ausgehenden Himmelsrichtungen hervor und vermittelte, wenn nicht im praktischsten, so doch im metaphysischsten Sinne, ein Gefühl davon, wo man gerade war. Ich wäre ewig weiter in diese Gipfelwelt hineingelaufen, doch ein Donnern in den zusammengeballten Wolken und ein langer Blitzstrahl ließen Sallie umkehren. Auf dem Weg hinunter fragte ich sie, welche Rettungsaktionen sie besonders deutlich in Erinnerung habe. Bei einem ihrer Einsätze hatten sie versucht, einen Mann zu retten, der, wie sich herausstellte, von einem Blitz erschlagen worden war, was dort oben keine ungewöhnliche Todesart ist, weshalb wir jetzt auch von diesem herrlichen Bergkamm hinabstiegen.
Beim Abstieg erzählte sie mir von einem verirrten elfjährigen Jungen, der nicht nur taub war, sondern, da er an einer degenerativen Krankheit litt, die letztendlich sein Leben verkürzen sollte, auch langsam das Augenlicht verlor. Er war in einem Ferienlager gewesen, und die Betreuer hatten mit den Kindern einen Ausflug gemacht und dann Verstecken mit ihnen gespielt. Er musste sich zu gut versteckt haben, denn als der Tag vorüber war, konnte ihn niemand finden, und er selbst fand auch nicht zurück. Der Rettungsdienst wurde gerufen, als es bereits dunkel war, und Sallie brach mit einem unguten Gefühl in das sumpfige Gebiet auf und mit der Erwartung, dass sie in der fast frostigen Nacht nur noch eine Leiche finden würden. Sie durchkämmten die ganze Gegend, und gerade, als die Sonne über den Horizont kam, hörte Sallie schließlich ein Pfeifen und rannte los. Es war der Junge, der vor Kälte zitternd in eine Pfeife blies; sie nahm ihn in die Arme, und dann streifte sie die meisten ihrer Sachen ab und zog sie ihm über. Er hatte alles richtig gemacht – seine Pfeife war nicht laut genug gewesen, dass die Betreuer sie bei dem Rauschen des Flusses hätten hören können, aber er hatte bis zum Einbruch der Dunkelheit gepfiffen, sich dann zwischen zwei umgestürzten Bäumen zusammengerollt und, sobald es hell wurde, wieder zu pfeifen begonnen. Er strahlte, weil er gefunden worden war, und sie war in Tränen aufgelöst, weil sie ihn gefunden hatte.
Rettungsmannschaften haben das Finden zu einer Kunst und das In-die-Irre-Gehen zu einer Wissenschaft gemacht, obwohl die Hälfte aller Einsätze, wenn nicht sogar mehr, zum Ziel hat, Verletzte zu bergen oder Gestrandete zu retten. Heutzutage ist die einfachste Antwort auf die Frage, warum Menschen sich im buchstäblichen Sinne verirren, die Tatsache, dass viele einfach nicht aufpassen, nicht wissen, was sie tun sollen, wenn sie merken, dass sie nicht zurückfinden, oder nicht zugeben, dass sie es nicht wissen. Es ist eine Kunst, auf das Wetter zu achten, auf den Weg, auf die Orientierungspunkte entlang des Weges, darauf, dass der Rückweg, wenn man sich umdreht, vollkommen anders aussieht als der Hinweg, es ist eine Kunst, die Sonne, den Mond und die Sterne zu lesen und sich an ihnen zu orientieren, auf die Richtung, in die das Wasser fließt, achtzugeben, auf die tausend Dinge, die aus der Wildnis einen Text machen, der von Lesekundigen entziffert werden kann. Die Verirrten können diese Sprache oft nicht lesen, diese Sprache der Erde, oder sie halten nicht inne, um es zu tun. Und es gibt auch noch eine andere Kunst, im Unbekannten zu Hause zu sein, sodass man, wenn man sich mittendrin befindet, nicht in Panik ausbricht oder Schaden leidet: die Kunst, in der Irre zu Hause zu sein. Diese Fähigkeit ist vielleicht gar nicht so weit entfernt von Keats’ Fähigkeit, »das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen«. (Heute wird diese Fähigkeit durch Mobiltelefone und das Globale Positionierungssystem GPS ersetzt, mit deren Hilfe immer mehr Menschen ihre eigene Rettung wie Pizza bestellen, auch wenn es noch immer viele Gegenden ohne Funksignale gibt.)
