Читать книгу Der helle Wahnsinn nimmt kein Ende - Regina Dotzki - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1: Der unerwartete Erfolg
Drei Wochen dauerte es, bis ich die Langzeitschäden meiner Johannes-Heim-Zeit beseitigt hatte. Die Waage zeigte vier Kilogramm mehr als im Jahr davor, ein deutlicher Hinweis auf zu viele Kaffeestückchen während der Übergaben und zu wenig Bewegung in der Arbeitszeit. Noch schwieriger war es, mir den einfach strukturierten Kommandoton abzugewöhnen, den ich im Laufe meiner Tätigkeit entwickelt hatte und der in meinem Bekanntenkreis auf deutliches Missfallen stieß.
„Sie füllen jetzt diesen Antrag auf Kostenübernahme aus, klar? Können Sie schreiben? Gut! Und mit dem Antrag gehen Sie zum Sozialamt, klar? Wissen Sie, wo das Sozialamt ist? Gut! Und den Antrag geben Sie in Zimmer 117 ab, klar? Zimmer 117! Haben Sie das alles verstanden?“, hatte ich mindestens hundertmal irgendwelchen betrunkenen Gestalten meine Anweisungen gegeben, und allein diese simplen Anweisungen waren für die meisten Johannes-Heim-Bewohner schon zu kompliziert, um sie bereits beim ersten Mal begreifen zu können.
Aber nach drei Wochen waren alle Restsymptome verschwunden. Die Waage zeigte vier Kilo weniger, und ich verfügte wieder über einen differenzierten, elaborierten Sprachcode. Allmählich begann ich mich zu fragen, was ich mit meiner restlichen Lebenszeit anfangen sollte. Eine neue Stelle als Psychologin suchen? Mir wieder den ganzen Tag lang den Seelenmüll von tief gestörten Menschen anhören? Zwar besaß ich durchaus ein Faible für harmlose Verrücktheiten jenseits der gutbürgerlichen Normalität, im Johannes-Heim aber war ich zum ersten Mal mit Menschen konfrontiert gewesen, die nicht nur amüsante Marotten hatten, sondern wirklich so tiefgehend gestört waren, dass nicht einmal ihre eigenen Familien sie noch ertrugen.
Doch dann geschah etwas, mit dem ich niemals gerechnet hatte und das meine Zukunftsplanungen vorerst auf Eis legte: Ich wurde prominent. Freudig hatte ich einen Tag vor meinem Geburtstag das erste gedruckte Exemplar meines Buches in der Hand gehalten und hatte es auf meiner denkwürdigen Geburtstagsfeier stolz herumgereicht. Mein Buch war veröffentlicht. Und die ganz große Euphorie blieb aus. Was ging mich noch das Thema Sextourismus in Südostasien an? Ich hatte mir meinen Schrecken von der Seele geschrieben und war seitdem zehn Schritte weitergaloppiert. Der erste Anruf einer als trivial bekannten Tageszeitung traf mich insofern vollkommen unerwartet.
„Ich soll mal in den nächsten Tagen bei Ihnen vorbeikommen und Fotos von Ihnen machen“, sagte die junge, saloppe Männerstimme am Telefon. „Wann passt es Ihnen denn?“
„Äh“, japste ich nur wie ein verschrecktes Huhn. „Das passt mir eigentlich gar nicht.“
„Na, hören Sie!“, sagte die saloppe Stimme, „Wir wollen über Sie und über Ihr Buch berichten. Das ist doch eine super Werbung für Sie.“
Regina Dotzki, der Aufreißer des Tages! Das hatte mir gerade noch gefehlt!
„Welche Art von Fotos wollen Sie denn von mir machen?“, fragte ich mit ersterbender Stimme.
„Naja, das Übliche eben. Die Autorin in ihrem Wohnzimmer, die Autorin in ihrer Küche, Sie wissen schon. Sowas interessiert die Leute.“
Vor Schreck fiel mir der Telefonhörer aus der Hand. Wollte dieser saloppe Mensch mich etwa auf meinem 13 Jahre alten Blümchensofa, das wackelig auf durchgebogenen Dielenböden stand, und in unserer typischen schmuddeligen Wohngemeinschaftsküche ohne eine einzige Kachel und ohne ein einziges Einbauteil fotografieren, während ich stupide grinsend in irgendwelchen genauso schmuddeligen Kochtöpfen rührte? Und das interessierte die Leute? Ich war sprachlos. Komplett sprachlos.
