Читать книгу Der Ruf des Kojoten - Regan Holdridge - Страница 8

1967 – 69

Оглавление

Byron McCullough lenkte seinen kräftigen, temperamentvollen Schimmel den vertrauten Weg entlang. Es war derselbe Weg, den er schon hunderte male zuvor geritten war und der ihn hinauf zu den östlichen Weiden brachte, wo er die Herde Jungpferde weiter zur nächsten Koppel treiben musste. Über ihm zog ein Adler seine Bahnen, hin und wieder einen Schrei ausstoßend. Der Tag war noch jung; er war vor allen anderen aufgestanden. Die Sonne blinzelte soeben erst hinter den Hügeln im Osten hervor und tauchte die Ebene in sanfte Brauntöne. Er kannte das alles sein Leben lang und nahm es deshalb auch kaum noch wahr. Es war eben so, ein Teil dessen, was zu seinem Alltag gehörte.

Seine Gedanken kreisten noch immer um den Brief in seiner Tasche und dessen Inhalt. Es war das, worauf er einerseits gehofft hatte und vor dem es ihm andererseits graute. Schön, er hätte bereits bei der Musterung ahnen können, dass sie ihn nicht ablehnen würden, jedenfalls nicht in solchen Zeiten. Da spielte es auch keine Rolle, dass er sich als Jugendlicher bei einem Sturz vom Pferd einmal das Becken gebrochen hatte. Er konnte noch ablehnen, anstatt sich zu verpflichten. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen seinem Wunsch nach Freiheit und dem Bestreben, den Erwartungen gerecht zu werden, die in ihn gesetzt wurden.

Äußerlich war Byron im Laufe seiner Entwicklung seinem Vater immer ähnlicher geworden: Dieselben, kastanienbraunen Haare und braunen Augen mit dem breiten, auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiven Zügen. Die gleiche hochgewachsene, muskulöse Statur mit den enormen Oberarmen und innerlich erfüllt mit dem ständigen Verlangen, über andere zu bestimmen. Ansonsten jedoch hatten sie nicht viel gemein, im Gegenteil. Die unendliche Liebe Harolds zu dieser Ranch und dem unerbittlichen, einsamen Land blieben Byron ein ewiges Rätsel. Schön, die Ranch befand sich nun in der vierten Generation in Familienbesitz, immer vom Vater an den ältesten Sohn vererbt und seine Bestimmung war es, der nächste in dieser Reihe zu sein.

Der junge Mann seufzte tief. Er war nun siebenundzwanzig Jahre alt und manchmal überkam in das geradezu panische Gefühl, dass sein Leben an ihm vorüberzog, ohne dass er es jemals wirklich genossen hatte oder auch nur verspürt, was es bedeutete, glücklich zu sein. Genau, wie seine verstorbene Mutter Fey vor vielen Jahren, fand er die Befriedigung nur im geschriebenen Wort, in Büchern und Zeitungen und damit in der Gewissheit, dass diese Welt noch mehr zu bieten hatte als ein Fleckchen Erde im Westen dieses unüberschaubar riesigen Landes. Er war schon immer getrieben von dem unstillbaren Verlangen, danach zu greifen, alles daran zu setzen, dass es ein „Mehr“ wurde. Ein Mehr an allem, nicht nur an materiellem Besitz, in erster Linie an Selbstbestätigung und dem Bewusstsein, dass er Größeres für sich schaffen konnte als lediglich der Erbe einer einfachen Rinderranch zu sein. Die Vorstellung bekam mit jedem Mal, da er sich dies vor Augen führte, einen bittereren Nachgeschmack.

Sein Schimmel scheute vor einem Vogel, der aus einem Gestrüpp flog und sprang mit einem mächtigen Satz zur Seite. Im letzten Moment gelang es Byron, sich am Sattelhorn festzuklammern, um nicht im hohen Bogen herabzustürzen. Er stieß einen leisen Fluch aus und griff in die Zügel. Der Wallach schnaubte und rammte seine Beine in den Boden. Byron richtete sich auf und drückte seinen schmutzigen Stetson tiefer ins Gesicht. Es war eben ein Tag, wie so viele andere davor und doch war er es nicht.

Die grelle Sonne stand hoch am Himmel, ließ den Sand im Innenhof beinahe weiß erscheinen; das Zwitschern der Vögel drang durch die offenen Fenster zum Wohnraum hinein. Das Pendel der schweren, alten Standuhr schwang tickend hin und her und brachte Charlotte dazu, alle paar Minuten auf das Ziffernblatt zu sehen – schon gleich halb fünf Uhr nachmittags! Entsetzlich! Draußen herrschte das herrlichste Wetter und sie saß nutzlos hier im Haus herum und weshalb?

„Kuck doch nicht immer, wann du endlich gehen kannst“, bemerkte Sarah schließlich gereizt, als ihre Schwester schon wieder nach der Uhr schielte und setzte den nächsten Stich, um den Knopf an Stacys Hemd anzunähen. „Deine Ballettstunde läuft dir schon nicht davon!“

„Ach, du hast doch keine Ahnung!“ Genervt verzog Charlotte das Gesicht zu einer bösen Grimasse und schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Pferdeschwanz rechts und links gegen ihre Ohren schlug. „Es ist jedesmal dasselbe, seitdem Tante Harriet ins Altersheim gezogen ist! Ständig müssen wir ran und den Haushalt schmeißen!“

Rügend verzog Sarah die Lippen. „Tante Harriet hat sich seit Mutters Tod um uns gekümmert und alles für uns getan! Sie hat ein gutes Recht, sich einen schönen Lebensabend zu gönnen, jetzt, wo wir erwachsen sind! Außerdem kann sie sich kaum noch selbst versorgen, das weißt du. Wie sollte sie uns da eine Hilfe sein?“

„Ja, ja, ich weiß“, versuchte ihre Zwillingsschwester beinahe verzweifelt vor lauter Ungeduld, den Haussegen zu wahren. „Es ist doch bloß, dass ich es hasse, zu spät zu kommen! Und nachdem der Wagen ja mal wieder nicht da ist, muss ich das Fahrrad nehmen!“

„Das kann dir nicht schaden!“ Es war nicht so böse gemeint, wie es klang, doch Charlottes hellbraune Augen blitzten zornig auf.

„Du bist ja nur neidisch!“, rief sie aufgebracht. „Weil du zum Tanzen überhaupt kein Talent hast! Darum hast du nach ein paar Stunden auch schon aufgegeben!“

Sarah seufzte und schüttelte den Kopf. „So ein Blödsinn! Früher habe ich für die Schule lernen müssen und jetzt habe ich einen Job! Außerdem gehe ich lieber reiten als ins Ballett!“

„Sicher“, kommentierte ihre Schwester ungerührt. „Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, dass du jahrelang von nichts anderem gesprochen hast als davon, Mannequin zu werden oder sowas!“

„Mach’ dich nicht lächerlich!“ Sarah biss sich auf die Lippen und stach sich mit der Nadel in den Finger. „Dazu bin ich überhaupt nicht hübsch genug.“

„Nein, du nicht!“, erwiderte Charlotte giftig und fuhr fort, das Loch in der Hose ihres ältesten Bruders zu stopfen. Oh, wie sie sie hasste, diese lästigen Hausarbeiten!

Die beiden 19jährigen Zwillingsschwestern schwiegen für eine lange Weile. Sie wollten sich nicht zanken und doch geschah es in den letzten Monaten beinahe täglich, dass sie aneinandergerieten. Es schien wie eine Art Zwang – beide mussten der jeweils anderen beweisen, dass sie recht hatte.