Jäger verirrten sich in diesem Teil der Rockies oft, erzählte mir Sallies Freundin Landon, während sie an ihrem Schreibtisch saß, umgeben von Bildern von ihrer Familie und von den Tieren der Ranch, die sie mit ihrem Mann betrieb, denn bei der Jagd auf Wild kämen sie ständig vom Weg ab. Sie erzählte mir von einem Rotwildjäger, der sich auf einem Plateau, wo die einander gegenüberliegenden Gipfel identisch aussehen, umblickte. Dort, wo er stand, wurde eine dieser Gipfelgruppen von Bäumen verdeckt, weshalb er dann später genau in die falsche Richtung weiterging. Überzeugt davon, dass er hinter dem nächsten oder übernächsten Bergkamm am Ziel wäre, ging er den ganzen Tag und die ganze Nacht weiter, erschöpfte allmählich seine Kräfte, kühlte zunehmend aus und begann dann irgendwann, aufgrund von Wahnvorstellungen, die mit einer starken Unterkühlung einhergehen, sich heiß zu fühlen und seine Kleider abzuwerfen, was dazu führte, dass er eine Spur von Kleidungsstücken hinterließ, der man auf den letzten Kilometern folgen konnte. Kinder, meinte Landon, könnten sich gut verirren, denn »das Überleben hängt entscheidend davon ab, ob man weiß, dass man sich verirrt hat«: Sie irren nicht weit umher, rollen sich nachts an einem geschützten Ort zusammen, wissen, dass sie Hilfe brauchen. Landon erzählte von den alten Fertigkeiten und Instinkten, die man in der Wildnis braucht, und von der geradezu unheimlichen Intuition ihres Mannes, die sie genauso zu jenen Fähigkeiten zählt wie all die konkreten Techniken des Sich-Zurechtfindens, des Spurenlesens und des Überlebens, die sie gelernt hatte. Einmal hatte er ein Schneemobil bis direkt vor die Füße eines Arztes gefahren, der sich verirrt hatte, als ein Spaziergang bei mildem Winterwetter in einem dichten Schneesturm endete; von einem unerklärlichen Instinkt geleitet, hatte er gewusst, wo der frierende Mann war: abseits des Weges und am anderen Ende einer verschneiten Wiese. Ein Rancharbeiter hatte erzählt, wie eigenartig eine andere Rettungsaktion gewesen sei, weil sie, statt zu rufen, stumm in die Schneenacht hinausgegangen waren. Der Rancher hatte nicht gerufen, weil er wusste, in welche Richtung er gehen musste, und blieb dann am Rand des Felsvorsprungs stehen, unter dem der verirrte Skiläufer festsaß. Dieser hatte versucht, am Wildbach entlang zurückzufinden, was normalerweise eine gute Strategie ist, doch dieser Bach wurde immer schmaler und tiefer, bis er eine Reihe von Wasserfällen bildete und steil hinabstürzte. Und so saß der Skiläufer, zusammengekauert, den Pullover über die Knie gezogen, unter einem Felsvorsprung fest. Sein Pullover war so hart gefroren, dass man den Mann fast aus ihm herausmeißeln musste.
Mir selbst brachte ein Outdoorexperte bei, dass man auf jeder noch so kleinen Wanderung immer Regenkleidung, Wasser und andere Vorräte bei sich haben sollte, dass man darauf vorbereitet sein sollte, lange Zeit im Freien zu verbringen, da Pläne oft schiefgingen und man sich im Hinblick auf das Wetter nur auf eins verlassen könne, nämlich, dass es sich ändert. Ich besitze keine besonderen Fertigkeiten, doch scheine ich auf Straßen und Wanderwegen und Highways und manchmal auch beim Querfeldeinwandern mit dem In-die-Irre-Gehen immer nur zu kokettieren und lediglich den Rand des Unbekannten, der die Sinne schärft, zu streifen. Ich mag es, vom Weg abzuweichen, das mir bekannte Terrain zu verlassen, ein paar Extrakilometer zu gehen und auf einem anderen Weg zurückzufinden, mit einem Kompass, der der Landkarte widerspricht, mit den gegensätzlichen anekdotischen Richtungsangaben von Fremden. Nächte allein in Motels in abgelegenen Orten im Westen, wo ich niemanden kenne und wo niemand, den ich kenne, weiß, wo ich bin, Nächte mit den seltsamen Bildern, den geblümten Bettdecken und dem Kabelfernsehen, die mir eine Atempause von meiner eigenen Lebensgeschichte verschaffen, wo ich, um mit Benjamin zu sprechen, mich verirrt, mich verloren habe, obwohl ich weiß, wo ich bin. Augenblicke, wo ich mir, wenn meine Füße oder mein Auto einen Bergkamm überqueren oder um eine Ecke biegen, sage, dass ich diesen Ort noch nie gesehen habe. Zeiten, wo mir eine architektonische Einzelheit oder Perspektive, die mir während all dieser Jahre entgangen war, sagt, dass ich nie wirklich wusste, wo ich war, selbst bei mir zu Hause nicht. Geschichten, die das Bekannte wieder verfremden, wie die Geschichten, die die verschwundenen Landschaften, die verschwundenen Friedhöfe, die verschwundenen Tier- und Pflanzenarten aus der Umgebung meiner Wohnung wieder zum Vorschein brachten. Unterhaltungen, die alles um sie herum verschwinden lassen. Träume, die ich vergesse, bis mir klar wird, dass sie alles gefärbt haben, was ich an jenem Tag gefühlt und getan habe. Sich dergestalt zu verlieren scheint mir der Beginn eines Prozesses zu sein, bei dem man seinen eigenen oder einen anderen Weg findet, wenngleich man sich auch noch auf andere Weise verirren kann.