„Sind Sie noch dran?“, fragte die Stimme besorgt, nachdem ich den Telefonhörer mit dem allergrößten Ekel wie eine tote Maus wieder vom Boden aufgepflückt hatte.
„Ja, ich bin noch dran“, ächzte ich schwach.
„Also dann: Passt es Ihnen morgen? Sagen wir gegen 11:00 Uhr?“
„Ja“, hörte ich mich zu meinem eigenen Entsetzen sagen, bevor mir der Hörer erneut aus der Hand direkt auf die Gabel fiel.
Was hatte ich nur getan, fragte ich mich entsetzt und sah mich in unserer beengten Diele um, als sähe ich sie zum ersten Mal. War ich denn verrückt geworden, einem Mitarbeiter der trivialsten Tageszeitung Deutschlands Zutritt in meine Wohnung zu gewähren? Schließlich war bekannt, dass diese Tageszeitung durch irgendwelche erfundenen Hetzkampagnen schon Menschen in den Ruin, in die soziale Isolation und in abgrundtiefe Verzweiflung getrieben hatte.
Entschlossen rief ich meine Lektorin an.
„Na, das ist doch prima!“, bemerkte sie nur hocherfreut. „Eine gute Werbung für Ihr Buch.“
„Aber von dieser Zeitung?“, fragte ich zweifelnd.
„Immerhin ist sie auflagenstark und wird von vielen Menschen gelesen. Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können!“
„Aber meine Wohnung ist alles andere als repräsentativ“, wagte ich einzuwenden. „Was soll ich denn bloß tun?“
„Nutzen Sie die Gelegenheit und räumen Sie heute schön auf! Machen Sie einen verfrühten Frühjahrsputz! Und machen Sie sich hübsch zurecht, dann wird schon alles gut gehen,“ war der optimistische Rat meiner Lektorin. Mit Sicherheit wäre sie nicht so optimistisch gewesen, wenn sie jemals meine Wohnung betreten hätte.
Marianne bekam zuerst riesengroße Augen, als sie nachmittags von einem Gerichtstermin zurückkehrte und eine blankgeschrubbte Küche mit blitzendem Herd und blitzenden Töpfen erblickte. Und wenig später bekam sie einen Wutanfall.
„Das gibt‘s doch nicht!“, rief sie aus. „Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Klatschblattreporter hierher einladen, ohne das vorher mit mir abzusprechen.“
„Der Mann hat mich überrumpelt“, gestand ich zerknirscht. „Und immerhin ist es eine gute Werbung für mein Buch, hat meine Lektorin gesagt. Und der Klatschblattreporter hat es auch gesagt.“
„Das ist ein Eingriff in meine Intimsphäre“, protestierte Marianne heftig. „Das mache ich nicht mit! Ich möchte nicht, dass dieser Mann hierherkommt und Fotos von unserer Küche macht. Womöglich will er mich gleich mitfotografieren. Meine Eltern würden vor Scham im Boden versinken, wenn sie mich in dieser Zeitung sehen. Und in alternativen Kreisen kann man sich dann auch nirgends mehr blicken lassen. Und was wird Löffel sagen? Und meine Gutachtenpatienten? Aha, werden sie alle sagen, in so einer primitiven Küche wohnt also Frau Huter, interessant!“
„Mensch, Marianne, der Mann will mich fotografieren und nicht dich!“, erinnerte ich sie. „Du kannst ja morgen nach dem Frühstück eine Stunde lang weggehen. Länger wird es bestimmt nicht dauern.“
„Wieso soll ich aus meiner Wohnung verschwinden, kannst du mir das verraten? Nein, Regina, das sehe ich überhaupt nicht ein. Geh doch einfach mit ihm in ein Café!“
„Wie soll ich denn in einem Café einen Fototermin machen?“, stöhnte ich mit wachsender Verzweiflung. „Was meinst du, was los ist, wenn der Mann in einem Café alle seine Scheinwerfer aufbaut und mich in aller Öffentlichkeit fotografiert? Nein, Marianne, ich würde sterben! Das kannst du wirklich nicht von mir verlangen!“
Schließlich einigten wir uns auf den Kompromiss, dass ich den Mitarbeiter der trivialsten Tageszeitung Deutschlands schnurstracks in mein Zimmer zu führen und die Küche nicht zu betreten habe. Dennoch sah Marianne immer noch nicht zufrieden aus.
