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Das Blau der Ferne
ОглавлениеDie Welt ist an den Rändern und in den Tiefen blau. Dieses Blau ist das Licht, das verloren gegangen ist. Das Licht am blauen Ende des Spektrums pflanzt sich nicht über die ganze Distanz von der Sonne bis zu uns fort. Zwischen den Luftmolekülen verteilt es sich, im Wasser wird es gestreut. Wasser ist farblos: Flaches Wasser scheint die Farbe dessen zu haben, was sich darunter befindet, doch tiefes Wasser ist voll von diesem gestreuten Licht – je sauberer das Wasser, desto tiefer das Blau. Aus genau dem gleichen Grund ist der Himmel blau, doch das Blau am Horizont, das Blau der Erde, das sich im Himmel aufzulösen scheint, ist ein tieferes, träumerischeres, melancholischeres Blau, das Blau in den entlegensten Gegenden, dort, wo man kilometerweit sehen kann, das Blau der Ferne. Dieses Licht, das uns nicht berührt, das sich nicht über die ganze Distanz fortpflanzt, das Licht, das verloren geht, schenkt uns die Schönheit der Welt, die zu einem großen Teil die Farbe Blau hat.
Seit vielen Jahren schon bewegt mich das Blau am äußersten Rand des Sichtbaren, diese Farbe der Horizonte, der fernen Bergketten, all dessen, was weit weg ist. Die Farbe jener Ferne ist die Farbe einer Emotion, die Farbe der Einsamkeit und des Begehrens, die Farbe von dort, gesehen von hier, die Farbe von dort, wo man nicht ist. Und die Farbe von dort, wo man nie hingehen kann. Denn das Blau befindet sich nicht an jenem kilometerweit entfernten Ort am Horizont, sondern in der atmosphärischen Entfernung zwischen einem selbst und den Bergen. »Verlangen«, sagt der Dichter Robert Hass, »weil sich Begierde aus unendlichen Distanzen addiert.« Blau ist die Farbe des Verlangens nach den fernen Orten, an denen man nie ankommt, nach der blauen Welt. Als ich an einem milden, feuchten Frühlingsmorgen einer Straße folgte, die sich über den gleich nördlich der Golden Gate Bridge gelegenen 750 Meter hohen Mount Tamalpais schlängelt, bot sich mir hinter einer Kurve plötzlich ein Bild von San Francisco in den verschiedensten Blauschattierungen, eine Stadt in einem Traum, und ich war von der enormen Sehnsucht erfüllt, in dieser Stadt der blauen Hügel und blauen Häuser zu leben, obwohl ich doch dort wohne. Ich war nach dem Frühstück losgefahren – weder der braune Kaffee noch die gelben Eier oder die grünen Ampellichter hatten mich mit einem derartigen Verlangen erfüllt, und außerdem freute ich mich bereits darauf, an der Westseite des Berges wandern zu gehen.
Wir betrachten unser Begehren nach etwas als ein Problem, das es zu lösen gilt, analysieren, worauf das Begehren gerichtet ist, und konzentrieren uns dann auf diesen Gegenstand und darauf, wie wir ihn uns beschaffen können, statt auf die Natur und das Gefühl des Begehrens, obwohl es oft die Distanz zwischen uns und dem Objekt unseres Begehrens ist, die den Zwischenraum mit dem Blau der Sehnsucht füllt. Manchmal frage ich mich, ob man es mithilfe eines kleinen Perspektivenwechsels nicht als ein eigenständiges Gefühl schätzen lernen könnte, da das Begehren genauso zum menschlichen Dasein gehört wie das Blau zur Distanz. Ob man in diese Ferne hineinblicken kann, ohne sie gleich aufheben zu wollen, ob man seine Sehnsucht genauso annehmen kann wie die Schönheit jenes Blaus, das man nie besitzen kann. Denn ein Teil dieser Sehnsucht wird, so wie das Blau der Ferne, durch Beschaffungen oder Ankünfte nur verlagert, nicht gestillt, so wie die Berge aufhören, blau zu sein, sobald man in ihnen ankommt, und das Blau stattdessen die nächste Ferne färbt. Irgendwo hier liegt der geheimnisvolle Grund dafür, dass Tragödien schöner sind als Komödien und dass uns die Traurigkeit bestimmter Lieder und Geschichten einen so großen Genuss bereitet. Irgendetwas ist immer weit weg.