Im 19. Jahrhundert scheinen Amerikaner selten auf so katastrophale Weise in die Irre gegangen zu sein wie die Menschen, die heute von Rettungsmannschaften verirrt oder tot geborgen werden. Ich machte mich auf die Suche nach ihren Geschichten darüber, wie sie sich verirrt hatten, und stellte fest, dass es für diejenigen, die keinen vollgepackten Zeitplan hatten, die sich aus der Natur ernähren konnten, die Fährten lesen konnten, die sich in noch unkartografierten Gegenden an Himmelskörpern, Wasserwegen und mündlichen Wegbeschreibungen orientieren konnten, keine Katastrophe war, einen Tag oder auch eine Woche vom Weg abzukommen. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie in den Wäldern verirrt«, sagte Daniel Boone, »obwohl ich einmal drei Tage lang verwirrt war.« Für Boone ist das eine legitime Unterscheidung, da er es letztendlich schaffte, wieder dorthin zurückzufinden, wo er sich auskannte, und wusste, was er in der Zwischenzeit tun musste. Die gefeierte Rolle, die Sacajawea bei der Lewis-und-Clark-Expedition spielte, war in erster Linie nicht die einer Kundschafterin; sie machte ihnen, wenn sie sich verirrt hatten, das Leben durch ihre Kenntnis nützlicher Pflanzen leichter, durch ihre Sprachkenntnisse, dadurch, dass sie und ihr Baby den Indianerstämmen, denen sie begegneten, klarmachten, dass es sich nicht um einen Kriegstrupp handelte, und vielleicht auch durch ihr Gespür dafür, dass die ganze Landschaft ein Zuhause war, zumindest für irgendjemanden. Genau wie sie fühlten sich viele weiße Scouts, Trapper und Forschungsreisende im Unbekannten zu Hause, denn obwohl ihnen eine bestimmte Gegend nicht vertraut gewesen sein konnte, war die Wildnis als solche in vielen Fällen ihre Wahlheimat. »Forschungsreisende«, schrieb mir der Historiker Aaron Sachs als Antwort auf eine Frage,
verirrten sich ständig, da sie in diesen Gegenden noch nie gewesen waren. Sie haben nie erwartet, genau zu wissen, wo sie gerade waren. Gleichzeitig kannten sich viele jedoch ziemlich gut mit ihren Messgeräten aus, und auch ihre Route kannten sie einigermaßen genau. Meiner Meinung nach war ihre wichtigste Eigenschaft einfach ein Gefühl von Optimismus, dass sie überleben und sich zurechtfinden würden.
Verirrt zu sein, halfen mir meine Gesprächspartner zu verstehen, war hauptsächlich ein Geisteszustand, und das trifft auf all die metaphysischen und metaphorischen Verirrungen genauso zu wie auf das Herumstolpern in irgendwelchen entlegenen Gegenden.
Die Frage ist also, wie man sich verirren soll. Sich nie zu verirren heißt, nicht zu leben, nicht zu wissen, wie das In-die-Irre-Gehen einen in den Untergang führt, und irgendwo in der Terra incognita dazwischen liegt ein Leben voller Entdeckungen. Zusammen mit seinen eigenen Worten schickte Sachs mir ein paar Zeilen von Thoreau, für den es ein und dieselbe Kunst ist, sich im Leben, in der Wildnis und in der Welt der Bedeutungen zu orientieren, und der innerhalb eines einzigen Satzes auf subtile Weise von einem zum anderen überwechselt. »Es ist eine ebenso überraschende und merkwürdige wie wertvolle Erfahrung, sich im Walde zu irgendeiner Zeit zu verirren«, schrieb er in Walden.
