Читать книгу Am Ende bleiben nur die Träume - Regan Holdridge - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDas lange, einstöckige Schulgebäude der kleinen Stadt im mittleren Westen des Bundesstaates Colorado lag ruhig und von einem großen, geteerten Pausenhof umgeben am Rande der südlichen Stadtgrenze. Hinter einem Holzzaun erstreckte sich der Pausenhof und neben der breiten, schweren Eingangstür des Gebäudes lehnten unzählige Fahrräder quer neben- und durcheinander unter den Fenstern. Das Haus selbst stammte aus den 30er Jahren und wirkte mit seinen hohen Fenstern fast ein wenig antiquarisch und überholt.
Der Unterricht hatte schon längst begonnen und im langen Flur des Erdgeschoßes herrschte andächtige Stille, als auf einmal die Tür aufschwang und ein Junge in Bluejeans und grün-kariertem Hemd hereinstürmte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Mit Schrecken entdeckte er die Uhr an der Wand. Ihm graute bei der Vorstellung dessen, was ihm nun wohl blühen würde und er konnte nicht leugnen, dass ihm dabei ausgesprochen mulmig zumute wurde. Er kannte die Zornesausbrüche seiner Lehrerin mittlerweile nur allzu gut.
Schweigend und aufmerksam horchten die einundzwanzig Kinder auf die Stimme der jungen Frau vor der grünen, breiten Tafel, die hinter dem Lehrerpult an der Wand hing. Eine lange Reihe Zahlen und Rechnungen waren dort mit weißer Kreide angeschrieben und sie begann eben mit ihren Erläuterungen: „Wenn ihr diese beiden Summen, die sich wiederum aus der Addition der beiden Klammern ergeben, subtrahiert und…“ Das leise Klicken der Türklinke unterbrach ihre Ausführung, während ihre Miene sich gefährlich verdüsterte. „Na, sieh einer an! Das Wunder des heutigen Tages! Wie schön, dass du dich doch noch dazu entschließen kannst, meinem Unterricht beizuwohnen!“
Ganz von selbst hob sie den linken Arm, um auf ihre Uhr zu blicken. „Heute haben wir den vierzehnten Schultag nach Ende der Sommerferien und Beginn des neuen Schuljahres und du bist zum fünften Mal unpünktlich!“
Verärgert schüttelte sie den Kopf, wobei sich eine Strähne aus ihrer streng zurückgekämmten Frisur löste und ihr in die Stirn fiel. Die auffällige Farbe ihres feuerroten Haares lenkte von ihren ebenmäßigen, fast aristokratischen Gesichtszügen mit der spitzen Nase ab, auf denen sich immer eine gewisse hochnäsige Unantastbarkeit spiegelte. Der entschlossene, harte Zug um ihre vollen, ausdrucksstarken Lippen machte deutlich, dass sie weder Widerspruch, noch Niederlagen kampflos hinnahm und dass sie dieselbe Disziplin auch von ihren Schülern erwartete.
Eilig suchte Toby seinen Platz in der letzten Reihe neben Aaron auf, der ihn mit einem warnenden Blick bedachte, doch er kam gar nicht erst dazu, sich hinzusetzen.
„Guten Morgen, heißt das, wenn ich mich recht erinnere. Oder zumindest haben das deine Mitschüler mittlerweile begriffen!“
„Guten Morgen, Miss Shaughnessy“, stieß der Junge mit vollem Mund hervor und schluckte hastig.
Erst jetzt entdeckte die junge Lehrerin den Apfel in Tobys rechter Hand. Er biss erneut davon ab und schien keinen Hehl daraus machen zu wollen, wie gut dieser ihm schmeckte.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, erklärte er jetzt, sichtlich verlegen und zog seinen Stuhl zurück.
„Einen Moment!“ Der schrille Aufschrei ließ ihn innehalten. Sie schien wieder einmal kurz vor einer Explosion zu stehen und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein Zuspätkommen daran schuld sein sollte.
Langsam, mit verschränkten Armen, schritt die junge Frau auf ihren Schüler zu. Der vernichtende Blick ihrer grauen Augen ließ Tobys Herz schneller schlagen. Hilfe suchend zog er die Schultern hoch. Was sie jetzt wohl mit ihm vorhatte?
„Nachdem du schon wieder zu spät kommst, möchte ich jetzt gerne Näheres über deine schulische Arbeitsweise erfahren. Bitte gib mir dein Heft mit den Hausaufgaben. Ich werde dir darauf eine außerordentliche Note geben!“
Einen langen Augenblick starrte Toby sie flehend an. Bitte lass das nicht wahr sein! Er konnte sie doch nicht anlügen! Damit würde sich seine Situation nur noch mehr verschlimmern und darauf wollte er es nun wirklich nicht ankommen lassen. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er fand keinen Ausweg, der ihn irgendwie hätte retten können. So blieb ihm also nur, die Wahrheit zu gestehen, ganz gleich, mit welchen Konsequenzen das für ihn verbunden sein würde.
„Ich…ich habe sie nicht“, murmelte er so leise, dass es gerade sein bester Freund neben ihm verstehen konnte. Wie erschlagen sank Aaron neben ihm in sich zusammen und verdrehte fassungslos die Augen.
„Wie bitte?!“ Lorraine Shaughnessys wutentbrannte, schrille Stimme hallte durch das Zimmer und durch die gekippte Fensterreihe hinaus in den Pausenhof. Ungnädig klopften ihre langen Fingernägel auf eine der Schulbänke neben Toby. „Leider haben wir deine Aussage eben nicht richtig verstanden!“
Der Junge räusperte sich. Seine Ohren klingelten – nicht etwa von der Lautstärke ihrer Stimme, oh nein, für alle anderen Kinder klang sie vermutlich wie immer. Nur ihm erschien sie wie durch einen Verstärker in seinem Gehör zu dröhnen.