Die Mystikerin Simone Weil schrieb an einen Freund auf einem anderen Kontinent: »Lieben wir diese ganz aus Freundschaft zusammengesponnene Ferne, die, die sich nicht lieben, werden nicht getrennt.« Für Weil ist die Liebe die Atmosphäre, die die Distanz zwischen ihr und ihrem Freund füllt und färbt. Selbst wenn dieser Freund dann auf der Türschwelle steht, bleibt etwas an ihm unsagbar fern: Tritt man vor, um ihn zu umarmen, so schlingen sich die Arme um ein Mysterium, um das Unbekannte, das Nicht-Kennbare, um das, was sich nicht besitzen lässt. Die Ferne sickert selbst in das Allernächste. Schließlich kennen wir ja kaum unsere eigenen Tiefen.
Im 15. Jahrhundert begannen europäische Maler, das Blau der Ferne zu malen. Frühere Künstler hatten sich in ihren Werken für das, was weit entfernt war, nicht übermäßig interessiert. Manchmal waren die Heiligen und Patrone auf Goldgrund gemalt, manchmal wölbte sich der Raum, als sei die Erde tatsächlich eine Kugel, der Mensch allerdings in ihrem Inneren. Jetzt legten Maler mehr Wert auf Naturtreue, auf eine Darstellung der Welt so, wie sie sich dem menschlichen Auge präsentierte, und so packten sie zu jener Zeit, als die Kunst der Perspektive gerade erst entdeckt wurde, die Gelegenheit beim Schopf, das Blau der Ferne als ein zusätzliches Mittel einzusetzen, um ihren Werken Tiefe und Dimension zu verleihen. Oft scheint der blaue Streifen am Horizont übertrieben: Er erstreckt sich zu weit nach vorn, wechselt zu abrupt die Farbe, ist zu blau, als frohlockten sie so sehr über dieses Phänomen, dass sie zu viel des Guten taten. Unterhalb des Himmels, über dem vermeintlichen Sujet des Gemäldes, in den Bildräumen vor dem Horizont, malten sie eine kleine blaue Welt: blaue Schafe, einen blauen Schäfer, blaue Häuser, blaue Berge, eine blaue Straße und einen blauen Wagen.