Nach Beendigung ihrer Schullaufbahn hatte für beide das Arbeitsleben begonnen. Charlotte fand eine Anstellung in einer Modeboutique, was ihr recht gut gefiel. Ihre natürlich-elegante Art, ihr hübsches, zartes Gesicht mit den vielen, kleinen Sommersprossen und der unwiderstehliche Charme, mit dem sie jede Kundin einzuwickeln vermochte, machten sie für den Laden mittlerweile fast unentbehrlich. Es war nicht das, was sie sich für ihr Leben erträumt hatte, aber immer noch besser als die meisten anderen Optionen, die ihr nach der Highschool offengestanden hatten.

Sarah hingegen hatte keine allzu großen Wahlmöglichkeiten gehabt. Ihre Noten waren trotz aller Bemühungen nicht die besten gewesen und zudem besaß sie weder das hübsche Gesicht, noch die Ausstrahlung ihrer Schwester. Obwohl sie Zwillinge waren, so entwickelten sich im Laufe ihres Heranwachsens doch unterschiedliche Eigenschaften sehr prägnant aus; sie waren eben zweieiige Zwillinge und das nicht nur äußerlich. Für Sarah war schließlich eine Stelle im Büro in einem der Supermärkte übriggeblieben. Sie half bei der Buchhaltung und dem Schriftverkehr und brachte dem Chef den Kaffee, wenn er danach plärrte, war sozusagen Mädchen für alles.

„Ach, ich hab’ die Nase voll!“ Charlotte schleuderte die Hose beiseite. Sie musste sich nun wirklich beeilen, wenn sie noch halbwegs pünktlich zu ihrer Ballettstunde kommen wollte. Sie rannte hinüber zur Garderobe, wo bereits ihr Turnbeutel mit den Schuhen und ihrer Kleidung lag.

Sarah warf einen kurzen Blick über ihre Schulter zurück. Es hatte keinen Sinn, sich deswegen schon wieder zu streiten, sie wusste es. Ihr Vater stand in solchen Fragen immer und ohne Ausnahme hinter Charlotte. Irgendetwas bewog ihn zu glauben, sie habe ein großes Talent fürs Ballett und das Tanzen – im Gegensatz zu seiner anderen Tochter, die eigentlich gar nichts richtig konnte. Sarah verdrängte den Gedanken schnell und widmete sich wieder Stacys Hemd. Dann würde eben sie die Näharbeiten erledigen, damit ihre Brüder und ihr Vater wieder ordentlich herumlaufen konnten.

„Wenn Pa zurückkommt und nach mir fragt, kannst du ihm ja sagen, dass ich nicht länger warten konnte!“ Charlotte stürmte hinaus, die Haustür flog mit einem Knall ins Schloss. Lange blickte Sarah ihr nach, ihr Kopf fühlte sich leer und müde an. Sie seufzte tief. Ach ja, das waren noch schöne Zeiten gewesen, als Tante Harriet sich um alles gekümmert, ihnen die Mutter ersetzt hatte! Wenn wenigstens Charlotte nicht ständig motzen und dann abhauen würde, wenn sie keine Lust hatte, sich um etwas zu kümmern! Aber nein, Charlotte konnte es sich ja erlauben, Charlotte durfte alles, was sie wollte!

„Ich dachte, du wolltest noch mit der Stute ausreiten?“ Sarah zuckte erschrocken zusammen. Es war Stacy. Sie hatte ihn nicht kommen bemerkt. Er stand in der jetzt wieder offenen Haustür und klopfte seinen hellbraunen, verstaubten Hut an den ledernen Überziehhosen ab. „Onkel Jon will auch mit.“

„Oh, Stace!“ Entrüstet legte Sarah ihre Näharbeit beiseite und schob ihren Bruder zurück, über die Türschwelle, auf die überdachte Veranda. „Ich habe erst heute Morgen frisch den Boden gewischt und jetzt liegt wieder alles voller Dreck und Sand!“

Entschuldigend verzog ihr Bruder sein hübsches Gesicht. „Das mit dem Sand lässt sich so schlecht vermeiden! Er klebt nunmal überall!“

„Das sagt Pa auch immer und ich habe dann die Arbeit damit!“

Stacy seufzte. „Ich finde, du hast für heute genug geschuftet. Du hast jetzt schon zwei Tage nicht mehr reiten können, weil ständig irgendetwas wichtiger gewesen ist!“

Sarah zögerte einen Moment. Sie ging in Gedanken all die Dinge durch, die im Haus noch auf Erledigung warteten. Wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst war, konnte sie es sich gar nicht erlauben, auch nur eine Minute an ihr Pferd zu verschwenden.

„Na, komm schon! Vater ist rüber zu Charlie Hickman und du weißt ja – das kann dauern, wenn die beiden zusammenhocken! Und Byron muss schon wieder irgendwas brennend Wichtiges in der Stadt erledigen!“ Stacy gab ihr einen Knuff gegen die Schulter. „Onkel Jon wartet!“

„Na, schön, von mir aus!“ Sie gab nach. Ihr Bruder beobachtete, wie Sarah zur Garderobe rannte, ihren Stetson vom Haken riss und ihm dann hinterher lief als er herumwirbelte und ihr voraus in den Innenhof und von dort zum Pferdestall rannte.

Durch die nur angelehnte Tür ihres kleinen Schlafzimmers am Ende des Flurs konnte Sarah hören, wie Byron und Stacy sich im Erdgeschoß wieder einmal zofften. Es war beinahe wie bei ihr und Charlotte – auch ihre Brüder schienen nicht recht etwas mit dem anderen anfangen zu können, jedenfalls nicht mehr, seitdem sie erwachsen geworden waren. Früher war ihr das nie so sehr ins Bewusstsein gedrungen, aber in den letzten Monaten erschien es ihr beinahe unerträglich, dass die beiden sich ständig stritten. Sarah drehte sich auf dem Bett herum und zog den großen, schweren Bildband vom Nachttisch, den sie sich am Vortag in der Stadt gekauft hatte. Er zeigte Pferde aus aller Welt und sie genoss den Anblick der fremdartigen Kulturen und all der Rassen, von denen sie nie zuvor gehört hatte.

Die Stimmen wurden lauter. Es war Samstagabend und die beiden wollten vermutlich nach Quincy zum Tanzen fahren, wie jeden Samstagabend. Es schien das wichtigste Ereignis der ganzen Woche in der Stadt zu sein, denn dann füllten sich die Kneipen und Saloons mit jungen Leuten, den Heiratswilligen und auch denen, die nur ein wenig Abwechslung zum harten, rauen Alltag suchten.

Sarah richtete sich auf. Sie lauschte auf die Worte ihrer Brüder im unteren Stockwerk und auf einmal mischte sich auch ihr Vater ein, der die beiden zurechtwies, sich jetzt endlich zusammenzureißen und die Klappe zu halten, insbesondere Stacy. Nicht Byron, der gab ihm niemals Anlass zur Sorge. Byron besaß einen umsichtigen, ruhigen Charakter, der sich nicht leicht provozieren ließ und vernünftig genug war, mit dem Alkohol aufzuhören, bevor er sich seines Namens nicht mehr erinnerte. Stacy hingegen vergaß bisweilen nicht nur seine Manieren, sondern auch sein Selbstbewusstsein überstieg einige Grenzen, die er besser eingehalten hätte. Obwohl weder sein Vater herausragend gutaussehend, noch seine Mutter außergewöhnlich schön gewesen war, besaßen seine Gesichtszüge eine solche Vollkommenheit, dass es selbst seine eigene Familie immer wieder erstaunte. Sein braungebranntes Gesicht zu den hellblonden, kurzen Haaren wirkte bisweilen so unglaublich makellos wie das einer Puppe, wie eine Erscheinung im Traum. Er schien die Verkörperung des Märchenprinzen zu sein, der das Mädchen, das er liebte, vor dem bösen Drachen rettete. Die Nase war gerade, an der Spitze leicht gen Himmel zeigend und seine großen, hellblauen Augen besaßen eine faszinierende Eindringlichkeit. Wenn er lächelte und seine weißen, geraden Zähne zeigte, lagen ihm die Mädchen in Quincy haufenweise zu Füßen und dessen war er sich durchaus in vollem Ausmaß bewusst. Stacy genoss die Bewunderung des weiblichen Geschlechts und er kannte seine Wirkung auf sämtliche Mädchen der Umgebung, wenn er seinen Charme hinter der bisweilen unnahbaren, schwer zu fassenden Fassade zum Vorschein kommen ließ. Die meisten drangen eh nicht bis unter seine Oberfläche durch. Sie waren bereits von seinem Äußeren so geblendet, dass er gar keine große Mühe mehr aufbringen musste.