„Es…es tut mir leid!“, stotterte er mit klopfendem Herzen. „Aber ich habe sie leider nicht!“
„Du hast sie nicht“, wiederholte seine Lehrerin, wobei Zornessröte in ihre Wangen stieg. „Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du sie vorgestern auch schon nicht! Und vorige Woche mindestens dreimal nicht!“
Betreten senkte Toby den Kopf. Er war am zurückliegenden Abend wirklich nicht mehr dazu fähig gewesen, sie zu erledigen. Er hatte doch noch im Stall helfen und das Chaos, das er beim Reinigen von Butchs Sattel und Zaumzeug in der Sattelkammer hinterlassen hatte, beseitigen müssen. Aber das durfte er Miss Shaughnessy gegenüber natürlich nicht zugeben, sonst würde sie ihm vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken eine schriftliche Abmahnung ausstellen und was das dann zu Hause wieder für Ärger geben würde...
„Hast du die Aufgaben vielleicht wieder einmal nicht begriffen? Oder ist meine Ausdrucksweise über die zu erledigenden Nummern für dich so unklar?“ Nur mit Mühe schien es Lorraine Shaughnessy zu gelingen, sich zu beherrschen. „Ehrlich gesagt ist mir in allen Schulklassen, die ich bisher unterrichtet habe, noch kein solch fauler, unverschämter und verantwortungsloser Lümmel begegnet, wie du es bist – Toby Patterson!“
Ruckartig warf der Junge den Kopf zurück. Aus dunklen, funkelnden Augen starrte er die rothaarige Lehrerin zutiefst verletzt und zornig an. Sie wusste ganz genau, dass sie ihn ungerecht behandelte! Damit versuchte sie nur wieder, einen Keil zwischen ihn und seine Mitschüler zu treiben! Er mochte sie nicht und sie konnte ihn genauso wenig leiden und das ließ sie ihn auch deutlich spüren. Ihre vereinnahmende, besserwisserische Art war ihm schlichtweg zuwider und trotzig brach es aus ihm heraus: „Im Gegensatz zu anderen Kindern habe ich noch andere Arbeiten zu erledigen, als nur die für die Schule!“
„Tatsächlich?“ Ungläubig rümpfte Lorraine Shaughnessy die Nase. „Und was soll das, bitteschön, sein?“
„Immerhin habe ich zu Hause ein eigenes Pferd! Wir züchten nämlich Pferde, auf unserer Ranch, müssen Sie wissen!“
„Oh!“ Sie zog den Ausruf unnötig in die Länge, was ihn spöttisch klingen ließ. „Dein Pferd? So, so! Schade, dass mir deine Eltern von dem Abend, an dem ich mich vorgestellt habe, nicht in Erinnerung geblieben sind!“
Toby verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber er spürte, dass es sich um nichts Positives handelte. Grübelnd schlenderte Lorraine Shaughnessy zurück nach vorn an der Tafel und zu ihrem Pult.
„Kann es sein, dass das liebe Tier dich ein wenig überfordert?“
„Nein, nein!“, rief Toby erschrocken. Diese Anspielung war selbst für ihn unmissverständlich. „Ganz und gar nicht!“
„Und was hat es dann mit deinem ständigen Zuspätkommen auf sich? Kannst du mir dafür irgendwelche plausiblen Gründe nennen?“
Toby schluckte. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Wenn er sie jetzt belog, würde der Ärger wohl nie ein Ende nehmen. „Na ja...“ Es passte ihm nicht, ihr nun doch zustimmen zu müssen. „Am Morgen gehe ich meistens zuerst noch in den Stall.“
„Aha!“ Genau das schien sie erwartet zu haben. „Und wie sieht dein morgendlicher Ablauf an einem ganz normalen Tag wie heute, denn zum Beispiel so aus?“
Verständnislos kam der Junge ihrer Aufforderung nach: „Nun, ich stehe auf, füttere den Hund, dann gehe ich in den Stall. Dort helfe ich beim Misten und Füttern, hinterher gibt es Frühstück – das heißt, nicht immer. Manchmal ist es dafür schon zu spät. Dann esse ich auf dem Weg hierher.“
„Auf dem Weg? Ich denke, du kommst mit dem Fahrrad?“
„Ja, ja, aber essen und Fahrradfahren klappt prima zusammen! Ich brauche ja keinen Lenker, ich kann auch ohne fahren!“ Plötzlich durchzuckte ihn ein Geistesblitz und seine braunen Augen begannen siegessicher zu leuchten. „Sie sollten wissen, mein Fahrrad ist nicht mehr das Beste und es hat auch schon einige schlechte Erlebnisse hinter sich. Darum kann ich mit ihm auch nicht besonders schnell fahren – sonst springt die Kette jedesmal runter und dieser Ärger dann? Nein, danke! Da komme ich lieber erst ein paar Minuten nach dem Gong!“
Eine lange Minute starrte Lorraine Shaughnessy ihn mit einer Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit an. Keines der anderen Kinder wagte, einen Laut von sich zu geben. Ihre Blicke flogen ununterbrochen zwischen ihrem Klassenkameraden und der jungen Lehrerin hin und her.