Man sieht sie immer wieder, die blaue Weite, die in Solarios Gemälde von 1503 auf der gleichen Höhe wie der gekreuzigte Christus beginnt; die in einem Gemälde aus Raphaels Werkstatt über die Ruinen hinausgeht, vor denen eine wunderschöne Jungfrau Maria ihren auf einem Tuch von hellerem Blau schlafenden Sohn bewundert; in Niccolò dell’Abbates Gemälde von 1571, auf dem eine blaue Stadt und blauer Himmel zu sehen sind, hinter einer klassischen Gruppierung von, wie es aussieht, Grazien, die, inkongruent wirkend und wie nebenbei, Moses aus dem Schilf eines prächtigen Flusses ziehen, dessen Farbe aus dem Hintergrund zu kommen scheint, wie ein Färbemittel, das sich immer weiter ausbreitet. Man findet sie sowohl in der italienischen als auch in der nordischen Malerei. In Hans Memlings Auferstehungs-Triptychon von circa 1490 fahren die Zehen und der Gewandsaum einer schwebenden Figur aus dem Bildrahmen hinaus, gewagt beschnitten wie eine Figur auf einer Fotografie, obwohl es ja von Wundern keine Fotografien gibt. Darunter blickt eine Gruppe braunhaariger Männer, die Hände im Gebet und voller Verwunderung erhoben, aufwärts. Direkt über ihren Köpfen sieht man das nahe Ufer eines Sees. Der See ist blau, und dahinter liegen blaue Berge, als gäbe es drei Reiche: den Himmel, in dessen Sonnenuntergangsfarben die schwebende Figur hineinreicht, die vielfarbige Erde unten und das ferne blaue Reich, das weder zum einen noch zum anderen gehört, das nicht Teil dieser christlichen Dualität ist. In Joachim Patinirs berühmtem, rund dreißig Jahre zuvor gemaltem Bild vom Hl. Hieronymus in der Wüste ist diese Wirkung sogar noch ausgeprägter. Hieronymus kauert, unter einem zerfetztem Pultdach, in einer Art Unterstand vor einer tiefgrauen Felsformation, und die Welt dahinter ist zum Großteil blau – ein blauer Fluss, blaue Felsen, blaue Berge –, als sei er nicht vor der Zivilisation ins Exil geflohen, sondern vor jener besonderen Himmelstönung. Allerdings ist Hieronymus, genau wie eine der Figuren in Memlings Gemälde, in ein mattes Blau gekleidet, so wie viele Marien wirken, als wären sie in die Ferne gekleidet, als hätte sich ein Teil dieser mehrdeutigen Ferne nach vorne verschoben.
In seinem Bildnis der Ginevra de’ Benci von 1474 malte Leonardo da Vinci im Hintergrund lediglich einen schmalen Streifen blauer Bäume und blauen Horizonts, hinter den bräunlichen Bäumen, die die strenge, blasse Frau einrahmen, deren Oberteil mit Bändern desselben Blautons zusammengeschnürt ist, doch er hatte ja eine Vorliebe für stimmungsvolle Wirkungen. Er schrieb, wolle man Gebäude so malen, dass
eines weiter entfernt ist als das andere, dann mußt du das mit einer etwas dichteren Luft darstellen … Also wirst du das erste Gebäude … in seiner natürlichen Farbe malen, das weiter entferntere weniger scharf umrissen und blauer, und dasjenige, das noch einmal so weit entfernt sein soll, male noch einmal so blau; dasjenige, das fünfmal so weit entfernt sein soll, male fünfmal so blau …
Die Maler schienen ganz hingerissen von dem Blau der Ferne; sieht man sich diese Gemälde an, kann man sich eine Welt vorstellen, in der man durch eine weite Fläche mit grünem Gras, braunen Baumstämmen und weiß getünchten Häusern gehen könnte, und irgendwann käme man dann im blauen Land an: Gras, Bäume und Häuser würden blau, und blickte man an sich herunter, wäre man eventuell auch blau, so wie der hinduistische Gott Krishna.
In den Cyanotypien, den blauen Fotografien, des 19. Jahrhunderts, wurde diese Welt dann Wirklichkeit – »cyan« bedeutet »blau«, obwohl ich immer gedacht hatte, dieser Begriff beziehe sich auf das Cyanid, mit dessen Hilfe die Abzüge hergestellt wurden. Cyanotypien waren billig und leicht herzustellen, weshalb manche Amateure ausschließlich mit der Cyanotypie arbeiteten und manche professionellen Fotografen das Medium benutzten, um Probeabzüge anzufertigen, die sie so behandelt hatten, dass die Bilder innerhalb weniger Wochen verblassen und verschwinden würden: Diese verschwindenden Bilder waren als Muster gedacht, von denen man dauerhafte Abzüge in anderen Farbtönen bestellen konnte. In den Cyanotypien betritt man eine Welt, wo Dunkel und Hell blau und weiß sind, wo Brücken und Menschen und Äpfel so blau wie Seen sind, als wäre alles, was man sieht, geprägt durch die melancholische Stimmung, die das Cyanid hier hervorruft. Auf Postkarten überlebte diese Farbe bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Ich besitze einige Karten von blauen Palästen und blauen Gletschern, blauen Denkmälern und blauen Bahnhöfen.