„Und wehe, ich höre wieder irgendwelche Beschwerden!“, sagte Harold mit strenger Miene und richtete seine mächtige Gestalt auf. Sein jüngerer Sohn verzog das Gesicht. Er wirkte genervt und gab sich nicht erst die Mühe, dies vor seinem Vater zu verheimlichen.

„Es wird doch wohl noch erlaubt sein, dass ich einmal die Woche ein bisschen Spaß habe! Einmal in sieben Tagen!“ Sein Gesicht zeigte keine Veränderung, bis auf die Wangenknochen, die hervortraten, weil er die Zähne fest aufeinanderbiss. Das tat er jedesmal, wenn er sich kaum noch zusammenreißen konnte. „Ich arbeite schließlich hart genug hier auf der Ranch!“

„Deshalb musst du dich trotzdem nicht benehmen, wie der hinterletzte Dorftrottel“, warf sein älterer Bruder ruhig ein und bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. „Oder denkst du, es ist für mich besonders angenehm, wenn ich ständig irgendwelche Geschichten zu hören kriege, wie du dich wieder mal aufgeführt hast?!“

„Dann hör’ halt einfach nicht hin!“ Stacy baute sich vor ihm auf, warf den Kopf zurück. Zwei braune Augen fixierten ihn gelassen und beinahe abfällig.

„Wenn du dich heute wieder aufführst und irgendwelche Schlägereien oder sonst was anfängst“, Harolds Stimme klang beinahe drohend, „dann werde ich alles in die Wege leiten, damit du zukünftig deinen Lebensunterhalt woanders als hier auf der Ranch verdingen kannst!“

Die Worte wirkten wie ein Hammerschlag. Schweigend starrte Stacy seinen Vater an. Ja, er wusste, dass sein Vater eigentlich damit gerechnet hatte, dass sein jüngerer Sohn irgendwann die Ranch verlassen und sich woanders etwas Eigenes aufbauen würde. Aber er war noch immer hier, auch mit sechsundzwanzig und hoffte darauf, dass sich sein Traum erfüllen würde und er eines Tages doch die Ranch seiner Vorfahren erben würde. Was genau ihn, trotz aller Ausweglosigkeit, an diesem Wunsch festhalten ließ, konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er niemals bereit sein würde, dieses Land hinter sich zu lassen, ohne zumindest dafür gekämpft zu haben.

„Komm jetzt.“ Byron boxte ihm den Ellenbogen in die Seite und riss ihn damit aus den Überlegungen. „Wir sind schon spät dran und wir wollen deine ganzen Verehrerinnen doch nicht warten lassen!“

„Sehr witzig“, brachte Stacy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hielt dem mahnenden Blick seines Vaters stand, bis er zur Haustür hinaus war. Dann atmete er mehrere male tief durch, um sich zu beruhigen und die Stufen in den Innenhof hinabzuspurten, wo bereits der alte Ford Pickup parkte.

Sarah hörte, wie der Motor ansprang. Ein paar Fehlzündungen hallten durch die Nacht und plötzlich fand sie es ungerecht, dass sie immer alleine zurückblieb, während der Rest ihrer Geschwister sich in irgendwelchen Bars und Kneipen vergnügte. Aber es half ja nichts, es lud sie ja nie ein Mann ein und alleine fortgehen war nichts für sie, da fühlte sie sich viel zu unsicher dafür. Sarah seufzte tief und blätterte eine weitere Seite ihres Buches um.

Charlotte, ja, die wurde an manchen Abenden gleich von zwei, drei jungen Männern abgeholt, aber sie? Ein tiefer Schmerz bohrte sich in Sarahs Herz. Sie war nicht unbedingt hässlich, eben gewöhnlich, nicht hübscher als die meisten anderen Mädchen und genau das war vermutlich das Problem. Dazu noch ihre Schüchternheit und Zurückhaltung – das kam bei den jungen Männern nicht an. So hatte erst zweimal einer sie darum gebeten, mit ihr ins Kino zu gehen – und das mit neunzehn Jahren, die sie nun alt war! Das war nun wirklich mehr als peinlich! Sarah vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Sie hatte so viele Träume und Ideen für ihr Leben gehabt und auf merkwürdige Weise schienen alle bereits in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Designerin hatte ihr als Berufsziel vorgeschwebt oder Model – den Laufsteg entlang schreiten, mit schlanken, langen Beinen und einem zarten Gesicht – alles Eigenschaften, die sie nicht besaß. Sie war klein und kräftig und ihr Gesicht beinahe so rund wie der Vollmond.

Der kühle Nachtwind trug das leise, entfernte Heulen eines Kojoten an ihr Ohr. Sie wusste, dass er in dem schmalen Tal, das der Fluss am südlichen Ende kreuzte, nach einem Weibchen schrie. Diese für fremde Ohren scheußlichen, schaurigen Töne aus dem Rachen eines in der Gegend beinahe ausgerotteten Raubtieres. Als ihr Urgroßvater, Hiram McCullough, die Ranch vor mehr als hundert Jahren an dieser Stelle gegründet hatte, war das Tal voll gewesen mit Kojoten. Darum hatte er ihm den Namen „Coyote Canyon“ gegeben und seine Ranch danach benannt. Ihr Brandzeichen, das alle Tiere auf die Hinterflanke gebrannt bekamen, zeigte ein umgedrehtes C neben einem korrekten, am Bogen sich überschneidend. Jeder konnte anhand dieses Symbols identifizieren, woher ein Kalb oder ein Pferd stammte. Es hing auch aus Holz über dem Eingang zur großen, alten Scheune und auf dem Torbogen, der am Ende der Hofeinfahrt den Weg überspannte.

Wieder heulte der Kojote mehrere male hintereinander, doch Sarah fand, es hörte sich schön, durchdringend, herzergreifend an. Es war der Gesang ihrer Heimat, dieser Ranch und dieses Landes, das ihr so unbeschreiblich viel bedeutete. Wenn jemand sie fragte, woher sie stammte, gab sie immer dieselbe, stolze und leidenschaftliche Antwort: „Meinem Vater gehört die Coyote Canyon Ranch in der Nähe von Quincy!“

Der Name war weit über die Grenzen der Stadt hinaus ein Begriff, nicht nur wegen ihrer Rinder, vor allem aufgrund der hervorragenden Pferdezucht. Harold McCullough hatte sich vor vier Jahren zwei ungewöhnliche Stuten geleistet, als er einen entfernten Verwandten in Kentucky besucht hatte: American Saddlebred Horses. Es seien die schönsten Pferde, die er je gesehen habe, so Harold zu seiner Begründung, als er mit den beiden Tieren auf der Ranch angekommen war. Es störte ihn auch nicht im Mindesten, dass sie nur bedingt oder gar nicht für die Rancharbeit geeignet waren mit ihren langen Beinen, den wohlproportionierten, edlen Körpern und den wachen, feinen Köpfen. Sie besaßen nicht die Geduld, einer Rinderherde über viele Stunden zu folgen. Sie wollten laufen, ihre Schönheit und Ausdauer unter Beweis stellen. Plantagenpferde, als was sie ursprünglich gezüchtet worden waren, weil die Rasse in den Südstaaten ins Leben gerufen worden war, um die reichen Baumwollpflanzer noch zu Zeiten der Sklaverei elegant und mit viel Aufsehen von einem Ort zum anderen zu tragen. Im Laufe der Jahrzehnte waren ein Zuchtbuch gegründet worden und das Stammbuch der besten Hengste streng reglimentiert, um die Charaktereigenschaften und den Körperbau dieser Pferde immer weiter zu verbessern und zu verfeinern und an der Optik eines American Saddlebred Horses blieben die meisten anderen außer Konkurrenz.