„Nun sieh es doch mal von der positiven Seite!“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Hast du jemals unsere Küche in einem solchen blitzblanken Zustand gesehen? Ich habe vier Stunden lang geschrubbt und gewienert. Für nichts und wieder nichts!“
Aber nicht einmal diese Bemerkung konnte noch ein Lächeln auf Mariannes Züge zaubern. Missmutig verschwand sie in ihrem Zimmer, und ich seufzte tief. Es war nicht so einfach, auf einmal prominent zu sein.
Der Mitarbeiter der trivialsten Tageszeitung Deutschlands war ein erstaunlich netter, lockerer und freundlicher junger Mann.
„Oh“, lächelte er amüsiert, als er mein Zimmer betrat, „Sie wohnen wirklich in einem originellen Ambiente.“
„Es freut mich, dass Sie so viel Humor haben, um ein solches Ambiente noch als originell bezeichnen zu können“, lächelte ich grimmig zurück, und er lachte.
Professionell baute er diverse Scheinwerfer auf, und während er all seine Scheinwerfer und Ständer mit einiger Mühe auf meinem durchgebogenen Dielenboden aufbaute, plauderten wir unbefangen. Er war ein Mensch, mit dem man sofort unbefangen plaudern konnte, und er erzählte, dass er gerade von einem Fototermin in Amsterdam zurückgekehrt sei.
„Kennen Sie Amsterdam? Eine wunderschöne Stadt.“
„Ja, ich kenne Amsterdam, und ich stimme Ihnen zu: Das ist wirklich eine wunderschöne Stadt. Ich war lange nicht mehr dort. Ist es immer noch so, dass durch die Straßen Amsterdams Dutzende von Rauschgifthändlern schlendern, die nach rechts und links hinter vorgehaltener Hand: ‚Hasch, Heroin, Hasch, Heroin?‘ raunen?“
Er lachte herzlich. „Ja, das stimmt! Überall bekommt man was angeboten, an jeder Ecke, in jedem Café. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der von Amsterdam nicht bekifft wieder zurückkommt.“
„Sie auch?“, fragte ich neugierig.
„Na klar“, lachte er. „Und Sie? Haben Sie es auch schon mal probiert?“
„Natürlich!“, lächelte ich. „Keine harten Drogen wie Heroin, aber klar, Gras habe ich auch schon geraucht.“
Gelegentlich entwickelten Gespräche eine merkwürdige Eigendynamik. Auf einmal stand ein Thema im Raum, an das man vorher nicht im Geringsten gedacht hatte. Der Mitarbeiter der trivialsten Tageszeitung Deutschlands stellte mir keine einzige Frage zum Thema Sextourismus. Aber wir unterhielten uns angeregt über unsere Drogenerfahrungen. Er hatte zu diesem Thema einige amüsante Geschichten beizusteuern, und ich auch. Und immer, wenn ich auf meinem geblümten Sofa lachte, drückte er auf den Auslöser seiner Kamera. Selten war ich so unbefangen gewesen, wenn ich fotografiert wurde. Der Mann verstand sein Handwerk.
„So, das war‘s!“, meinte er schließlich. „Haben Sie vielen Dank! Hat Spaß gemacht, mit Ihnen zu arbeiten.“
„Wie, das war‘s schon?“, fragte ich überrascht. „Ich dachte, Sie wollten mir noch ein paar Fragen zu meinem Buch stellen.“
„Nein, das ist nicht mehr nötig“, lächelte er, baute seine Lampen und Ständer wieder ab und verabschiedete sich auffallend schnell.
Kreidebleich sank ich auf mein Bauernbett. Was war ich nur für ein Idiot, fragte ich mich fassungslos. Ohne Zweifel war ich der Idiotischste aller Idioten. Weshalb nur hatte ich einem Mitarbeiter der trivialsten Tageszeitung Deutschlands ausgerechnet von meinen Drogenerfahrungen erzählt? War ich denn vollkommen verrückt geworden? Wie hatte ich auch nur einen Moment lang annehmen können, dass diese Tageszeitung an dem Inhalt meines Buches interessiert war? Mein Buch behandelte das Thema Sextourismus äußerst kritisch und verteilte an die Kunden des Sextourismus geradezu Rundumschläge. Und die Leser dieser Tageszeitung waren die klassischen Kunden des Sextourismus. Weshalb sollte diese Tageszeitung ihren eigenen Lesern in den Rücken fallen? Nein, sie war natürlich nicht daran interessiert, ihren Lesern in den Rücken zu fallen. Sie war ausschließlich daran interessiert, die Autorin dieser unerfreulichen Lektüre zu demontieren. Und es war ihr erstaunlich schnell gelungen, ein Thema zu finden, mit dem sie die Autorin dieses unbequemen Buches demontieren konnte. Der Mann war äußerst geschickt vorgegangen, und ahnungslos und naiv war ich in die Falle getreten. Was würde morgen in dieser Zeitung stehen? Was würden morgen einige Millionen Bundesdeutsche über mich lesen dürfen? Überschriften wie: Drogenabhängige Psychologin will deutschen Männern Urlaub vermiesen?