Es gibt ein Fotoalbum mit ovalen Bildern, aufgenommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem Mann namens Henry Bosse. Es sind alles Bilder vom oberen Mississippi, und es sind alles blaue Cyanotypien. Zunächst scheinen sie ein Zauberreich darzustellen, den Fluss, wie er einmal war, doch Bosse arbeitete mit den Ingenieuren zusammen, die den Strom regulierten und begradigten, die aus einem wilden, mäandernden Ungetüm mit Inseln und Strudeln und sumpfigen Ufern ein schmaleres und schneller fließendes Gewässer machten, einen ausgebaggerten, eingedämmten Strom für einen zügigen Handelsverkehr. Sie bauten Flügeldeiche, die in den Fluss hineinragten, die Sedimente festhielten und die natürlichen Flussränder auslöschten, baggerten ihn aus und versiegelten ihn, doch Bosses Bilder sind schöner, als es reine Dokumente und Bauunterlagen sein müssen – jedes einzelne eine Kamee in Blau, blau bis hin zum Vordergrund, den blauen Rangierbahnhöfen und den sich im Bau befindlichen blauen Brücken. Doch in der Welt, in der wir tatsächlich leben, ist die Ferne, sobald wir in ihr ankommen, nicht mehr fern, nicht mehr blau. Aus der Ferne wird Nähe, allein es sind nicht dieselben Orte.
Während eines trockenen Jahres sank der Wasserspiegel im Great Salt Lake einmal so stark ab, dass ein Großteil des Sees zu Land wurde, und ich ging hinaus in Richtung Antelope Island, das über seinem Spiegelbild schwebte, ein solides, symmetrisches Objekt wie ein Edelstein, im fernen Blau vor mir schwebend. Was bis vor Kurzem noch See gewesen war, war jetzt ein kilometerweit reichendes Puzzle aus Wasserlachen und feuchtem und trockenem Sand, aus seichten Lagunen mit klarem Wasser und langen Sandfingern, die auf die Insel und ihr Spiegelbild in dem in der Ferne gelegenen tieferen blauen Wasser zuliefen. Manchmal endeten die Sandbänke im Wasser und ich musste mir einen anderen Weg suchen, doch konnte ich stundenlang und kilometerweit mehr oder weniger direkt auf die Insel zugehen. Der Boden, über den ich ging, war zuweilen gerippter Sand, zuweilen glatt, manchmal brach er unter mir ein, als lägen Luftlöcher darunter, manchmal quatschte er unter meinen Füßen, sodass meine Fußabdrücke dort, wo mein Gewicht das Wasser verdrängt hatte, von hellerem Sand umgeben waren. Da sich hinter mir ein langes Band von Fußstapfen entrollte, konnte ich mich nicht wirklich verlaufen, doch ich verlor die Zeit aus den Augen, verlor mich auf jene andere Art, die nichts damit zu tun hat, dass man sich verirrt, sondern damit, dass man dort eintaucht, wo alles andere wegfällt.