Besonders Stacy hatte im Laufe der vergangenen Jahre einen unglaublichen Instinkt für die Pferdezucht entwickelt. Vermutlich auch deshalb, weil es ihn interessierte und Pferde zu den wenigen Dingen gehörten, die ihn wirklich zu begeistern vermochten. Er konnte meist im Voraus schon sagen, welche Stute mit welchem Hengst die besten Fohlen bringen würde und es geschah nur sehr selten, dass er sich einmal täuschte. Er war es auch, der seinen Schwestern immer wieder klarmachte, wie wertvoll dieses Land für sie war, diese lange Tradition von Pionieren und Ranchern und Pferdeleuten: „Es gibt nichts, was vermag, dich stärker an sich zu binden, als ein Stück Land, das deine Vorfahren erstanden und urbar gemacht haben, für das sie geschwitzt und geblutet und gekämpft haben. Der Pulsschlag dieser Ranch ist dein eigener! Du kannst ihn niemals abschütteln! Er wird für immer ein Teil deiner selbst sein!“

Die vielen Kneipen und Bars von Quincy quollen bereits über, als die zwei McCullough-Brüder dort einliefen. Sie parkten den alten Ford wie immer in einer Seitenstraße.

„Ich werde erstmal Randy suchen“, erklärte Stacy, bereits aus dem Wagen springend und schlug gleich die Richtung der großen West Side Bar ums nächste Straßeneck ein.

Byron hob bedenklich die Brauen. Wenn sein kleiner Bruder und dessen bester Kumpel aufeinandertrafen, ging es in der Regel hoch her. Nicht, weil Randy Pratt ein eben solcher Draufgänger und Hitzkopf war, wie sein Bruder, im Gegenteil. Aber er ließ sich von Stacy jedesmal anstecken und Byron ahnte, dass ihm dieser Abend wieder einigen Ärger bescheren würde.

„Reiß dich bloß zusammen!“, warnte er den blonden, jungen Mann, der pfeifend von der Straße auf den Bürgersteig sprang. „Wehe dir, wenn du wieder eine Schlägerei anfängst! Ich hab’ keine Lust, dich schon wieder im Polizeirevier abzuholen!“

„Ich fange nie Schlägereien an!“, verteidigte Stacy seine Ehre und grinste verwegen. „Ich beende sie nur!“

Byron fluchte leise, während er ausstieg und den Zündschlüssel in seiner Hosentasche verstaute. Er wandte sich ab und verschwand in entgegengesetzter Richtung in der Dunkelheit, wo sich ein Saloon befand, ganz nostalgisch eingerichtet und wo eine bestimmte blonde, junge Frau jeden Samstag bediente.

Stacy zuckte die Achseln und zog eine Schachtel Zigarillos aus seiner Brusttasche, um sich eine anzustecken. Zu Hause konnte er dieser Sucht nur selten in Ruhe nachgehen, wollte er nicht mit seinem Vater aneinandergeraten, der seine eigenen Pfeifenqualmerei zwar als erträglich empfand, aber keinesfalls seine Söhne dabei erwischen wollte, wenn sie ihr Geld für billige Zigarillos zum Fenster hinauswarfen. Stacy warf ihm dann jedesmal vor, er würde mit zweierlei Maß messen und nur seine eigene Raucherei rechtfertigen. Das wiederum führte dann ebenso sicher zu einem Wutanfall Harolds und die Diskussion war beendet.

Stacy eilte den Bürgersteig entlang. Einige junge Mädchen kamen ihm entgegen. Sie grüßten ihn kichernd und sichtlich erfreut und er erwiderte ihren Gruß mit übertriebener Höflichkeit. Er zwängte sich an mehreren jungen Kerlen vorbei, die vor der Kneipe zusammenstanden und drückte die Türe auf, die ihn noch von einem weiteren vergnüglichen Abend trennte.

Lautes Gelächter und Zigarettenqualm schlugen ihm entgegen. Der große Raum schien vollgestopft mit Männern und leicht bekleideten Kellnerinnen. Stacy reckte den Hals. Für gewöhnlich fand er seinen besten Freund am Tresen, beim Versuch, ein Getränk zu organisieren. Das war schon seit Langem ihr unabgesprochener Treffpunkt.

Randy war im selben Jahr wie Stacy geboren, braunhaarig und der Sohn eines einfachen Schreinermeisters, der vor einigen Jahren nach einem schweren Arbeitsunfall verstorben war. Seitdem lebten er und seine Mutter allein in der winzigen Wohnung unter dem Dach seines Onkels und er war es, der das Geld für den Lebensunterhalt verdienen musste – ebenfalls in derselben Branche, wie sein Vater. Er arbeitete in einer Möbelschreinerei, was ihm zwar wenig Spaß bereitete, aber ein gesichertes Einkommen versprach. Hin und wieder, wenn im Frühjahr die jungen Kälber gebrannt wurden und im Sommer die Heuernte anstand, kam er hinaus auf die Ranch der McCulloughs, um zu helfen – Taschengeld nannte er das. Hätte Randy die Wahlmöglichkeit gehabt, wäre er vermutlich Musiker geworden, Sänger in einer Band oder ähnliches. Seine ganze Leidenschaft gehörte seiner Gitarre und der Gesang, den er mit seinem vollen Bariton zustandebrachte, war immerhin gut genug, um regelmäßig als Alleinunterhalter in den verschiedenen Kneipen der Stadt aufzutreten.

Obwohl längst nicht so gutaussehend wie sein bester Freund, besaß Randy sehr viel Charme und eine Ausstrahlung, welche die Mädchen nie an seiner Unschuld zweifeln ließen. So, wie die hübsche Brünette, die Stacy noch nie zuvor gesehen hatte und die seinem besten Freund anscheinend im Moment nicht von der Seite weichen wollte, als er ihn nun entdeckte.

Randy grinste, als er Stacy dabei beobachtete, wie er sich durch die Menge schob und stellte ihm seine neueste Eroberung als „Vivien Sowieso“ vor. Sie schien beeindruckt von Stacys Schönheit und genoss es offensichtlich, dass gleich zwei junge Männer versuchten, ihr den Kopf zu verdrehen. Was sie jedoch nicht bemerkte, war Stacys Blick, der immer wieder zum Ausgang wanderte, bis er auf einmal lächelte und „Ah!“ sagte, als würde sich etwas erfüllen, womit er schon lange gerechnet hatte.

„Willst du uns etwa schon verlassen?“, fragte Vivien mit Bedauern und hielt ihn am Arm fest, als er sich gerade davonmachen wollte.

„Tut mir leid!“ Stacys blaue Augen hingen an einer Frau, die unweit des Eingangs stehengeblieben war und ihm kurz, nur mit der Hand, zuwinkte.