„Das Problem ließe sich wohl auf ganz einfache Art lösen“, sagte Lorraine Shaughnessy leise und ihr Tonfall machte deutlich, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war, ehe sie die Geduld verlieren und ihren Schüler kräftig am Kragen packen würde. „Was hältst du davon, ganz einfach zehn Minuten früher von Zuhause wegzufahren?!“
„Zehn Minuten früher?“, wiederholte Toby bedenklich. Sein Verstand setzte einen Moment aus und so zuckte er selbst ein wenig zusammen, als er sich rufen hörte: „Dann muss ich ja auch früher aufstehen!“
Die Faust der Lehrerin schlug krachend auf das Pult. „Was denkst du eigentlich, was du dir herausnehmen kannst?!“ Ihr Aufschrei ließ Toby eingeschüchtert in sich zusammensinken. „Unter den gegebenen Umständen sehe ich mich leider gezwungen, mit deinen Eltern ein ernsthaftes Gespräch zu führen! Und jetzt möchte ich gerne mit dem Unterricht fortfahren. Dazu solltest du allerdings noch zwei Dinge beachten: Erstens werden in meinem Unterricht keine Äpfel gegessen und…“
„Aber…“, wollte Toby protestieren. Der schöne Apfel! Er konnte ihn doch nicht bis zur Pause liegenlassen!
„Ruhe!“, schrie Lorraine Shaughnessy unbeherrscht. Ihre Erfahrung und Qualifikation verboten ihr, den schier überschäumenden Zorn noch länger offen zu zeigen und so schluckte sie einige male, bevor sie zwanghaft bedacht fortfuhr: „Und zum zweiten: Du hältst jetzt den Mund! Die einzige, die hier redet bin ich! Außer, ich erlaube dir, dass du einen Beitrag zum Unterrichtsthema leisten darfst! Das tue ich allerdings nicht und jetzt wirf den Apfel weg! Na, los!“
Widerstrebend ging Toby hinüber zum Mülleimer und ließ das erst halbgegessene Obst hineinfallen. Mit finsterer Miene schlurfte er an seinen Platz zurück.
„Ich habe dich ja gewarnt!“, zischte Aaron ihm zu, als er sah, dass ihre Lehrerin sich wieder den Rechnungen an der Tafel zuwandte. „Du wolltest mir ja nicht glauben!“
Toby erwiderte nichts. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und es wurde schlimmer, je länger er darüber nachdachte, was wohl passieren würde, wenn Lorraine Shaughnessy ihre Drohung tatsächlich wahrmachen und sich mit seinem Bruder in Verbindung setzen würde...
* * *
Verlassen lag der Innenhof der kleinen Ranch im Licht der tiefstehenden, orange-gelben Spätnachmittagssonne, als Toby mit quietschenden Bremsen vor dem überdachten Eingang des Wohnhauses zum Stehen kam. Achtlos lehnte er das Rad an das Holzgeländer, das den schmalen Vorbau zum Hof hin abgrenzte. Prüfend zog er die Brauen hoch und betrachtete die langen Schatten, die der Pferdestall und die Scheune auf den trockenen Sandboden malten. Die Sonnenstunden verringerten sich – es wurde mit jeder Woche spürbarer, wie der Herbst an den Abenden kühl und jeden Tag ein paar Minuten früher aus dem Wald hervorkroch und seine feuchten Nebelschwaden über die Pferdekoppeln verteilte.
Leises, dunkles Wiehern drang aus dem offenstehenden Stalltor ins Freie und Hufe polterten laut und ungeduldig gegen das Holz des Verschlags.
„Sei ruhig, Butch!“, rief Toby und steckte zwei Finger in den Mund. Auf den kurzen, schrillen Pfiff hin kam Shaggy ums Hauseck getrippelt und kläffte ein paarmal zur Begrüßung.
„Klar!“ Lächelnd beugte Toby sich zu ihm hinab und drückte seine Wange an das strohige, lockige Fell des kleinen Hundes. „Du darfst auch mit!“
„Dachte ich es mir doch!“, erklang eine schmunzelnde Stimme über ihm und ließ ihn erschrocken zusammenzucken. „Wenn Shaggy so schnell aus der Küche verschwindet, kannst nur du aufgetaucht sein!“
Toby blickte nicht auf. Er spürte auch so, dass Hank neben ihm stand und ihn beobachtete. „Ich habe vorhin Kirschkuchen gebacken“, verkündete der Alte und wartete gespannt auf die Wirkung seiner Worte.
Doch Toby hob nur gleichgültig die Schultern. Ihm war jetzt nicht nach dem süßen, klebrigen Kuchen zumute, so gut er ihm sonst auch schmeckte. „Ich habe keinen Hunger. Vielleicht später!“ Langsam richtete er sich auf.
„Ist dir nicht gut?“ Besorgt legte Hank seine abgearbeitete, raue Hand auf die Stirn des Jungen. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“
„Nein, nein!“ Genervt schüttelte Toby ihn ab. „Ich geh’ jetzt ausreiten, das ist wichtiger.“ Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: „Diese verdammte Schule ist das schlimmste, was mir je passiert ist!“
„Da sind mir aber von anderen Jahren völlig gegenteilige Aussagen im Gedächtnis geblieben“, erinnerte Hank ihn und schüttelte den Kopf. Was war nur in letzter Zeit mit dem Jungen los? Wo war seine übermütige, gute Laune geblieben? „Mir gegenüber kannst du doch zugeben, wenn etwas nicht in Ordnung ist!“
„Ach!“ Ärgerlich kickte Toby ein Steinchen mit dem Stiefel fort. „Früher hatte ich auch diese nervtötende Ziege von Lehrerin noch nicht!“
„Was sind denn das für Ausdrücke?!“
„Mensch, du hast doch keine Ahnung!“ Er ließ Hank stehen und rannte schnell über den Hof, in den Stall, wo der goldfarbene Hengst bereits ungeduldig in seiner geräumigen Box hin und her lief.
Auf der rechten Seite des langen, schmalen Gebäudes befanden sich die Einzelboxen für die Pferde, die sich nur zum Beritt bei ihnen aufhielten. Links hingegen waren drei große Laufställe mit nach vorn angrenzenden Koppeln unterteilt, wo die Tiere nach Lust und Laune umherspazieren konnten. Darin standen die Schulpferde und ihre eigenen Reitpferde.