Hier und da lagen kleine Zweige mit braunen Eichenblättern auf dem Boden, obwohl es in Sichtweite keinerlei Bäume gab und das Ufer weit entfernt war; da und dort durchnässte, zusammengeschrumpfte Klumpen aus Federn und Knochen, die einmal Vögel gewesen waren. Wie die Blätter dort hingekommen waren, wie die Vögel gestorben waren, war nicht zu ergründen – diese Tiefen ließen sich nicht ausloten. Hinter mir sah ich, hoch oben in die Felsen und Berge jenseits des Great Salt Lake eingegraben, die Wasserlinie des Lake Bonneville, der so viel größer, so viel tiefer gewesen war, damals, vor langer Zeit, in einer feuchteren Erdepoche, als in Arizona Redwood-Bäume wuchsen und das Death Valley ebenfalls ein See war. Zehntausend Jahre oder mehr ist es her, seit es diesen See nicht mehr gibt, doch sein Ring um die ganze Landschaft herum machte mir klar, dass der Boden, über den ich lief, einmal tief unter Wasser gelegen hatte, genau wie das Strandgut und der weiche Sand mich daran erinnerten, dass ich dort vor nicht allzu langer Zeit hätte rudern oder schwimmen können. Dies war neues Land, temporäres Land, das im Winter wieder unter Wasser liegen würde, und es könnten Jahre vergehen, bis man dort wieder entlanglaufen konnte, oder auch Jahrhunderte. Je weiter ich ging, desto größer und klarer wurde Antelope Island, golden im harten Licht, blieb jedoch stets weit vor mir, wie ein Traum oder eine Hoffnung. Das übrig gebliebene Wasser war hellblau, und an jenem sengend heißen Oktobernachmittag traf es in weiter Ferne mit einem blassen Himmel zusammen, sodass der Unterschied zwischen Wasser und Luft nur schwer zu erkennen war.
Während ich gedankenverloren weiterlief, herausgelöst aus der Verankerung in der Zeit, musste ich an den Vortrag denken, den ich in Salt Lake City gehalten hatte. Bei meinem Versuch, die Tiefe der derzeitigen Veränderungen zu beschreiben, die zur Kenntnis zu nehmen wir versäumen, hatte ich eine Geschichte von einem anderen See erzählt, vom Titicacasee. Als ich zwei war, lebten wir ein Jahr lang in Lima, und einmal machten wir alle, Mutter, Vater, die Brüder und ich, einen Ausflug in die Anden und fuhren dann über den Titicacasee von Peru nach Bolivien. Der Titicacasee – wie der Lake Tahoe, der Lago di Como, der Bodensee und der Lago de Atitlán einer jener hoch gelegenen Seen, die wie blaue Augen zum blauen Himmel zurückstarren.
Vor ein paar Jahren holte meine Mutter eines Tages aus ihrer Zederntruhe die türkise Bluse, die sie mir auf jenem Ausflug nach Bolivien gekauft hatte, Indianerkleidung im Miniaturformat, die ich damals zu besonderen Anlässen getragen hatte. Als sie die kleine Bluse auseinanderfaltete und mir überreichte, kollidierte die lebendige Erinnerung daran, sie einmal getragen zu haben, auf schockierende Weise mit der Tatsache, dass sie so winzig war, dass die Ärmel nicht einmal 30 Zentimeter lang waren, dass darin nur ein klitzekleiner Grillenkäfig von einem Brustkorb, der nicht mehr der meine war, Platz hatte; der Schock rührte daher, dass ich mich zwar noch lebhaft daran erinnern konnte, wie es sich in dieser Brokatbluse angefühlt hatte, nicht aber daran, dass ich darin so winzig klein gewesen war, so vollkommen anders als die Erwachsene, die diese Erinnerung hatte. Die Kontinuität der Erinnerung konnte nicht die Kluft ermessen, die zwischen dem Körper eines kleinen Kindes und dem einer Frau besteht.
Als ich die Bluse wiederbekam, verlor ich die Erinnerung, denn beides gleichzeitig war nicht miteinander zu vereinbaren. Sie verschwand im Nu, ich konnte dabei zusehen. Ab und zu hört man von Wandgemälden und wie durch ein Wunder erhaltenen Leichen, die Hunderte oder auch Tausende von Jahren vergraben, luftdicht abgeschlossen und vor dem Licht geschützt waren. Wenn sie das erste Mal der frischen Luft und dem Licht ausgesetzt werden, beginnen sie zu verblassen, zu zerbröckeln, zu verschwinden. Manchmal sind Gewinn und Verlust enger miteinander verknüpft, als wir uns eingestehen wollen. Und manche Dinge lassen sich nicht bewegen oder besitzen. Manches Licht schafft nicht den ganzen Weg durch die Atmosphäre, sondern wird gestreut.