Randy erkannte sie und er seufzte. „Schon wieder?“

„Warum nicht?“ Unschuldig zuckte Stacy die Schultern. „Heute ist Samstag!“

Randy lachte, die Stimme dämpfend, sodass nur sein bester Freund es verstehen konnte: „Aber besser nicht wieder in den Schreibwarenladen – vollkommen egal, ob die Hintertür offen ist oder nicht!“

„Nein, keine Sorge!“ Stacy erwiderte das Grinsen. „Diesmal gehen wir ins Hotel!“

Randy boxte dem anderen jungen Mann den Ellenbogen zwischen die Rippen. „Sag mal, entwickelt sich da etwa Ernsteres zwischen dir und Molly? Ich meine nur, weil das nun schon der vierte Samstag in Folge ist, an dem du mit ihr verduftest.“

Stacy wandte den Blick zu der wohlgeformten, grell geschminkten Blondine, die noch immer an der Tür stand und auf ihn wartete. Mit einem Augenzwinkern zog er die Schachtel Zigarillos aus der Brusttasche seines Hemds. „Ich glaube kaum. Sie ist bloß…nun, sagen wir, im Vergleich zu anderen Mädchen recht unkompliziert.“

Randy schmunzelte vielsagend und wandte sich wieder der schlanken Brünetten in dem grünen Kleid zu. Sie schaute Stacy ein wenig enttäuscht hinterdrein, als dieser sie jetzt stehenließ und sich zwischen den umherstehenden Männern in Richtung Ausgang drängte.

„Dein Freund sieht unverschämt gut aus“, bemerkte sie unverhohlen und starrte ihm bewundernd nach.

„Kann sein“, entgegnete Randy und fasste mit seinen langen, dünnen Musikerfingern sacht ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. „Aber dafür hängen an ihm ja auch alle Mädchen dieser Stadt wie Kletten. Mich dagegen hast du ganz für dich allein!“

Das kleine, billige Zimmer im ersten Stock des Hotels lag am Ende des Flurs neben der Rumpelkammer. Es besaß nur das eine Fenster, durch das die Straßenlaterne ihr Licht warf. Molly war Stammgast in diesem Raum; der Hotelportier kannte sie und hielt es für sie frei, wann immer er konnte. Sie erschien hier fast täglich in wechselnder Männergesellschaft, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt finanzierte.

Stacy wusste das, doch es störte ihn nicht im Geringsten. Er liebte diese Frau in keinster Weise, er genoss lediglich ihre Leidenschaft und ihre Erfahrung. Von anderen Männern, auch das wusste er, ließ sie sich ihre Dienste bezahlen – von ihm nahm sie niemals Geld, hatte es auch noch nie getan, obwohl er es ihr hin und wieder anbot. Sie begnügte sich immer mit ein paar Drinks oder einer Einladung zum Abendessen.

Sie war es, die dem jungen, makellosen Körper des schönen Rancherssohnes verfallen war. Der Anblick seiner nackten Männlichkeit genügte, um sie ihre Einnahmequelle vergessen zu lassen. Sie war stolz darauf, ihn verführen zu dürfen, weil sie wusste, dass es sonst in seinem Leben derzeit kein Mädchen gab. Ab und an ein kleines Techtelmechtel ohne Folgen, nichts Ernsthaftes und nur deshalb, weil es ihm Vergnügen bereitete, seine Reize am anderen Geschlecht auszuloten. Molly hielt ihn durchaus nicht für oberflächlich, denn sie kannte sich mit Männern wie Stacy McCullough aus. Irgendwann, wenn sie sich die Hörner abgestoßen hatten und das richtige Mädchen trafen, heirateten sie ja doch alle. Jetzt wollte er noch frei und unabhängig sein, seinem strengen Vater die Stirn bieten und rebellieren, einfach bloß deswegen, weil es ihm Spaß machte und er sich dabei bestätigt fühlte.

Was sie nicht ahnte, waren Stacys innere Kämpfe, dieses Verlangen irgendwie zu kontrollieren, das ihn dazu zwang, sich von den anderen zu unterscheiden, sich abzuheben und nicht angepasst zu sein, wie die Gesellschaft es von ihm erwartete. Diese Art von Rebellion lag ihm im Blut und er konnte sie nicht besiegen, denn es waren dieselben Eigenschaften, die Harold zu seinen vielen Einsätzen für andere trieb. Sie erkannten nur nicht, wie ähnlich sie sich im Grunde genommen waren und dass diese innere Verknüpfung, die sich lediglich unterschiedlich äußerte, zu ihren ständigen Differenzen führte.

„Würdest du nicht aussehen wie der griechische Gott der Schönheit“, sagte Molly einmal, „würde ich dich überhaupt nicht mit hier heraufnehmen, Jungchen. Bist ja noch grün hinter den Ohren!“

Als Stacy das Hotelzimmer nach zwei Stunden ein wenig erschöpft, aber überaus befriedigt wieder verließ und auf den Bürgersteig vor dem Gebäude trat, bemerkte er nicht, dass jemand im selben Moment seinen scharfen Blick auf ihn richtete. Er zündete sich einen Zigarillo an und blies den Rauch gegen den sternenklaren, dunklen Nachthimmel. Die Stunden mit Molly, die er mit ihr verbrachte, zählten zu den intensivsten, die er je kennengelernt hatte. Es war nicht nur deshalb, weil sie die bisher einzige Prostituierte war, mit der er schlief, sondern ihr Verständnis. Sie kannte diese Sehnsucht nach Streit und Provokation, die immer unter seiner scheinbar attraktiven, gefälligen Oberfläche brodelte – und sie verstand. Er brauchte sich ihr gegenüber nicht zu rechtfertigen und seine Aktionen zu verteidigen, wie er es Zuhause stets tun musste.

Zufrieden lächelnd schlug Stacy den Weg zurück zur West Side Bar ein, um nach Randy und seiner Begleiterin zu schauen. Er wollte sehen, was sein Kumpel so anstellte, ob er ihn wieder völlig betrunken zu Hause abliefern musste oder ob diese Brünette – wie hieß sie doch gleich? – einen guten Einfluss auf ihn hatte.

„Hey! McCullough!“ Eine Gestalt trat aus dem Schatten eines Gebäudes in das Licht der Straßenlaterne. Stacy erkannte ihn sofort an seinem hünenhaften, massigen Körperbau. Er seufzte. Im Augenblick besaß er wirklich keinen Nerv, sich mit ihm herumzuärgern. Sie gerieten regelmäßig aneinander, nicht nur an den Samstagabenden.

„Was denn?!“ Stacys Zigarillo fiel auf den Asphalt der Straße, qualmte dort vor sich hin. Er trat ihn mit dem Absatz seines Stiefels aus.

„Das weißt du ganz genau!“ Der andere junge Mann baute sich vor ihm auf, die Arme herausfordernd in die Hüften gestemmt.

„Hör zu“, wehrte Stacy genervt ab. Es juckte ihm in den Fingern, diesem Großmaul endlich eine Lektion zu erteilen. Doch er hatte seinem Vater und Byron versprochen, sich zusammenzureißen und anständig zu benehmen und er wollte es diesmal wirklich tun. „Was auch immer es ist: Lass uns das anderes mal klären, okay?“

„Ein anderes mal? Ach ja?!“ Seine Pratze stieß Stacy vor die Brust, er taumelte drei Schritte zurück, noch immer nicht bereit, sich auf einen Kampf einzulassen. Vermutlich würde er ohnehin den Kürzeren ziehen. Mit Tyrone Clifton war nicht zu scherzen. Als Sohn des ansässigen Schmieds und mit seinem Vater das Geschäft führend, besaß er nicht nur ein hitziges Temperament, sondern auch enorme Kräfte, die ihm einigen Respekt bei den hiesigen Männern eingebracht hatte. Außerdem überragte er Stacy um fast einen Kopf, was die Angelegenheit nicht unbedingt vereinfachte. Stacy selbst war noch nie Zeuge einer Schlägerei geworden, bei der Tyrone sämtliche Teilnehmer entweder vertrieben oder ohnmächtig geprügelt hatte. Er kannte die Geschichten nur vom Hörensagen, doch jetzt, als die beiden Fäuste ihn am Kragen packten und gegen den Stützpfosten eines Vordachs pressten, war er gewillt, diesen durchaus Glauben zu schenken. Er schnappte nach Luft, der harte Griff raubte ihm den Atem. Gut, es ging nicht anders. Sein Stolz verbot es ihm, ohne Gegenwehr eine solche Behandlung zu dulden.