Erst bis wir uns ganz verirrt oder umgedreht haben – denn der Mensch braucht nur einmal in dieser Welt mit geschlossenen Augen herumgedreht zu werden, um verirrt zu sein –, lernen wir die Weite und Fremdartigkeit der Natur schätzen. Nicht eher, als bis wir verloren sind – mit anderen Worten: bis wir die Welt verloren haben –, fangen wir an, uns selbst zu finden und gewahr zu werden, wo wir sind und wie endlos ausgedehnt unsere Verbindungen sind.
Thoreau spielt hier mit der biblischen Frage, was es dem Menschen hülfe, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. Verliere die ganze Welt, erklärt er, verliere dich in ihr und finde deine Seele.
»Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist?« Jahrelang trug ich Menons Frage mit mir herum, und dann, als so ziemlich alles schiefging, brachten mir Freunde und Freundinnen lauter Geschichten, eine nach der anderen, die, wenn schon keine Antworten, so doch zumindest Meilensteine und Wegweiser zu sein schienen. May schickte mir aus heiterem Himmel ein langes Zitat von Virginia Woolf, das sie in runden schwarzen Buchstaben auf dickes unliniertes Papier geschrieben hatte. Es handelte von einer Mutter und Ehefrau, allein, am Ende eines Tages:
Denn jetzt brauchte sie über niemanden nachzudenken. Sie konnte sie selbst sein, allein sein. Und das war es, wonach sie jetzt oft das Bedürfnis verspürte – nachzudenken; nein, nicht einmal nachzudenken. Still zu sein; allein zu sein. All das Sein und Tun, das raumgreifende, glitzernde, vernehmliche, verdunstete; und man schrumpfte, mit einem gewissen Gefühl der Feierlichkeit, darauf zusammen, man selbst zu sein, ein keilförmiges Kerngehäuse im Dunkeln, etwas für andere Unsichtbares. Obwohl sie zu stricken fortfuhr und aufrecht saß, empfand sie sich gerade so; und dies Ich, das seine Bindungen abgeworfen hatte, war frei für die seltsamsten Abenteuer. Wenn das Leben für einen Augenblick Ruhe gab, schien die Reichweite der Erfahrung grenzenlos … Darunter ist es ganz dunkel, weitet sich alles, ist es unauslotbar tief; doch ab und zu steigen wir an die Oberfläche, und das ist es, wodurch man uns sieht. Ihr Horizont erschien ihr grenzenlos.
Diese Passage aus Zum Leuchtturm erinnerte mich an eine andere Arbeit von Virginia Woolf, die ich bereits kannte, nämlich ihren Essay über das Spazierengehen, in dem sie erklärte:
Wenn wir an einem schönen frühen Abend zwischen vier und sechs aus dem Haus treten, werfen wir das Ich ab, an dem uns unsere Freunde erkennen, und werden Teil jener großen republikanischen Armee anonymer Wanderer, deren Gesellschaft so angenehm ist nach der Einsamkeit des eigenen Zimmers … In jedes dieser Leben konnte man ein kleines Stück eindringen, weit genug, um sich der Illusion hinzugeben, dass man nicht an einen einzigen Geist gebunden ist, sondern kurz, für einige Minuten, Körper und Geist anderer anlegen kann.
Für Woolf war das Sich-Verlieren nicht so sehr eine Frage der Geografie als der Identität, ein leidenschaftlicher Wunsch, ja sogar eine dringende Notwendigkeit, niemand und jeder zu werden, die Ketten abzuwerfen, die einen daran erinnern, wer man ist, wer man anderen zufolge ist. Denjenigen, die in fremde Gegenden und entlegene Refugien reisen, ist diese Auflösung der Identität vertraut, doch Woolf, mit ihrer feinen Wahrnehmung der Schattierungen des Bewusstseins, konnte sie auf einem Spaziergang die Straße hinunter finden, in einem kurzen Augenblick der Einsamkeit in einem Lehnstuhl. Woolf war keine Romantikerin, feierte nicht die Art des Sich-Verlierens, die die erotische Liebe vorstellt, wo die geliebte Person als Einladung gesehen wird, das zu werden, was man insgeheim, latent bereits ist – wie eine Zikade, die unter der Erde darauf wartet, bis sie in siebzehn Jahren gerufen wird –, diese Liebe für den anderen, die auch den Wunsch darstellt, im Mysterium anderer im eigenen Mysterium zu leben. Ihre Art des Sich-Verlierens war, genau wie die von Thoreau, einsam.
