Читать книгу Am Ende bleiben nur die Träume - Regan Holdridge - Страница 3

Prolog

Оглавление

Der Junge saß auf einem der harten Holzstühle in dem langen, schmalen Flur. Wie lange er schon dort saß, das konnte er nicht genau sagen, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze. Nichts geschah um ihn herum, außer, dass ab und zu jemand an ihm vorbeilief, ihn neugierig anschaute und sich dann wieder auf den dunkelblauen Teppichboden des Flurs konzentrierte. Zu einer der Türen, die genau dieselbe Farbe besaßen, wanderten die braunen Augen des Jungen immer wieder hinüber. Irgendwann, vor einiger Zeit, die er nicht benennen konnte, war darin sein großer Bruder verschwunden. Ein Bruder, der sechzehn Jahre älter war als er und den er eigentlich nicht kannte. Dennoch entschied dieser große Bruder soeben über sein Schicksal und darüber, wie es mit ihm weitergehen würde: Wo er leben und aufwachsen sollte, obwohl er schließlich mit seinen elf Lebensjahren durchaus in der Lage gewesen wäre, diese Frage für sich selbst zu entscheiden. Und was ihm ganz und gar nicht behagte, war die Vorstellung, dass sein zukünftiges Dasein sich womöglich in einer engen Stadtwohnung zutragen könnte, weit fort von seinem Zuhause und dem, was ihm wichtig war, ja, eigentlich alles bedeutete.

Dieses Amt hier, das nur dafür zuständig war, die Belange von Kindern und Jugendlichen zu vertreten, würde die Entscheidung treffen, die er selbst vor dem Gesetz und dem Richter noch nicht für sich einfordern durfte. Auch das gefiel dem Jungen nicht und je länger er hier saß und wartete und nichts tun konnte, desto unleidiger wurde seine Stimmung. Dass sein Vater zu schnell gefahren war – dafür konnte er doch nichts und dass er zu seinem großen Bruder im Grunde keinerlei Beziehung hatte, dafür doch auch nicht! Nein, weggehen würde er nicht, niemals! Da konnte niemand etwas daran ändern, auch keine Beamten und kein großer Bruder.

Trotzig verschränkte der Junge die Arme vor der Brust und warf sich auf dem Stuhl zurück. Er wollte endlich wissen, was hinter dieser Tür vor sich ging, welche Entscheidungen die Erwachsenen trafen, obwohl es doch eigentlich ihn betraf! Ihn und sein Leben, seine Zukunft!

Laute Stimmen ließen ihn den Blick heben. Zwei Frauen schoben einen braunhaarigen Jungen, etwa in seinem Alter, den Flur hinab, der sich wild schreiend und weinend zur Wehr setzte. Er schlug wütend um sich, trat und biss und die beiden Frauen hatten ganz offensichtlich größte Mühe, ihn irgendwie vorwärts zu zerren. Sie öffneten eine Tür, bugsierten ihn hinein und schlugen sie hinter sich zu; das schrille Geschrei verstummte.

Der Junge biss sich auf die Unterlippe. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken und einen kurzen Moment war er verführt, einfach aufzustehen und davonzulaufen. Warum eigentlich nicht? Wieso sollte er bei seinem großen Bruder bleiben? Er war ihm mehr fremd als vertraut, sie hatten gerade erst begonnen, sich kennenzulernen. Er schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, das wäre unfair und gemein. Das konnte er ihm nicht antun, diesem großen, blonden Mann, der ihrem gemeinsamen Vater sehr ähnlich sah. Er war das genaue Gegenteil zu ihm selbst. Der Junge runzelte die Stirn. Er besaß die braunen Augen und die rötlich schimmernden Haare seiner Mutter, ähnlich der Farbe einer reifen Kastanie, die gerade vom Baum gefallen war. Jedenfalls hatte sein Vater das immer wieder betont. Er selbst konnte dazu nichts sagen – er erinnerte sich nicht an seine Mutter, wusste nicht, wie sie ausgesehen oder sich angefühlt hatte. Das einzige, was ihm geblieben war von seiner Familie, das war ein sechzehn Jahre älterer Bruder.

Immer wieder kreisten seine Gedanken darum, wie schwer es seit diesem Tag vor wenigen Wochen für sie alle plötzlich geworden war, seit dem Tag, an dem sein Vater in das Auto gestiegen und zu schnell gefahren war. Der Junge hasste ihn manchmal dafür, dass er sich nicht an die vorgeschriebene Geschwindigkeit gehalten hatte; dann wäre alles jetzt ganz einfach und normal, wie immer. So jedoch herrschte in ihrer aller Leben Chaos und Ungewissheit und Angst.

Der Junge schloss die Augen und verharrte auf dem harten Holzstuhl, versunken in seine Überlegungen und die Aussichten, was sein weiteres Leben betraf. Irgendwann hörte er, wie eine Türe aufschwang und er öffnete seine Augenlider einen Spalt. Die schlanke, hochgewachsene Gestalt trat zu ihm und eine Hand streckte sich nach ihm aus.

Fragend hob der Junge den Blick und als er in das Gesicht blickte, das ihn an das seines Vaters erinnerte, ahnte er es. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er ergriff die ihm angebotene Hand. Sie waren allein mit sich und ihrer verzwickten Brüderbeziehung. Seine kleine Kinderhand verschwand vollkommen in den langen, kräftigen Fingern des jungen Mannes und er marschierte neben ihm her, den Flur entlang, den Weg zurück, den sie gekommen waren und von dem er nicht wusste, ob es der richtige sein würde.

Am Ende bleiben nur die Träume

Подняться наверх