„Lass mich los!“

„Das denkst du dir, Freundchen, häh?!“ Tyrones whiskeygeschwängerter Atem schlug ihm ins Gesicht. „Nach allem, was du mir angetan hast, du verdammter Scheißkerl?!“

Stacy verstand noch immer kein Wort. Wusste der Henker, um was es sich handelte, das Tyrone hatte so wütend auf ihn werden lassen. Jedenfalls wollte er jetzt wieder weiter und den restlichen Abend genießen oder besser gesagt, noch ein wenig Zeit mit anderen Mädchen verbringen. Er ballte seine Hände und schlug blind zu, denn er konnte in der schlecht beleuchteten Straße nur erahnen, wo sich das Gesicht seines Gegenübers befinden musste. Tyrone schrie auf, sein Griff lockerte sich. Stacy spürte kaum den stechenden Schmerz in seiner Hand, er versetzte dem Schmied einen weiteren Kinnhaken. Tyrone fiel rücklings auf den Asphalt der zum Glück unbefahrenen Straße. Sein lauter Aufschrei lockte Neugierige aus den nahe gelegenen Kneipen, die sich um sie versammelten. Keiner machte Anstalten sich einzumischen. Alle beobachteten sie das Geschehen, tuschelten oder kicherten.

Tyrone rappelte sich auf und obwohl Stacy damit gerechnet hatte, konnte er dem zornigen Mann nichts entgegensetzen. Sie flogen beide hart und schmerzhaft auf den asphaltierten Bürgersteig und im nächsten Moment wurde er wieder nach oben gerissen. Der Würgegriff drückte ihm die Luft ab, er kam nicht frei.

„Du verdammter Hurensohn!“, gellte die Stimme in sein Ohr. „Du hast nicht das Recht, sie mir wegzunehmen! Ich liebe sie! Ich! Ich! Ich ganz allein!“

Endlich dämmerte Stacy der Grund für Tyrones Wut: Es ging um Molly. Es war ein offenes Geheimnis, über das viel getratscht und getuschelt wurde, dass der Schmied hoffnungslos in die wenig ehrbare Frau aus dem dritten Stock des Mietshauses neben der Stadtbibliothek verschossen war und sie ihm bei all seinen Bemühungen stets die kalte Schulter zeigte. Irgendwie schien er von den samstäglichen Treffen zwischen ihr und Stacy McCullough Wind bekommen zu haben.

Er hustete, seine Kräfte verließen ihn und wenn Tyrone ihn nicht bald losließ, würde er wohl über kurz oder lang das Bewusstsein verlieren. Seine Chancen standen gleich null, seine Kraft reichte einfach nicht aus, um gegen einen Mann mit solchen Muskeln anzukommen. Wieso sah sich eigentlich von diesen ganzen Feiglingen, die um sie herumstanden, keiner dafür zuständig, ihm zu helfen?! Er versuchte noch einmal nach seinem Gegner zu schlagen, doch in diesem Augenblick wurde Tyrone von ihm fort, nach hinten gezerrt. Stacy fiel auf den Teer, mit dem Gesicht voraus. Er hustete und keuchte. Luft, nur endlich Sauerstoff! Er spürte etwas Warmes aus seiner Nase laufen und seine linke Handfläche brannte wie Feuer.

„Hau ab, du Schwachkopf, bevor ich die Polizei rufe! Na, mach’ schon!“

Das war eine vertraute Stimme, die er unter anderen Umständen und zu anderer Gelegenheit vermutlich gern zu seiner Hilfe hätte kommen sehen. Jedoch in diesem Fall war sich Stacy nicht ganz schlüssig, ob er nicht besser an Tyrones Griff erstickt wäre. Nur allmählich lichtete sich der Nebel um sein Bewusstsein. Langsam hob er den Kopf, nur um auf den kalten, verständnislosen Blick seines großen Bruders zu treffen, der ihn an den Oberarmen packte und auf die Füße zerrte.

„Los, wir gehen. Du hast für heute mal wieder genug fertiggebracht! Bist du jetzt wenigstens zufrieden?“

„Aber...“ Er konnte nicht sprechen, noch immer bekam er zu wenig Luft. Er wischte sich mit dem Rücken seiner Hand das Blut weg, das ihm aus der Nase lief. „Nicht...meine Schuld...hab...nicht...angefangen...wirklich...“

„Halt einfach dein Maul!“, fuhr Byron ihn wütend an. Durch die Menge der Schaulustigen, die sich allmählich auflöste, zerrte er seinen kleinen Bruder hinter sich her, die Straße hinab, wo der Ford geparkt war. Stacy wehrte sich nicht und er machte auch keine Anstalten zu widersprechen. Sein Schädel dröhnte, was wohl an der langen fehlenden Sauerstoffversorgung lag und er ließ sich auch ohne Protest von Byron auf den Beifahrersitz stoßen. Der Ärmel seiner Jacke war das einzige, womit er versuchen konnte, das Blut aus seiner Nase aufzufangen, das noch immer dort heraus tropfte.

Sein großer Bruder ließ den Motor an und lenkte den Wagen sicher zwischen den anderen parkenden Fahrzeugen heraus. Von Zeit zu Zeit warf Stacy ihm einen fragenden Blick zu, während sie durch die Nacht fuhren – das einzige Geräusch zwischen ihnen blieb das Dröhnen das Motors. Byrons Gesichtsausdruck war nicht sehr vielversprechend, sodass er es für besser hielt, kein Wort mit ihm zu wechseln.

Die Ranch lag im Dunkeln, keine Lichter brannten mehr hinter einer Fensterscheibe, als sie in den Hof einbogen. Erleichtert atmete Stacy auf. So blieb ihm der Ärger zumindest bis zum anderen Tag erspart. Das Nasenbluten hatte aufgehört, wenn auch dafür in seinem Schädel sein Puls jetzt dröhnte.

Während sie langsam vom Wagen, den sie immer neben dem Wohnhaus parkten, zur Haustür hinüber wanderten, fragte Byron plötzlich in die Stille hinein: „Ist es wahr?“

Stacy begriff sofort, worauf er hinauswollte, hielt es jedoch für geschickter, erstmal den Ahnungslosen zu spielen: „Was?“

„Das mit dir und Molly?“ Der scharfe, durchdringende Blick aus zwei braunen Augen schien ihn durchbohren zu wollen.

Er hob die Schultern. „Wir haben uns ein paar Mal getroffen...“

Byrons Hände packten seinen Hemdkragen, schüttelten ihn. „Bist du eigentlich noch zu retten?! Eine Nutte, ja? So tief sind wir also schon gesunken?! Genügen dir deine hunderte von Verehrerinnen nicht mehr, oder was?!“

„Molly ist in Ordnung!“ Er schlug die Hände seines Bruders fort. Schon wieder! Immer diese Bevormundung, diese Erzieherei, die er an ihm versuchte! Er war bloß ein Jahr älter! Das Feuer flammte wieder einmal in ihm auf.

Fassungslos richtete Byron seinen Blick gegen den sternenklaren Nachthimmel. „Du bist...du bist...“

„Ja, was?!“ Wenn er Streit wollte – nur zu! Er war gerade in Stimmung! „Was bin ich?! Ha?!“

Sein großer Bruder presste die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammen, starrte ihn angewidert an. „Bei dir gibt es nichts! Kein Gefühl dafür, was recht und was unrecht ist, keine Verantwortung und schon gar kein Benehmen! Du bist einfach nur...das Allerletzte!“

Er trat an ihm vorbei zu den beiden Stufen, die zur Veranda hinaufführten und versäumte es aber nicht, seinen kleinen Bruder dabei absichtlich an der Schulter anzurempeln. Oben, vor der Haustür, blieb er noch einen Moment stehen, blickte zurück und spuckte dann laut und demonstrativ auf die Planken der Veranda, bevor er ihm Haus verschwand.