Malcolm erwähnte, vollkommen unvermittelt, die im Norden Zentralkaliforniens lebenden Wintu, die zur Beschreibung ihres Körpers nicht die Wörter »links« und »rechts« heranziehen, sondern die Himmelsrichtungen. Ich war völlig hingerissen von dieser Schilderung einer Sprache und der ihr zugrunde liegenden kulturellen Vorstellungswelt, in der das Ich nur in Bezug auf den Rest der Welt existiert, es kein Du ohne Berge gibt, ohne Sonne, ohne Himmel. Wie Dorothy Lee schreibt:
Wenn ein Wintu flussaufwärts geht, sind die Berge im Westen, der Fluss ist im Osten, und eine Mücke sticht ihn in den westlichen Arm. Wenn er zurückkehrt, sind die Berge immer noch im Westen, aber wenn er sich an dem Mückenstich kratzt, dann kratzt er sich den östlichen Arm.
In dieser Sprache ist das Selbst nie so verloren, wie viele Menschen heutzutage verloren sind, wenn sie sich in der Wildnis verirren, ohne die Himmelsrichtungen zu kennen, ohne ihre Beziehung nicht nur zu ihrer Wegroute, sondern auch zum Horizont und dem Licht und den Sternen im Auge zu behalten, doch jemand, der diese Sprache spricht, wäre verloren ohne eine Welt, mit der er in Verbindung treten kann, wäre verloren in den modernen Schattenwelten von U-Bahnen und Kaufhäusern. In der Sprache der Wintu ist die Welt stabil und man selbst ist bedingt, ist, losgelöst von seiner Umgebung, nichts.
Ich habe nie von einem ausgeprägteren Orts- und Richtungssinn gehört, doch ist dieses Richtungsbewusstsein in eine fast verlorene Sprache eingebettet. Vor zehn Jahren lebten noch sechs bis zehn Muttersprachler des Wintu, sechs bis zehn Menschen, die eine Sprache fließend sprachen, in der das Ich nicht das autonome Gebilde war, für das wir es halten, wenn wir unser »Rechts« und »Links« mit uns herumtragen. Die letzte Muttersprachlerin des nördlichen Wintu, Flora Jones, starb 2003, doch Matt Root, der Mann, der mir diese Information per Mail zukommen ließ, erwähnte auch, dass drei Wintu und ein Pit-River-Nachbar »noch Teile der alten Wintu-Umgangssprache und ihres Aussprachesystems kennen«. Er selbst habe die Sprache studiert und hoffe, sie werde wieder aufleben, sodass sein Volk beginnen könne,
durch unsere Sprache Verbindungen zu unserer Vergangenheit herzustellen. Die Weltsicht der Wintu ist in der Tat einzigartig; unsere enge Vertrautheit mit unserer Umwelt rundet diese Einzigartigkeit ab, und die zukünftige Neuansiedlung von Menschen in unseren traditionellen Gebieten sowie die Wiedereinführung unserer Kultur und Geschichte werden dazu führen, dass die alten Narben langsam wieder verheilen können, die Narben der Umsiedlung und des offenen Genozids. Die Wegbereiter unseres heutigen Sprachverlusts.
Oder, wie es in einem 2004 veröffentlichten Artikel über die einhundert rasch aussterbenden Indianersprachen Kaliforniens heißt:
Solch eine Sprachendifferenzierung kann durchaus mit einer ökologischen Differenzierung verknüpft sein. Nach dieser Sichtweise haben die Menschen ihre Wörter den ökologischen Nischen, die sie bewohnten, angepasst – und Kaliforniens äußerst vielfältige Ökologie förderte seine linguistische Vielfalt. Diese Theorie wird unterstützt durch Landkarten, die zeigen, dass es in Gebieten mit einem größeren Artenreichtum auch mehr Sprachen gibt.
Es wäre eine schöne Vorstellung, dass die Wintu einst in einer so perfekten Welt lebten, dass sie alle Grenzen kannten und nie die Erfahrung machten, sich verirrt zu haben oder verloren zu sein, doch das Leben ihrer nördlichen Nachbarn, der Achumawi- oder Pit-River-Indianer, legt nahe, dass das wahrscheinlich nicht der Fall war. Als ich einmal Freunde bei einer Aufführung in einem Stadtpark treffen wollte und sie in der Menschenmenge nicht finden konnte, ging ich in ein Antiquariat und entdeckte ein altes Buch. Darin schreibt Jaime de Angulo, der wilde spanische Erzähler und Anthropologe, der vor achtzig Jahren eine beträchtliche Zeit bei diesem Volk verbrachte:
Ich möchte jetzt von einem seltsamen Phänomen berichten, das unter den Pit-River-Indianern auftritt. Die Indianer nennen es auf Englisch »wandering«. Sie sagen über einen bestimmten Menschen: »Er wandert gerade« oder »Er hat angefangen zu wandern«. Für manch einen scheint es bei bestimmten seelischen Belastungen einfach zu schwer zu sein, das Leben in der gewohnten Umgebung auszuhalten. Solch ein Mensch beginnt zu wandern. Ziellos streift er durchs Land. Hier und dort verweilt er kurz in den Lagern von Freunden oder Verwandten, doch dann zieht er weiter, bleibt nirgendwo länger als ein paar Tage. Nie drückt er seinen Schmerz, seinen Kummer oder seine Sorge äußerlich aus … Der Wanderer, ob Mann oder Frau, meidet Lager und Dörfer, bleibt lieber in wilden, einsamen Gegenden, auf den Gipfeln der Berge, am Grund der Canyons.