Nur Butch, als einziger Hengst auf der Ranch, bewohnte den vordersten Verschlag, direkt hinter dem Tor. Wie alle Pferde konnte er über die halbhohe Türe hinaus in die Stallgasse und durch das Tor ins Freie blicken. Freudig brummelnd schob er seinen schönen, edlen Kopf über das Holz, als er sah, wie sein Besitzer, gefolgt von Shaggy, über den Hof gelaufen kam.
„Hallo Butch!“, begrüßte der Junge ihn und kramte in seinen Jackentaschen nach einer Karotte. „Jetzt darfst du dich ein bisschen austoben!“
Toby beeilte sich, den Hengst zu putzen und das Zaumzeug anzulegen. Wie meistens ritt er ihn auch an diesem Nachmittag ohne Sattel und verließ den Hof nach Süden hinab, wo sich der Weg in die Stadt gabelte und die linke Abzweigung hinaus in die weite, braune Prärie führte. Er musste jetzt alleine sein. Er hoffte, sich durch den Ausritt ablenken zu können, doch immer wieder kreisten seine Gedanken um Lorraine Shaughnessy und ihre ernstgemeinte Warnung. Wenn sie tatsächlich mit Morton sprechen sollte – wie würde dieser reagieren? Und vor allem: Was würde er unternehmen?
Er wird enttäuscht sein, dachte Toby, und vielleicht sogar noch mehr.
Nachdenklich glitten seine Finger über das weiche, warme Fell des Pferdes, das durch die Strahlen der Sonne in mattem Goldton schimmerte. Bestimmt werde ich dann nur noch zu bestimmten Zeiten mit Butch zusammen sein dürfen und ansonsten für die Schule lernen müssen.
Unter dem Vordach, vor der Haustüre, saß Hank in seinem alten, knarrenden Schaukelstuhl. Er hatte sich seinen zerknautschen, schmutzigen Stetson zum Schutz gegen die Sonne aufs Gesicht gelegt und schien zu schlafen. Doch seinen kleinen, schon etwas getrübten Augen entging nicht, wie Toby den Hengst nach einem kurzen Stück antraben ließ und mit ihm hinter den Büschen und der Wegbiegung verschwand, wohin Shaggy ihnen schon vorausgelaufen war.
* * *
Der Pausenhof des Schulgeländes lag leer und still zwischen den Einfamilienhäusern. Nicht ein Kind lief mehr umher und auch die Fahrräder waren allesamt verschwunden. Der Unterricht hatte vor gut einer Stunde für den heutigen Tag geendet und auch die meisten Lehrkräfte befanden sich schon auf dem Nachhauseweg. Nur aus dem Büro des Direktors, ganz am Ende des Flurs im Erdgeschoß, drangen noch laute, aufgebrachte Stimmen.
Seufzend erhob sich Marc Okonek aus seinem Drehstuhl. „Ich kann Ihre Aufregung ja verstehen“, versicherte der kleine, unscheinbare Mann mit dem graumelierten Haar ein wenig hilflos. „Wir kennen das Problem schon lange!“
„Und wieso hat sich dann bisher niemand dafür zuständig gefühlt und etwas dagegen unternommen?“ Entrüstet sprang die junge Frau mit den feuerroten Haaren von ihrem Stuhl auf und begann, erregt im Büro auf und ab zu laufen. „Es ist einfach nicht tragbar, dass ein Junge von zwölf Jahren ununterbrochen zu spät kommt, in den seltensten Fällen seine Hausaufgaben gemacht hat und dann auch noch mit fadenscheinigen, ausgekochten Schwindeleien versucht, sich aus der Affäre zu ziehen!“
„Nun ja, wir haben doch früher alle unsere Grenzen ein wenig ausgetestet“, winkte der Direktor müde ab und räusperte sich. Er stand mit dem Rücken zur Wand, denn er konnte an keinem ihrer Argumente einen Fehler erkennen.
„Sie vielleicht“, lautete die scharfe Erwiderung. „Bei einer vernünftigen Erziehung kommt es allerdings gar nicht erst zu solchen Auswüchsen, wie bei Toby!“
„Tja“, bemerkte der Direktor gedehnt. „Sie können nicht wissen, dass wir – also das Lehrerkollegium und ich – vor gut einem Jahr beschlossen haben, bei Toby Patterson in nächster Zeit ein wenig die Augen zuzudrücken.“
„Vor einem Jahr?!“ Sie schien es nicht fassen zu können. „Haben Sie etwa geglaubt, dadurch seine Leistungen verbessern zu können oder wie darf ich diese Aussage nun wieder verstehen?“
Ausweichend zog Marc Okonek die Schultern hoch. „Vielleicht war es falsch, das will ich ja gar nicht abstreiten. Um das nachvollziehen zu können, muss ich Ihnen vermutlich ein bisschen mehr über den Jungen erzählen.“
Gespannt verschränkte die junge Lehrerin die Arme vor der Brust. „Hoffentlich fangen Sie jetzt nicht auch so an, wie Toby heute morgen!“
Der Direktor stützte sich auf die Platte seines Schreibtischs. „Um es kurz zu machen, Tobys Vater kam letzten Herbst bei einem Autounfall ums Leben.“ Er versuchte, einen sachlichen Tonfall anzuschlagen. Das energische, selbstbewusste Auftreten seiner neuen Lehrerin, von deren Fähigkeiten er aufs Höchste überzeugt war, verunsicherte ihn. Er und die anderen Lehrkräfte hatten damals versucht, es sich mit dem schon zuvor nicht gerade einfachen Jungen so leicht wie möglich zu machen. Doch jetzt nagten auf einmal die Zweifel an seinem Gewissen, ob der Richtigkeit dieser Entscheidung.