Stacy atmete tief durch, sehr lange, bis er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Irgendwann, da würde er sich vergessen. Eines Tages, da wäre es soweit und es kam zum ganz großen Eklat zwischen ihnen und selbst, wenn er danach der Familie verstoßen werden sollte. Der Moment rückte jedoch verdammt nahe, an dem sein Temperament mit ihm durchgehen und Byron nicht länger sein Bruder sein würde.

Das dröhnende Gefühl in seinem Schädel ließ Stacy leise stöhnend in sein Kissen zurücksinken, als wenige Stunden später der Wecker auf seinem Nachttisch laut und grausam rasselte. Sonntag, der Kirchenbesuch schwebte wieder einmal in drohender Aussicht über ihm. Er stöhnte gequält vor sich hin. Harold achtete stets streng darauf, dass seine Familie regelmäßig zum Gottesdienst erschien. Er konnte mehr als nur ungnädig sein, wenn eines seiner Kinder sich aus welchen Gründen auch immer zu weigern versuchte.

Stacy schloss noch einmal die Augen, er fühlte sich alles andere als einer solchen Veranstaltung, wie der Predigt ihres protestantischen Pfarrers gewachsen, die ausschweifend und oft über eine Stunde vor sich hin plätscherte und ihn schon in ausgeschlafenem Zustand kaum zu fesseln vermochte. Aber gut, es half nichts, sein Vater würde erst recht darauf bestehen, würde er ahnen können, was am vorigen Abend vorgefallen war.

Stacy schauderte bei der Vorstellung. Das Hämmern hinter seiner Stirn ließ nur allmählich nach und er wagte es, vorsichtig gegen das morgendliche Sonnenlicht anzublinzeln – es ging sogar halbwegs, ohne dass ihm gleich der Schädel zersprang. Vielleicht hätte er auf die letzten beiden Whiskeys mit Molly doch lieber verzichten sollen. Gestern Abend – Stacy musste grinsen. Sie war ganz einfach eine großartige Frau. Er räkelte sich bei der Erinnerung an die vergnüglichen Stunden im Hotelzimmer. Es störte ihn nicht, dass sie fast zehn Jahre älter war als er und sich auch mit anderen Männern traf. Sie war verrucht, natürlich, das wusste jeder in der Stadt, aber sie besaß Erfahrung und vor allem musste er sich bei ihr keine Gedanken wegen Heirat und Kindern oder derart Verbindlichkeiten machen, die er keinesfalls bereits war einzugehen. Das war einfach nicht ihr Lebensstil und manchmal dachte er, seiner vielleicht auch nicht. Vielleicht war er einfach nicht dazu geschaffen, eines Tages ein braver Ehemann und Vater zu sein, wie es alle von ihm erwarteten. Er wusste eigentlich überhaupt nicht so genau, was für sich und sein Leben in dieser Hinsicht gut sein könnte.

Weniger schön kehrte jetzt das in seine Erinnerung zurück, was danach geschehen war. Hoffentlich würde Byron nichts davon ausplaudern, ansonsten...die Konsequenzen wollte Stacy sich gar nicht erst ausmalen. Bisher war er immer nur wegen Schlägereien negativ aufgefallen, aber wenn innerhalb seiner Familie bekannt wurde, dass er Stammgast bei Molly wäre... Das laute Klopfen an der Tür ließ den jungen Mann zusammenzucken.

„Bist du endlich soweit? Ich will nicht wieder ewig auf dich warten müssen!“ Nur sein Vater – wer auch sonst? – brachte es fertig, schon am frühen Morgen herumzubrüllen wie ein General.

„Ja, ja“, knurrte Stacy missgestimmt und schob seine Beine aus dem Bett. ‚Ich könnte wirklich darauf verzichten’, dachte er. ‚Sogar mehr als das!’

Als er in den Spiegel über seiner Kommode blickte, erschrak er über seinen eigenen Anblick: Dunkle Ränder zeichneten sich unter seinen Augen ab und an der Stelle am Hals, wo Tyrone Clifton ihn gewürgt hatte, prangte eine blau unterlaufene Linie. Seine rechte Hand schmerzte außerdem von den beiden Schlägen, die er dem Schmied verpasst hatte. Auch seine Nase war noch ein wenig geschwollen, auch wenn er sich nicht erinnerte, weshalb sie überhaupt geblutet hatte. Nein, er sah sich wirklich außerstande für einen Kirchenbesuch.

Stacy betrat als letzter den Wohnraum, wo der Frühstückstisch gedeckt auf ihn wartete. Die einzigen beiden, die ihm keinen vorwurfsvollen Blick zuwarfen, waren seine beiden Schwestern. Sie schenkten ihm ein Lächeln und ein munteres „Guten Morgen!“, das er jedoch aufgrund seiner Kopfschmerzen kaum ertrug. Liebevoll strich er Sarah im Vorübergehen kurz durch das goldbraune Haar, bevor er sich neben seinem Vater ums Tischeck, auf seinem Stammplatz niederließ. Der Geruch des Rühreis mit Speck drehte ihm fast den Magen um, doch er bemühte sich, es zu verbergen. Er besaß noch keinen Nerv, sich – wie meistens nach diesen Tanzveranstaltungen und schon überhaupt nicht nach der gestrigen – eine Standpauke seines Vaters anzuhören.

Wortlos nahm Sarah den Teller ihres Bruders und füllte ihn. Immer wieder wanderte ihr Blick zu seinem blassen Gesicht und den rotgeschwollenen, müden Augen. Sie hatte ihn nie danach gefragt, weshalb er sich Samstagabend immer so lange in der Stadt herumtrieb, aber sie konnte es sich denken und ihr waren auch entsprechende Gerüchte zugetragen worden. Andere junge Männer und auch Byron schienen sich da wesentlich besser im Griff zu haben als Stacy und sie fragte sich, was ihn wohl dazu brachte, sich so schrecklich danebenzubenehmen, wo er doch wusste, dass ihr Vater regelmäßig einen Wutanfall deswegen bekam.

„Ich hoffe, dein Gesichtsausdruck ändert sich noch zum Positiven, bis wir bei der Kirche angelangt sind“, bemerkte Harold wie nebenbei, doch sein strenger, finsterer Blick offenbarte Stacy sehr genau, was sich hinter diesen Worten verbarg.

„Ich werde mich bemühen“, murmelte er so leise, dass sein Vater ihn kaum verstand. Ihm gegenüber saß Byron, der ihn regungslos anstarrte, als wartete er auf irgendetwas und Stacy erahnte die Zusammenhänge. Dieser Verräter!

„Hoffentlich.“ Harolds Stirn legte sich in tiefe, kritische Falten. „Es ist mehr als entrüstend zu erfahren, dass der eigene Sohn sich mit einer bestimmten Art…“ Er hüstelte unangenehm berührt, als er die gespannten, fragenden Blicke seiner Töchter spürte. „…nun, nennen wir es Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts abgibt.“

Ruckartig warf Stacy den Kopf zurück. Seine Kopfschmerzen waren vergessen. „Wieso sprichst du nicht einfach aus, was du denkst und schon weißt?! Dass ich mich regelmäßig mit einer Nu…“ Er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge und warf einen raschen Seitenblick auf seine kleinen Schwestern, die ihn ein wenig verwirrt und ahnungslos anstarrten. Sie begriffen nicht, weshalb ihr Vater und Stacy sich auf einmal stritten. Sie hatten beide keinen Schimmer, worum sich das Gespräch überhaupt drehte.