Dieser Wanderer ist gar nicht so weit entfernt von Woolf – auch sie kannte die Verzweiflung und den Wunsch nach dem, was die Buddhisten »Erlöschen« nennen, ein Wunsch, der sie schließlich, die Manteltaschen voller Steine, in einen Fluss trieb. Hier geht es nicht darum, dass man sich verirrt hat, sondern darum, dass man sich verlieren will.
De Angulo schreibt weiter, dass das Wandern zum Tod, zur Hoffnungslosigkeit, zum Wahnsinn, zu verschiedenen Formen der Verzweiflung führen kann, aber auch zu Begegnungen mit anderen Mächten in den entlegeneren Gegenden, in die ein Wanderer ziehen kann. Er endet mit den Worten:
Wenn man selbst schon ziemlich wild geworden ist, dann kommen vielleicht einige der wilden Wesen und schauen sich einen an, und eins von ihnen wendet einem vielleicht seine Aufmerksamkeit zu, nicht, weil man leidet und friert, sondern einfach, weil es zufällig mag, wie man aussieht. Wenn dies geschieht, ist das Wandern vorbei, und der Indianer wird Schamane.
Man verliert sich, weil man den Wunsch hat, sich zu verlieren. Doch dort, wo man sich verliert, findet man seltsame Dinge, merkt de Angulos Herausgeber an: »Die Alten sagen, alle Weißen sind Wanderer.«
Während jener langen Zeit, als die Geschichten nur so auf mich einprasselten, gab ich eine Lesung in einer Bar in einer Straße, die früher einmal am Wasser entlang verlief, bevor das Ufer aufgefüllt wurde, um an der Nordküste der Halbinsel, auf der San Francisco liegt, noch ein paar Häuserblöcke herauszuquetschen. Ich las ein kurzes Stück, das mit einem Wolkenbruch endete, und ein zweites über die See, und dann ging ich mir einen Drink holen. Carol, die Frau des Mannes, der mich zu der Lesung eingeladen hatte, winkte mich zu dem Barhocker neben sich herüber und erzählte mir schließlich von dem Tätowierkünstler, der über viele Jahre ihr Nachbar gewesen war. Er war jahrzehntelang ein Junkie gewesen, und irgendwann hatte sich dann an seiner Hand, dort, wo er sich einen Schuss gesetzt hatte, Schorf entzündet. Er landete mit einer fast tödlichen systemischen Infektion im Krankenhaus, und es musste ihm der Arm, der rechte Arm, der Arm, mit dem er arbeitete, amputiert werden. Doch am Ende jener langen Zeit, als er bis an den Rand des Todes gegangen und wieder zurückgekehrt war, meinte der Arzt zu seiner Verwunderung, er sei von seiner Abhängigkeit geheilt. Er wurde zwar ohne sein Handwerk, aber »clean« aus dem Krankenhaus entlassen und musste bei null anfangen, ein ebenso abruptes und überwältigendes In-die-Welt-geworfen-Werden wie die Geburt. Auf den Arm war ein Drache tätowiert gewesen, der jetzt bis auf den Kopf völlig verschwunden war.