„Oh!“ Sichtlich betroffen senkte Lorraine Shaughnessy den Blick.
„Daraufhin“, Marc Okonek brachte seine kurze Erzählung zu einem schnellen Ende, „hat sein sechzehn Jahre älterer Bruder die Ranch übernommen. Er führt jetzt auch die Pferdezucht weiter.“
„Und seine Mutter?“
„Die starb schon vor Jahren, kurz nach Tobys Geburt. Die Leute in der Stadt munkeln, sie hätte sich das Leben genommen – aber sie wissen ja, wie das ist mit dem, was so geredet wird…“
„Ja, aber…“ Kopfschüttelnd rieb sich die rothaarige, junge Frau die Stirn. „Wollen Sie damit etwa sagen, dass der Junge irgendwo dort draußen in der Wildnis, ganz alleine mit seinem Bruder eine Ranch bewirtschaftet?!“ Aufgebracht stemmte sie die Arme in die Hüften. „Jetzt wundern mich einige seiner Aussagen überhaupt nicht mehr!“
„Oh, nein, nein!“, winkte der Direktor rasch ab, als er bemerkte, wie Lorraine Shaughnessys Zorn ermeut auffackelte. „Sein Onkel ist lebt noch dort, der Bruder seiner verstorbenen Mutter. Er ist sehr zuverlässig und hilft mit, so gut es mit seiner beginnenden Gicht eben möglich ist.“ Schmunzelnd schüttelte Marc Okonek kurz den Kopf. „Und dann hat Mr. Patterson vor einem Jahr noch einen Freund bei sich aufgenommen. Dessen Vorgeschichte ist nicht ganz so rein, aber er scheint sich zu mausern.“
„Was für eine Vorgeschichte?“
„Anscheinend saß er mal im Gefängnis.“ Der Direktor hob die Arme. „Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich diesen McGill nicht persönlich kenne. Zwar hatte ich mit Tobys Bruder einmal ein Gespräch, aber auf der Ranch draußen war ich selbst noch nie. Von daher konnte ich mir also auch noch kein Bild von den Verhältnissen dort machen. Dass sich der Junge immerzu im Stall bei den Pferden herumtreibt, statt sich um seine Schularbeiten zu kümmern, ist allerdings seit seiner Einschulung kein Geheimnis!“
Betont langsam und noch immer ungläubig legte die junge Lehrerin den Kopf schief. Ihr rundes, blasses Gesicht verzog sich zu einem zornigen Lächeln.
„Das sind ja wunderbare Neuigkeiten“, erwiderte sie mit solcher Entschlossenheit, dass Marc Okonek nicht wagte, sie zu unterbrechen. „Zuerst habe ich ja noch geglaubt, dass meine Unterredung hier mit Ihnen nicht richtig gewesen wäre, aber jetzt kann ich es einfach nicht fassen!“
„Toby ist glücklich dort, auf der Ranch“, betonte der Direktor, doch Lorraine Shaughnessy schnitt ihm das Wort ab.
„Das tut in diesem Fall nichts zur Sache! Ein Kind braucht eine Familie – eine Mutter, einen Vater, jemanden, der ihm den richtigen Weg ins Leben weist!“
„Ich bin zwar vermutlich nicht der Richtige, um hierüber ein Urteil zu fällen. Ich denke allerdings, diese Menschen hat er“, entgegnete Marc Okonek, doch die junge Lehrerin schien ihm nicht einmal mehr zugehört zu haben. Sie wirbelte herum und verließ grußlos das Zimmer, um die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss zu werfen.
* * *
Es dämmerte bereits, als Ray den Besen hinter dem Tor zum Pferdestall abstellte, mit dem er, wie jeden Abend, den Staub und Dreck aus der Stallgasse gefegt hatte. Der Abschluss eines jeden Tages – einen ordentlich gepflegten Stall zu hinterlassen, das war ihm wichtig. Neben dem Anbindebalken, links des Pferdestalls, lagen noch einige Striegel und Bürsten auf der Erde, die wohl von den Reitschülern dort vergessen worden waren. Kurzerhand sammelte Ray sie zusammen, um sie gleich noch aufzuräumen. In derselben Sekunde, als er sich aufrichtete, um die Utensilien hinüber zur Scheune zu tragen, kam ein dunkelroter, fünftüriger Jeep ungebremst den Weg in Richtung Stadt herab gebraust, eine feine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd.
Verwundert hielt der junge Mann inne und schob sich den schwarzen Hut aus der Stirn. Wer wollte denn um diese Uhrzeit noch etwas? Hier heraus fand, abgesehen von den Reitschülern, nur selten jemand und wenn, dann war der Besuch entweder angekündigt oder die Leute hatten sich verfahren. Er ließ die Striegel und Bürsten in eine Schubkarre fallen, die wenige Meter daneben stand.
Vor dem Wohnhaus kam das Auto mit einem Ruck zum Stehen und eine Frau mit feuerroten Haaren, etwa in seinem Alter, stieg aus. Neugierig schaute sie sich um. Ihr Blick blieb an Hank hängen, der den geschlagenen Nachmittag nichts anderes getan hatte, als in seinem Schaukelstuhl zu dösen und der sich auch jetzt nicht rührte, obwohl er ihren Wagen mit Sicherheit gehört haben musste. Sie bedachte ihn mit einem ungefälligen Stirnrunzeln.