Drei Tage lang wagte ich mich morgens nicht mehr aus dem Haus.
„Marianne“, bat ich an jedem dieser drei Tage mit aschgrauem Gesicht beim Frühstück, „kannst du bitte diese Zeitung kaufen?“
Marianne kaufte die Zeitung, die ich drei Tage lang mit zitternden Händen überflog, aber so aufmerksam ich auch suchte, ich las nichts von einer drogenabhängigen Psychologin, die deutschen Männern den Urlaub vermiesen wollte.
„Du bist selbst schuld!“, kommentierte Marianne gnadenlos. „Was lässt du dich auch mit Leuten von dieser Zeitung ein? Jeder aufgeklärte Mensch weiß doch, was dabei herauskommt.“
Am vierten Tag sah ich mein lachendes Konterfei in schwarzweiß, kombiniert mit einer halbseitigen und erstaunlich wohlwollenden Buchbesprechung. Inbrünstig dankte ich im Stillen dem diskreten Fotografen, der die Inhalte unserer Plaudereien nicht publik gemacht hatte. Wer hätte schon so viel Diskretion bei einer solchen Zeitung vermutet?
Der Stein war ins Rollen gekommen. Einer Zeitung nach der anderen waren meine Recherchen und Überlegungen zum Thema Sextourismus Buchbesprechungen wert, und ich erschrak regelrecht, als ich zum ersten Mal in einer Tübinger Buchhandlung mein Buch direkt neben der Kasse stapelweise liegen sah. Ich nahm ein Exemplar in die Hand und betrachtete es nachdenklich. Es war merkwürdig, sein eigenes Buch in der Hand zu halten, dieses Buch, das ich Seite für Seite fast auswendig kannte, so oft hatte ich darin herumkorrigiert.
„Dieses Buch geht weg wie die warmen Semmeln“, bemerkte die ältere Dame an der Kasse. „Wollen Sie es kaufen?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich verlegen.
„Ich kann es Ihnen wirklich empfehlen. Es ist sehr interessant und wunderbar geschrieben. Ich habe es selbst mit großem Interesse gelesen.“
Mein Gesicht rötete sich allmählich vor Verlegenheit. Selbst eine ältere Kassiererin las mein Buch, und das mit großem Interesse?
„Ich verrate Ihnen was“, fuhr sie leutselig fort. „Die Autorin soll in Tübingen leben. Stellen Sie sich das mal vor! Vielleicht bin ich ihr ja schon mal auf dem Wochenmarkt begegnet.“
Mein Gesicht nahm nun endgültig die Farbe einer Tomate an. Ich sagte nicht: „Sie steht vor Ihnen.“ Nein, ich sagte es nicht. Sprachlos starrte ich diese ältere Dame an, die sich durch die simple Tatsache geehrt fühlte, dass sie in der gleichen Kleinstadt wie ich lebte und somit die einmalige Möglichkeit hatte, mir zufällig auf dem Wochenmarkt begegnen zu können.
„Na, wollen Sie es nun kaufen oder nicht?“, endete sie resolut, und ich kaufte das Buch, obwohl ich noch 20 Freiexemplare davon zuhause liegen hatte. Es war nicht so einfach, auf einmal prominent zu sein.
Nach den Zeitungen folgten die Radiosender. Beim ersten Radiointerview am Telefon war ich so aufgeregt, dass ich bei irgendeiner Frage zu stottern begann und schließlich völlig den Faden verlor. Ich atmete tief durch und fragte so lässig wie möglich: „Sind wir auf Sendung?“
„Nein, wir sind nicht auf Sendung“, war die beruhigende Antwort. Radiojournalisten waren stets locker, munter und freundlich. „Wir schneiden das Ganze nachher noch.“
„Na, Gott sei Dank!“, lachte ich erleichtert. „Ich habe nämlich gerade völlig den Faden verloren. Was hatten Sie mich eben gefragt?“
Und ich beendete das Interview gelassen und professionell.
„Aber das Gestotter vorher, das schneiden Sie doch raus, oder?“, fragte ich etwas ängstlich nach dem Interview.