Meine Freundin Suzie erzählte mir, während ich sie von jener Bar nach Hause fuhr, von der wahren Bedeutung der Figur der Justitia, die mit verbundenen Augen eine Waage in der Hand hält. Suzie malte ihre eigenen Tarotkarten und durchdachte dabei jede Karte neu. Justitia stand, laut einem Buch über die antike Mythologie, vor den Toren des Hades und entschied, wer hineindurfte; in den Hades einzugehen bedeutete, auserwählt zu sein für eine Verfeinerung durch Leiden, Abenteuer und Verwandlung, ein Weg der Bestrafung, dessen Belohnung das verwandelte Selbst ist. Das warf ein anderes Licht auf den Gang in die Hölle. Und es legte nahe, dass die Gerechtigkeit viel komplizierter und unberechenbarer ist, als wir es uns oft vorstellen, dass das Ende weiter weg als erwartet und viel schwerer abzuschätzen ist, wenn am Ende alles ausgeglichen sein soll. Außerdem legt es nahe, dass ein behagliches Leben zu führen bedeuten kann, auf der Strecke geblieben zu sein. Geh in die Hölle, doch wenn du dort bist, geh weiter und komm am anderen Ende wieder heraus! Schließlich malte Suzie eine Gruppe am Lagerfeuer, ihr Bild der Gerechtigkeit, und meinte, für sie sei Gerechtigkeit, wenn man sich auf dem Weg gegenseitig hilft. An einem anderen Abend erzählte mir ihr Partner David von einem seiner Bekannten, einem Biologen auf Hawaii, der neue Arten entdeckt, indem er sich absichtlich im Regenwald verirrt. Das dichte Blattwerk und der bedeckte Himmel machen einem diese Aufgabe dort leichter als auf dem Hochplateau der Wintu.
David fotografierte schon seit Jahren im Regenwald von Hawaii und anderswo gefährdete Arten, und seine Bildersammlung und Suzies Tarotkarten schienen irgendwie zusammenzupassen. Da viele Arten verschwinden, wenn ihr Lebensraum verschwindet, fotografierte er sie vor dem Nichts eines schwarzen Hintergrunds (was manchmal bedeutete, dass er an den unmöglichsten Orten und im unerbittlichsten Klima ein schwarzes Samttuch aufhängen musste), wodurch jedes Tier, jede Pflanze, allein vor dem Dunkel, wie für eine Porträtaufnahme arrangiert schien. Und die Bilder sahen auch aus wie Karten, Karten aus dem Kartenspiel der Welt, wo jedes Tier eine Geschichte beschreibt, eine Art des Daseins in der Welt, ein Bündel von Möglichkeiten, ein Spiel, aus dem ständig Karten weggeworfen werden, eine nach der anderen. Pflanzen und Tiere sind auch eine Sprache, selbst in unserem reduzierten, domestizierten Englisch, wo Kinder wie Unkraut wachsen oder auf Rosen gebettet sind, wo der Markt aus Bullen und Bären besteht und die Politik aus Falken und Tauben. Wie Karten, so kann auch die Flora und Fauna immer wieder gelesen werden, nicht nur für sich allein, sondern im Zusammenhang, in den sich endlos verändernden Zusammenhängen einer Natur, die ihre eigenen Geschichten erzählt und die unseren färbt, eine Natur, die wir zunehmend verlieren, ohne überhaupt das Ausmaß dieses Verlusts zu erkennen.
Tatsächlich hat der Begriff des »Verlierens« zwei verschiedene Bedeutungen. Dinge zu verlieren hat damit zu tun, dass Bekanntes wegfällt; sich zu verlieren hat damit zu tun, dass Unbekanntes auftaucht. Es gibt Dinge und Menschen, die verschwinden, und dann sieht, kennt oder besitzt man sie nicht mehr – man verliert ein Armband, einen Freund, einen Schlüssel. Aber man weiß immer noch, wo man selbst ist. Alles ist vertraut, nur dass da ein Gegenstand weniger ist, ein fehlendes Element. Verliert man dagegen sich, ist die Welt größer geworden als das Wissen, das man von ihr hat. So oder so entsteht ein Verlust an Kontrolle. Man stelle sich vor, man strömt durch die Zeit und legt Handschuhe, Schirme, Schraubenschlüssel, Bücher, Freunde und Freundinnen, Wohnungen, Namen ab. So sieht die Welt aus, wenn man sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in einen Zug setzt. Blickt man nach vorn, erfährt man ständig Momente der Ankunft, Momente der Erkenntnis, Momente der Entdeckung. Der Wind weht einem die Haare zurück, und man wird von Dingen begrüßt, die man noch nie gesehen hat. Das Materielle fällt angesichts der auf einen einstürmenden Eindrücke von einem ab. Es schält sich ab wie die Hüllen einer sich häutenden Schlange. Die Vergangenheit zu vergessen bedeutet natürlich, das Gefühl von Verlust zu verlieren, das auch eine Erinnerung an einen fehlenden Reichtum darstellt und eine Reihe von Anhaltspunkten liefert, mit deren Hilfe man sich in der Gegenwart orientieren kann; die Kunst besteht nicht darin, zu vergessen, sondern darin, loszulassen. Ist alles andere verschwunden, so kann man durchaus reich an Verlusten sein.