Ich legte die Bluse in meine eigene Kleiderkiste, und als ich wieder an sie denken musste, holte ich sie hervor und merkte, dass meine Erinnerung sie in etwas verwandelt hatte, was mir vertrauter war, nämlich in die Samtblusen, die Navajofrauen und -mädchen tragen. Die bolivianische Bluse war mit Perlen bestickt und hatte einen mit einer hellblauen Paspel besetzten Zickzackausschnitt sowie zwei blaue Schleifen, deren Bänder vor langer Zeit flachgedrückt worden waren, doch das Material war gestreifter Brokat. Es war türkis, das Blau von Swimmingpools und Halbedelsteinen, heller als der Himmel.
Als ich mit dem Schreiben begann, war ich fast mein ganzes Leben lang ein Kind gewesen, und meine Kindheitserinnerungen waren stark und lebendig, waren die Kräfte, die mich damals prägten. Die meisten sind im Laufe der Zeit schwächer geworden, und jedes Mal, wenn ich eine Erinnerung aufschreibe, gebe ich sie preis: Sie hört auf, das Schattenleben einer Erinnerung zu führen, und wird in Buchstaben fixiert, sie hört auf, mir zu gehören. Sie verliert die Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit all dessen, was lebt – genau wie die Bluse aufhörte etwas zu sein, in dem ich meiner Erinnerung nach einmal selbst gesteckt hatte, und stattdessen ein Kleidungsstück wurde, das, als man es mir gab, von jenem nicht wiederzuerkennenden kleinen Kind auf dem Schnappschuss getragen worden war. Eine Frau in ihren Zwanzigern ist fast ihr ganzes Leben lang ein Kind gewesen, doch im Laufe der Zeit wird der Teil, der ihre Kindheit ausgemacht hat, kleiner und kleiner, rückt ferner und ferner, wird blasser und blasser, obwohl es heißt, dass am Ende des Lebens der Anfang wieder lebendig wird, als sei man um die ganze Welt gesegelt und wieder in die Dunkelheit zurückgekehrt, aus der man gekommen war. Für ältere Menschen wird oft das Nahe und kurz Zurückliegende recht vage und nur das zeitlich und räumlich Ferne ist lebendig.
Für Kinder ist die Distanz von geringem Interesse. Gary Paul Nabhan schreibt davon, wie er mit seinen Kindern zum Grand Canyon fuhr und ihm dort klar wurde,
wie viel Zeit Erwachsene damit verbringen, in der Landschaft nach malerischen Rundblicken und reizvollen Ausblicken zu suchen. Während die Kinder auf Händen und Knien herumkrochen und sich mit dem beschäftigten, was direkt vor ihnen war, bewegten wir Erwachsene uns mittels der Abstraktion.
Er fügt hinzu, dass sein Sohn und seine Tochter jedes Mal, wenn sie sich einem Felsvorsprung näherten, »unvermittelt meine Hand losließen, um auf der Erde Knochen, Kiefernzapfen, glitzernden Sandstein, Federn oder Wildblumen zu suchen«. In der Kindheit gibt es keine Distanz: Für ein Baby ist die Mutter im Nebenzimmer für immer verschwunden, für ein Kind dauert es bis zu seinem Geburtstag endlos lange. Was nicht da ist, ist unmöglich, unwiederbringlich, unerreichbar. Die mentale Landschaft von Kindern ähnelt der von mittelalterlichen Gemälden: ein Vordergrund voller lebendiger Dinge und dann eine Wand. Das Blau der Ferne entsteht mit der Zeit, mit der Entdeckung der Melancholie, des Verlusts, des Wesens der Sehnsucht, der Komplexität des Terrains, das wir durchmessen, und mit den Jahren des Reisens. Wenn Kummer und Schönheit zusammengehören, dann bringt die Reife vielleicht nicht das mit sich, was Nabhan »Abstraktion« nennt, sondern ein ästhetisches Bewusstsein, das die Verluste, die die Zeit bringt, teilweise wettmacht und uns Schönheit in der Ferne finden lässt.