„Also, mit einer bestimmten Frau treffe!“, vollendete er schließlich. Seine blauen Augen blitzten zornig.

„Dass du dich dauernd mit irgendwelchen Mädchen triffst, ist ja nichts Neues“, bemerkte Charlotte prompt und grinste herausfordernd. „Es ist doch im weiten Umkreis bekannt, dass niemand außer dir so viele Verehrerinnen um sich scharen kann!“

Harold erstarrte, seine Miene verfinsterte sich noch mehr. „Ich glaube kaum, dass dies ein geeignetes Thema für einen Frühstückstisch am Sonntagmorgen ist!“, donnerte seine tiefe Stimme durch den Raum und erstickte jeglichen Wunsch seiner Tochter, noch mehr stichelnde Kommentare von sich zu geben. „Beeilt euch lieber, pünktlich in der Kirche zu erscheinen, wie es sich gehört!“

Byron hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen und senkte daher schnell den Kopf, damit niemand das Zucken um seine Mundwinkel bemerkte. Er konnte nicht unbedingt behaupten, dass er Schadenfreude verspürte – er hasste es, wenn sein Vater wegen seines kleinen Bruders üble Laune verbreitete. Ihm lag lediglich die Bemerkung auf der Zunge, dass Charlotte in der Hinsicht Stacy in nichts nachstand. Nur mit dem Unterschied, dass sie es nicht gleich soweit kommen ließ, dass es ihretwegen zum Streit kam.

„Nein!“, schrie Stacy plötzlich wütend und sprang auf. Er schleuderte die Serviette auf sein unberührtes Essen. Hunger verspürte er sowieso keinen. „Ich habe diese ständige Bevormundung satt! Vater, du musst endlich begreifen, dass ich nicht vorhabe, schon mit Ende zwanzig an die Leine genommen zu werden!“

„In welchem Tonfall sprichst du denn mit mir?“, brauste Harold auf und erhob sich langsam von seinem Stuhl, es wirkte beinahe wie eine Drohgebärde. Er hatte geglaubt, seinen jüngsten Sohn zumindest halbwegs gut und anständig erzogen zu haben nach Feys Tod. Dass ihm das nicht wirklich gelungen war, dämmerte ihm schon seit längerem, aber dann erfuhr er von Byron gleich am Morgen, nach dem Aufstehen, was sein zweiter Sohn sich alles zu getrauen schien. Bisher hatte er versucht, dessen unmögliches Benehmen und die ständigen Raufereien, nach denen er ihn regelmäßig am anderen Morgen beim Sheriff abholen konnte, zu ignorieren und sie als jugendliche Ausschweifungen abzutun. Doch das hier ging entschieden zu weit!

„Ich bin trotz der Tatsache, dass du dich für erwachsen hältst, noch immer dein Vater! Und ich möchte keinen Sohn, der sich zum Stadtgespräch im negativen Sinne macht!“

„Ach nein? Und was sagst du dazu, wenn mich das ganz und gar nicht stört? Ich habe meinen Spaß und nur darauf kommt es an! Ich will nicht meine besten Jahre kaputtmachen, indem ich mir die Verantwortung für eine Frau und einen Haufen schreiender Bälger aufhalse! Das reicht noch, wenn…“

Der harte Schlag gegen seine linke Wange unterbrach seinen Ausbruch. Der Schmerz schoss ihm in den ohnehin schon dröhnenden Schädel. Regungslos starrte Stacy seinen Vater mit offenem Mund an. Es lag lange zurück, dass er sich das letzte Mal eine Ohrfeige von ihm eingefangen hatte. Er schluckte, seine Wange brannte und fühlte sich an wie taub, während das Blut in seinen Gehirnwindungen schmerzend pulsierte. Beinahe noch schlimmer empfand er jedoch den triumphierenden Blick aus Byrons dunklen Augen, der ihn, ruhig auf seinem Stuhl sitzend, anlächelte, als wollte er damit sagen: ‚Was bist du bloß für ein Vollidiot!‘

Harolds Gesicht hatte sich knallrot verfärbt und seine großen, kräftigen Pranken packten die Oberarme seines Sohnes unerwartet schnell und grob.

„Setz dich hin“, zischte er leise, „und iss dein Frühstück, damit wir endlich in die Kirche fahren können!“ Seine Stimme klang warnend, sie zitterte ein wenig vor überschäumendem Zorn. Als Stacy dem Befehl nicht sofort nachkam, packte Harold ihn unsanft und warf ihn auf den Stuhl zurück.

Im Wohnraum herrschte lähmende Stille. Nur das Ticken der Standuhr machte ihnen klar, dass die Zeit unaufhörlich voranschritt und diese schreckliche Situation irgendwann vorbei sein würde. Die Stuhlfüße kratzten auf den Holzbohlen, als Sarah sich behutsam erhob. Ihre kleine, zarte Hand legte sich auf den Unterarm ihres Vaters.

„Bitte, Pa, beruhige dich“, bat sie leise. „Denk an deinen Blutdruck!“

Es dauerte noch einige Sekunden, dann setzte Harold sich auf seinen Stuhl zurück, nahm seine Gabel wieder auf und aß weiter, als wäre nichts geschehen. Auch Byron und Charlotte taten es ihm nach. Niemand sprach ein Wort und die Spannung, die in der Luft zu explodieren drohte, war kaum zu ertragen.

Stacy brauchte einige Minuten, ehe er realisieren konnte, was passiert war: Er hatte versucht, sich gegen seinen Vater aufzulehnen und war gescheitert. Hätte ihm nicht so viel an dieser Ranch gelegen, die er nicht einmal erben würde, weil er nur der Zweitgeborene war – vermutlich wäre er jetzt auf und davon und über alle Berge. Sein männlicher Stolz war zutiefst verletzt und in diesem Augenblick hasste er seinen Vater für die – wie ihm schien – ungewöhnlich strenge Erziehung, die er ihm entgegenbrachte und das noch in seinem Alter! Er war kein kleines Kind mehr! Er wusste sehr genau, was er tat und was er wollte und wenn er es mit Molly trieb, dann war das seine ganz einige, intime und private Angelegenheit, die überhaupt niemanden in seiner Familie irgendetwas anging!

Langsam richtete Stacy sich auf, als fürchtete er, sein Vater könnte doch noch die Kontrolle über sich verlieren und ihm Schlimmeres antun als nur die Ohrfeige. Er kannte seinen Vater zu gut. Mehr als einmal hatte er von ihm als Kind eine Tracht Prügel bezogen, die ihn zwei Tage lang gezwungen hatte, sich nirgends hinzusetzen, sondern die Mahlzeiten im Stehen einzunehmen. Ganz zu schweigen von den ungezählten Stunden im dunklen, finsteren, feuchten Vorratskeller hinter dem Haus, zwischen Spinnen und Eidechsen, von denen er wusste, dass sie da waren, aber die er nie hatte sehen können in dem schwarzen Loch. Unauffällig fuhr Stacy sich mit dem Handrücken über die linke Wange. Sie schmerzte noch immer und als er sich zwang, den ersten Bissen des Rühreis in den Mund zu schieben, hatte er das Gefühl, vom Stuhl zu kippen.

‚Das muss der Alkohol von gestern sein’, dachte er. Doch er zwang sich, den Teller bis zur letzten Gabel leer zu essen, auch wenn der Rest seiner Familie bereits aufgestanden war. Charlotte half Sarah den Tisch abzuräumen, während Byron sich damit entschuldigte, noch seine Haare kämmen zu müssen und seinen kleinen Bruder für die letzten Minuten vor der Abfahrt alleine mit dem schweigenden Vater im Wohnraum zurückließ.

Der Ruf des Kojoten

Подняться наверх