Schließlich machte ich mich auf die Suche nach Menon. Ich hatte gedacht, seine Frage sei Teil einer Sammlung von Aphorismen oder Fragmenten, wie beispielsweise den Fragmenten des Heraklit. Ich sah deutlich ein Buch vor mir, das gar nicht existiert. Sollte ich es je gewusst haben, so hatte ich wieder vergessen, dass Menon der Titel eines Dialogs von Platon ist. Sokrates tritt gegen den Sophisten Menon an und macht seinen Gegner, wie in allen manipulierten Boxkämpfen Platons, zunichte. Manchmal sehe ich beim Spazierengehen etwas, was aus einer gewissen Entfernung wie ein Edelstein oder eine Blume aussieht und sich ein paar Schritte später als ein Stück Abfall erweist. Doch bevor es deutlich zu erkennen ist, sieht es wunderschön aus. Genauso ist es auch mit Menons Frage, vielleicht allerdings nur in der blumigen Übersetzung, in der ich sie zuerst, aus dem Zusammenhang gerissen, gehört hatte. Sokrates antwortet auf jene Frage:
Ich begreife, was du sagen willst, Menon! Siehst du, daß es eine eristische Frage ist, die du vorbringst? Daß es nämlich einem Menschen nicht möglich sei, etwas zu erforschen, weder das, was er weiß, noch das, was er nicht weiß? Denn das, was er weiß, wird er wohl nicht erforschen wollen; er weiß es ja, und für so etwas braucht es kein Erforschen mehr. Aber auch das nicht, was er nicht weiß, denn da weiß er ja nicht, was er erforschen soll.
Das Entscheidende ist nicht, dass Elias eventuell eines Tages auftaucht. Das Entscheidende ist, dass die Türen jedes Jahr für die Dunkelheit offen gelassen werden. Die jüdische Tradition besagt, dass manche Fragen wichtiger sind als die Antworten, und das ist auch hier der Fall. Die Frage, so wie sie die Wasserfotografin gestellt hatte, war wie eine Glocke, deren Nachklänge noch lange in der Luft hängen und immer leiser werden, aber nie einfach aufzuhören scheinen. Sokrates oder Platon scheinen fest entschlossen, alles zu tun, damit sie aufhören. Hier stellt sich die Frage, die sich bei vielen Kunstwerken stellt: Hat das Kunstwerk die Bedeutung, die der Künstler oder die Künstlerin ihm geben wollte, mit anderen Worten, hat Menons Argument die Bedeutung, die er oder Platon ihm geben wollten? Oder geht sie darüber hinaus? Denn letzten Endes ist es keine Frage danach, ob man das Unbekannte kennen, ob man in ihm ankommen kann, sondern vielmehr die Frage danach, wie man es suchen, wie man den Weg dorthin zurücklegen soll.
Während des Großteils dieses Dialogs widerlegt Sokrates Menon und greift ihn mithilfe von Logik, Argumenten und sogar Mathematik an. Bei dieser Frage weicht er jedoch auf den Mystizismus aus, das heißt auf durch nichts zu untermauernde, poetische Behauptungen. Nach seiner ersten abweisenden Antwort fügt er hinzu:
Was sie aber sagen, ist Folgendes: – überlege dir, ob dir richtig scheint, was sie sagen – sie behaupten, die Seele des Menschen sei unsterblich; sie beendige zwar ihr Dasein, was man »sterben« nenne, erstehe aber immer wieder; zugrunde gehe sie nie. Deswegen müsse man sein Leben so fromm als möglich verbringen, denn von welchen Persephone die Sühne alten Leides / empfangen, deren Seelen gibt sie zur Sonne hinauf / im neunten Jahre zurück; / aus ihnen erstehen erhabene Kön’ge und Männer, / behende in Kraft und gewaltig an Weisheit; / in kommender Zeit aber nennen die Menschen sie heil’ge Heroen. Da die Seele also unsterblich ist und immer wieder ersteht, und da sie alles gesehen hat, was hier und was im Hades ist, so ist auch nichts, so gibt es auch nichts, was sie nicht kennt; es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sie sich … an das erinnern kann, was sie schon gewußt hat.
Sokrates sagt, man könne das Unbekannte kennen, weil man sich daran erinnert. Man kenne bereits das, was unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anderes. Das verlagert das Unbekannte lediglich vom unbekannten Anderen zum unbekannten Ich. Menon sagt: »Ein Geheimnis.« Sokrates sagt: »Im Gegenteil, ein Geheimnis.« So viel steht fest. Es kann eine Art Kompass sein.
Was folgt, sind einige meiner eigenen Landkarten.