Antelope Island kam näher und näher, wurde größer und klarer, aber schließlich kam ein Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Oder es wäre vielleicht doch gegangen, hätte allerdings bedeutet, in dem See schwimmen zu müssen, der selbst unter normalen Umständen sehr viel salziger als das Meer ist und in dem während jener Trockenperiode das Salz extrem konzentriert gewesen sein muss. Ich kann mir auch eine andere Variante jenes Ausflugs vorstellen, wo ich mich ausgezogen hätte und losgeschwommen wäre, mir den Rücken verbrannt und mich wie ein Korken auf und ab bewegt hätte, bis hin zur Insel, aber ich habe keine Ahnung, was ich dort nach meiner Ankunft getan hätte. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Insel überhaupt dazu bestimmt war, dass man dort ankam, denn aus der Nähe hätte sich ihr glühendes Gold in Buschwerk und Erde aufgelöst.
Als ich so weit gegangen war, wie ich konnte, blickte ich nach unten, und die bogenförmigen Ränder von Land und Wasser verloren ihren Maßstab und sahen aus wie die Welt aus dem Flugzeug. Flüge verbinden normalerweise Städte miteinander, doch dazwischen liegen die unbetretenen Gegenden, denen man nur ungefähre Namen geben kann: irgendwo in Neufundland, irgendwo in Nebraska oder den Dakotas. Von oben am Himmel, aus einer Höhe von mehreren Kilometern betrachtet, sieht das Land aus wie eine Landkarte von sich selbst, allerdings ohne all die Bezugspunkte, ohne die Karten keinen Sinn ergeben. Die Altwasserseen und Tafelberge, die man durchs Fenster sieht, sind anonym, unergründbar, eine Landkarte ohne Wörter. Ich habe festgestellt, dass der Wunsch, das Flugzeug würde auf einem von ihnen notlanden, unter denjenigen, die arbeitshalber von Stadt zu Stadt fliegen, weitverbreitet ist. Diese namenlosen Gegenden erwecken den Wunsch, verloren zu sein, weit weg zu sein, den Wunsch nach jenem melancholischen Wunder, das das Blau der Ferne darstellt. Und als ich an jenem Tag am Great Salt Lake auf meine Füße hinabblickte, da schienen selbst meine Füße weit weg zu sein, in diesem maßstablosen Terrain, wo sich das Nahe und das Ferne ineinander verschränkten, wo Pfützen Meere waren und Sandrippen Bergketten.
Ich ging zurück, die Insel hinter mir und vor mir der ruinenhafte Salt Palace, wo mein Wagen auf mich wartete, zurück in die Welt des alltäglichen Durcheinanders. Doch in der Nähe meines Ausgangspunkts wartete in jener Landschaft noch eine Überraschung auf mich: eine Reihe von kleinen Einbuchtungen, wo das Wasser verdunstet war und sich Salzkristalle gebildet hatten. Eine war ein Rosenteppich, eine ein Strohhaufen, eine ein Schneeflockenfeld, alle aus schlammigem Salz, doch als ich versuchte, einen kleinen Strauß der hellbraunen Rosen abzuschneiden, um ihn mit nach Hause zu nehmen, büßten sie sofort an Schönheit ein. Manche Dinge besitzen wir nur so lange, wie sie verloren bleiben, manche Dinge sind nur so lange nicht verloren, wie sie in der Ferne sind.