Abschätzend musterten Rays blaue Augen die junge Frau. Er kniff die Augen zusammen. Sie kam ihm bekannt vor. Diese zur Schau getragene Hochnäsigkeit, das rote Haar...er glaubte, jemand würde ihm eine Faust in den Magen rammen. Sein Herzschlag setzte eine Sekunde aus. Das musste ein Irrtum sein, absolut unmöglich, solche Zufälle gab es im Leben nicht. Weshalb sollte von allen Frauen auf dieser Welt ausgerechnet sie hier, auf der Ranch, aufkreuzen? Jetzt entdeckte sie ihn. Energischen Schrittes stapfte sie über den Hof, ihm entgegen.
„Hallo!“, grüßte Ray zögerlich. Hätte er gekonnt, er wäre längst über alle Berge gewesen. „Wie geht’s?“ Der Klang seiner ungewöhnlich tiefen, rauchigen Stimme schien ihr für eine Sekunde die Sprache zu verschlagen und sie vergessen zu lassen, weshalb sie eigentlich gekommen war.
„Hallo Ray“, entgegnete sie endlich, jedoch kühl, fast abweisend. „Wie dir vielleicht bekannt sein dürfte, bin ich Tobys neue Lehrerin.“
„Ähm...ja“, machte Ray und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er erinnerte sich an Tobys nicht sonderlich positive Beschreibungen von ihr. Weshalb hatte er nur nicht viel eher auf den Namen geachtet? Dann hätte es ihm doch dämmern müssen!
„Was ist?“, fuhr sie ihn augenblicklich verärgert an. „Ich finde es nicht sonderlich witzig, dass ich aufgrund dieser Tatsache extra hier herauskurven musste! Ein grässlicher Weg ist das! Fast zu schade für mein Auto!“
„Ist ja schon gut!“, wehrte der junge Mann ab. „Ich dachte nur gerade daran, was Toby alles über dich erzählt hat!“
„Ich kann mir vorstellen, dass es nicht gerade zu meinem Vorteil ausgefallen sein dürfte!“ Ihr Blick glitt prüfend über ihn hinweg. Er merkte es und es war ihm mehr als unangenehm. Sie gehörte nicht zu den Kapiteln in seinem Leben, auf die er gerne zurückblickte.
„Tut mir leid, Mort ist im Augenblick nicht da, falls es um Toby geht.“
„Auch das noch!“ Sie ächzte bedauerlich und verärgert zugleich. „Es wäre wirklich sehr dringend gewesen!“ Plötzlich nahm ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck an. Ihre grauen Augen bohrten sich in seine ozeanblauen, als ob sie es darauf anlegte, dass er den Blick zuerst abwandte. „Dass es dich mal zu einer solchen Arbeit verschlägt, hätte ich auch niemals gedacht.“ Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig verächtlich. „Wolltest du nicht Stuntman werden?“
„Das war ich auch eine Weile“, bestätigte er, ein wenig zögernd und wollte sich abwenden. Er verspürte wenig Lust, sich mit ihr über die vergangenen Jahre seines Lebens zu unterhalten und was darin alles vorgefallen war, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. „Da ich trotz allem nicht Tobys Bruder bin, musst du eben ein anderes mal wiederkommen!“
„Kein Problem, dann werde ich halt mit dir vorliebnehmen!“
Ray stutzte. „Ich glaube, es ist besser, wenn du die Angelegenheit mit Morton selber klärst“, erwiderte er ruhig und deutete zum Wohnhaus hinüber. „Wenn du unbedingt warten willst, kannst du es dir ja so lange da drüben bequem machen. Hank wird dir bestimmt gerne Gesellschaft leisten und wenn du möchtest, kannst du auch ein Stück Kirschkuchen haben!“
„Moment!“ Kurzentschlossen trat Lorraine Shaughnessy ihm in den Weg, als er sie stehenlassen wollte. „Ich habe nicht teures Benzin verfahren, um mich jetzt auf eine harte Holzbank zu setzen und auf Tobys ehrenwerten Bruder zu warten!“
„Und ich habe keine Lust auf irgendeine Art von Unterhaltung mit dir! Schon gar nicht über unsere Vergangenheit!“, entfuhr es Ray. Ihr arrogantes Auftreten, gepaart mit Feindseligkeit ärgerte ihn. Was wollte sie eigentlich? Er spürte, wie sein Temperament von ihm Besitz ergriff, ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können.
Triumphierend warf Lorraine Shaughnessy den Kopf zurück. „Du sagst es – zum Glück ist es Vergangenheit. Es ist umso bedauerlicher, dass wir uns in Zukunft vermutlich wieder öfter begegnen werden, bis sich mein schwierigster Schüler gebessert hat.“
Eine Sekunde starrte Ray sie an, als hätte sie ihm gerade erklärt, sie sei in Wirklichkeit vom FBI und nur gekommen, um ihn so, wie er vor ihr stand, mitzunehmen.
„Am besten“, schlug er mit zusammengebissenen Zähnen vor, „du setzt dich jetzt da in deinen teuren Wagen und lenkst ihn genau den Weg zurück, den du gekommen bist!“
„Oh nein!“, rief die rothaarige Lehrerin. „So leicht wirst du mich nicht los! Ich bin von offizieller Seite hier und ich kann wirklich nichts dafür, dass du hier zum...“ Wieder glitt ihr Blick über ihn hinweg und er wusste, dass er in seinen schmutzigen Jeans und dem verschwitzten Hemd wahrlich keinen allzu ansehnlichen Anblick bot. „Vom Stuntman zum Stallburschen. Eine beachtliche Karriere, mein Lieber. Ich bin beeindruckt.“
Wütend kniff Ray die Augen zusammen. „Entschuldige mich! Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir deine Beleidigungen anzuhören!“
„Du verträgst die Wahrheit wohl immer noch nicht, was?!“
Ray schloss für eine Sekunde die Augen, um diese junge Frau, die sich als Lehrerin bezeichnen durfte, zumindest nicht mehr ansehen zu müssen. Er dachte an Tobys Erzählungen und fand mit einem Schlag, dass der Junge absolut recht hatte. Ganz ruhig, sagte er sich und versuchte, einen bedachteren Tonfall anzuschlagen: „Schau, meine Arbeit erledigt sich nicht von alleine! Du kannst entweder warten oder ein anderes Mal wiederkommen – handhabe das, wie du willst!“
„Da sehen wir uns nach...lass mich nachdenken...beinahe fünf Jahren wieder und dann willst du nicht einmal einen kleinen Plausch mit mir halten?“ Hartnäckig versperrte Lorraine Shaughnessy ihm den Weg. „Sieh mal, ein Kind braucht Eltern, damit es fähig wird, sich richtig und zu einem gesellschaftlich anerkannten Menschen zu entwickeln, der voll in diese Welt integriert wird.“ Mit entschuldigendem Lächeln deutete sie zum Ranchhaus hinüber. „Wenn ich mir das alles so ansehe, glaube ich kaum, dass Toby hier das bekommt, was er zu seiner Entwicklung dringend benötigt! Versteh’ mich nicht falsch, aber die Erfahrungen der Psychologie haben immer wieder einen wichtigen Aspekt bewiesen und von daher kann ich mir kaum vorstellen, dass du der richtige Umgang für einen zwölfjährigen Jungen sind!“
„Aha!“, machte Ray zornig. Er merkte, dass ein weiteres, falsches Wort genügen würde, um seinen Hitzkopf wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. Doch da war sein Versprechen gegenüber Morton, sich zusammenzunehmen, sich am Riemen zu reißen und nicht ständig mit irgendwelchen Leuten in Streit zu geraten, nur weil er ihnen gerne seine Meinung geigte. Bevor er den Mund aufmachen und eine wohlüberlegte, sachlich-nüchterne Antwort geben konnte, hörte er die kalte, berechnende Stimme neben sich: „Und diese Erfahrung sagt: Einmal Verbrecher, immer Verbrecher. Kinder lernen nun einmal von uns Erwachsenen. Das, was ich bisher von Toby weiß, ist die unabwendbare Tatsache, dass er bereits anfängt, von dir die falschen Dinge abzuschauen!“
„Wie bitte?!“ Ray wirbelte herum, die unsichtbare Leine, die ihn bislang zurückgehalten hatte, riss. „Willst du mir etwa unterstellen, dass ich es darauf anlege, aus Toby einen schlechten Menschen zu machen?! Willst du mir vorwerfen, dass ich irgendwann einmal ein bisschen über die Strenge geschlagen habe? Das ist verdammt lange her!“
„Nicht lange genug“, wies Lorraine Shaughnessy seinen Vorwurf mit einem überheblichen Lächeln zurück. „Bewusst tust du das vermutlich nicht. Wenn ein Mensch jedoch einmal ein Verbrechen begangen hat, wenn er einmal diese Hemmschwelle überschritten hat, ist er immer wieder dazu fähig, ob er das will oder nicht! Und genau dieses Verhalten ist es, das sich negativ auf das Kind auswirkt.“
„Du weißt genau, was ich alles hinter mir habe und du hast nichts Besseres zu tun, als es heute gegen mich auszuspielen?!“ Rays tiefe Stimme zitterte. In seinen blauen Augen spiegelte sich genau das wider, was er in diesem Moment empfand: Hass – und sie spürte es. „Verschwinde endlich! Los! Ich habe genug von deinen bescheuerten Weisheiten!“
„Ah ja!“ Bedauernd klatschte Lorraine Shaughnessy in die Hände. „Schade! Jetzt kommen deine unterdrückten Aggressionen doch wieder zum Vorschein!“
„Wenn du dich nicht auf der Stelle in deinen Wagen setzt“, stieß Ray leise hervor, „kann ich für nichts mehr garantieren!“
Lorraine Shaughnessy schien zu realisieren, dass die Drohung, die hinter diesen Worten steckte, ernst gemeint war, denn sie trat zwei Schritte zurück.
In diesem Augenblick rumpelte der hellblaue Ford mit dem großen Pferdehänger in den Hof und Morton stieg aus. Erstaunt fiel sein Blick zuerst auf den ihm unbekannten Wagen und dann auf seinen besten Freund, der mit unverkennbar zorniger Miene einer ihm unbekannten, rothaarigen Frau gegenüberstand.
„Hab’ ich was verpasst?“, wollte er von Hank wissen, der amüsiert grinsend mit den Ellenbogen über dem Geländer des Vorbaus lehnte.
„Oh – nur einen kleinen Streit zwischen unserem Hitzkopf und Tobys, in ihren Ansichten und Meinungen etwas beschränkten, Klassenlehrerin! Aber gut, dass du kommst! Ich glaube, es ist Zeit, dass jemand dazwischen geht, bevor einer der beiden handgreiflich wird!“
Eine Sekunde starrte Morton ihn irritiert an, dann jedoch eilte er hinüber zum Pferdestall, vor dem Ray noch immer heftig mit der jungen Frau diskutierte.
„Woher willst du wissen, was die Psychologie über ehemalige Sträflinge aussagt?!“, rief Lorraine Shaughnessy in diesem Moment. „Du kennst vielleicht ein Gefängnis von innen, aber…“
„Was interessiert mich denn deine dämliche Psychologie?! Dass wir zufällig hier ineinander rennen, war nicht meine Absicht und ich hätte weiß Gott darauf verzichten können!“
„Siehst du etwa mich in Begeisterungsstürme ausbrechen? Du hast mich damals behandelt wie einen Müllsack, den man einfach entsorgen kann! Es war dir völlig gleichgültig, wie ich mich gefühlt habe!“
„Meine Güte! Es tut mir leid! Ich war jung und da probiert man eben mal ein bisschen etwas aus!“
„Ganz genau! Auf Kosten meiner Gefühle, ja? Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht!“
„Darf ich erfahren, was sich hier abspielt?“ Entschlossen trat Morton dazwischen und legte Ray beschwörend einen Moment die Hand auf die Schulter. Er kannte das Temperament und die bisweilige Unbeherrschtheit seines Pferdetrainers.
„Sie sind Tobys Bruder!“, erkannte die Lehrerin sofort – die Ähnlichkeit zwischen diesem Mann und ihrem Schüler war zu eindeutig, um übersehen zu werden. „Shaughnessy – ich bin Tobys Klassenlehrerin!“
„Ich hatte etwas in der Richtung vermutet“, erwiderte der junge Ranchbesitzer ruhig und nickte ihr zu. „Gibt es einen bestimmten Grund für Ihren Besuch?“
„Allerdings!“ Aufgebracht musterten ihre grauen Augen ihn abschätzend. Er schien in ihren Augen einen ebenso wenig guten Eindruck zu hinterlassen wie Ray. „Es geht um Tobys schulische Leistungen!“
Morton hob bedenklich die Brauen. Fast hatte er etwas in dieser Art befürchtet.
„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich alles andere als zufrieden damit sein kann“, fuhr Lorraine Shaughnessy ungerührt fort. „Zum einen kommt er ununterbrochen zu spät und außerdem tue ich mir leichter, eine Strichliste mit den Tagen zu führen, an denen er seine Hausaufgaben gemacht hat, als eine, an denen er sie nicht hat!“
Betreten zuckte Morton die Schultern.
„Ich habe es schon Ihrem ungehobelten Cowboy hier erklärt: Lange sehe ich mir diese unerträglichen Zustände, in denen Toby leben muss, nicht mehr an! Entweder, Sie sehen zu, dass Sie endlich in vernünftigem und angemessenem Ausmaß die Rolle des Erziehungsberechtigten übernehmen oder ich werde alles in die Wege leiten, damit Ihnen dieses Recht ein für allemal entzogen wird!“ Zufrieden bemerkte sie, wie Morton blass wurde. „Ich wünsche den Herren noch einen vergnüglichen Abend! Auf Wiedersehen!“ Ruckartig warf sie sich auf dem Absatz herum und stapfte hinüber, zu ihrem Auto. Mit quietschenden Reifen und Vollgas setzte der dunkelrote Jeep zurück und raste den schmalen Asphaltweg in Richtung Stadt hinauf.
Wie erstarrt lehnte Hank noch immer über der Brüstung; er hatte jedes Wort genau verstanden.
„Willst du dir das wirklich bieten lassen?“ Fassungslos versetzte Ray seinem besten Freund einen Stoß mit dem Ellbogen.
Mit einem tiefen, bedrückten Seufzer schob der junge Rancher sich den hellbraunen Cowboyhut ins Genick. „Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Ihr Prügel androhen? Oder versuchen, mich vernünftig mit ihr darüber auseinanderzusetzen? Du hast sie doch gerade erlebt!“
„Es geht nicht um Lorraine“, wies Ray ihn, noch immer innerlich aufgebracht, zurecht. „Wenn das stimmt, was sie sagt, dann bist du derjenige, der sich über seine Rolle gegenüber Toby Gedanken machen muss!“
„Ich bin nur sein Bruder! Ich habe keine Ahnung von Kindererziehung!“
„Entweder bist du für ihn verantwortlich oder du bist es nicht! Such’ es dir aus!“ Ray wusste nicht weshalb, aber er hatte das Gefühl, als versuchte Morton, sich genau davor zu drücken. „Er hat doch nur noch dich!“
Entnervt verdrehte Morton die Augen. „Erklär’ du mir lieber, was das zwischen euch gerade war!“, konterte er und deutete auf den Pferdehänger. „Drei Stuten zum Beritt, von Ambrose Lacey!“
Dankbar, nicht näher auf diese Forderung eingehen zu müssen, entgegnete Ray: „Das heißt, wir haben wieder jede Menge zu tun in den nächsten Wochen!“
„Allerdings! Und für gute Arbeit gibt es bei Mr. Lacey immer noch einen extra Aufschlag! Den könnten wir gut gebrauchen!“ Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf dem schmalen Gesicht des jungen Ranchbesitzers breit. „Wenigstens etwas Positives!“
Ray nickte. „Wurde auch langsam Zeit!“
„Wo steckt Toby überhaupt?“, wollte Morton plötzlich wissen. Die Worte der jungen Lehrerin ließen ihn doch nicht ganz so schnell los, wie er gerne vorgegaukelt hätte.
„Er ist ausgeritten, gleich nach der Schule“, antwortete Ray und verzog sein gutaussehendes, braungebranntes Gesicht zu einem verständnisvollen Lächeln. „Vielleicht wollte er sich den Ärger ersparen…“
Zwischen Mortons Augenbrauen bildete sich eine tiefe, ernste Falte. „Natürlich hat er es nicht leicht…aber wenn das alles wahr ist! Oh, verdammt!“
Er ließ Ray bei seiner Arbeit zurück und marschierte mit großen Schritten und in seinen Gedanken versunken hinüber zum Hänger, um die drei neuen Pferde auszuladen.
Nur Hank lehnte noch immer am Geländer des Vorbaus, die Hände darauf abgestützt. Irgendetwas lief hier schief und zwar gründlich. Irgendwelche Dinge passierten hier, die nicht sein durften. Er wusste nur nicht, was das genau war, er konnte den Finger nicht darauf legen, jedenfalls noch nicht.