„Natürlich schneiden wir das raus“, war die lockere, muntere und freundliche Antwort.
Im Laufe eines Monats hatte ich bereits eine erstaunliche Professionalität im Umgang mit Radiosendern und Zeitungen entwickelt. Auch zu Lesungen wurde ich eingeladen. Es verging kaum ein Tag, an dem das Telefon nicht klingelte, und ich war hin- und hergerissen zwischen der Verlegenheit darüber, dass man um meine Person so viel Aufhebens machte, und der Freude darüber, dass man um meine Person so viel Aufhebens machte.
Meine Bekannten reagierten auf meine plötzliche Prominenz sehr unterschiedlich, denn sie wurden alle von der ganzen Entwicklung genauso unerwartet überrollt wie ich.
„Hättest du jemals gedacht, dass sich dieses Buch so gut verkaufen wird?“, fragte Marianne kopfschüttelnd.
„Nein, das hätte ich niemals gedacht“, antwortete ich ehrlich.
„Ich glaube, ich muss es auch mal lesen“, beschloss Marianne, und ich knirschte mit den Zähnen. Marianne hatte sich in der ganzen Zeit, während ich an diesem Buch geschrieben hatte, nicht eine Minute lang für dieses Buch interessiert. Und nun wollte sie es auf einmal lesen, weil jeder es las.
Alle meine Bekannten, die mich seinerzeit für verrückt erklärt hatten, weil ich monatelang ohne zwingende Notwendigkeit nur an meinem Schreibtisch verbracht hatte, wollten auf einmal dieses Buch lesen.
Die unerwartete Prominenz spaltete meinen Bekanntenkreis in zwei Gruppen: Die eine Gruppe freute sich über meinen Erfolg und war stolz auf mich, gelegentlich behandelte sie mich mit einer etwas unterwürfigen Bewunderung, die mich mehr beschämte als erfreute. Und die andere Gruppe freute sich nicht über meinen Erfolg und war erfüllt von schlecht getarntem Neid.
„Du hast einfach mehr Glück als Verstand“, bemerkte Brigitte, die stets etwas griesgrämige norddeutsche Freundin von Winfried. „Das Buch ist miserabel, aber es kommt wohl dem Geschmack der Masse entgegen.“
„Im Grunde hast du dieses Buch doch nur für deine Mutter geschrieben“, mutmaßte Marianne. „Du hast dich immer danach gesehnt, dass deine Mutter dich endlich liebt und stolz auf dich ist. Gib es doch wenigstens zu!“
Psychologen wussten, womit sie andere Menschen treffen konnten.
Es gab nur wenige Beziehungen, die sich nach dem unerwarteten Erfolg meines Buches nicht veränderten. Hierzu gehörte nicht Marianne. Marianne hatte sich eindeutig dem Lager der Neider angeschlossen und attackierte mich immer häufiger in heftiger und unfairer Weise. Und sie war leider nicht die Einzige. Die massive Ablehnung, auf die ich gelegentlich stieß, traf mich genauso unerwartet wie der Erfolg des Buches, und sie enttäuschte, verletzte und verunsicherte mich so sehr, dass ich an einem Abend sogar mit den Tränen kämpfte.
An diesem Abend drangen Marianne und Brigitte mit bohrenden Fragen in mich ein. Offensichtlich waren sie entschlossen, mich endlich zu „knacken“, wie es im Psychojargon hieß. Mit psychologischem Scharfsinn und Logik unterstellten sie mir neurotische Motive für das Verfassen dieses Buches, die etwas mit der Beziehung zu meiner Mutter zu tun haben sollten, mit der niemals vollständig erfüllten Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung. Vielleicht war tatsächlich ein wahrer Kern an ihren Vermutungen, denn sonst hätte ich wohl nicht mit den Tränen kämpfen müssen. Vielleicht war ich tatsächlich so neurotisch, dass ich annahm, ich könnte nur mit außergewöhnlichen Leistungen in den Menschen, die ich liebte, auch eine Liebe für mich wecken.
Winfried hatte sich die ganze Diskussion kopfschüttelnd angehört, und unerwartet kam er mir zu Hilfe. „Nun lasst doch Regina endlich in Ruhe! Sie hat mit einer ungeheuren Disziplin an diesem Buch gearbeitet und sich wirklich damit abgemüht, das weiß ich. Und wenn sie jetzt Lorbeeren dafür erntet, dann hat sie die auch verdient, finde ich. Schließlich hat sie ja auch Einiges dafür getan. Worum geht es euch denn hier? Wenn das Buch ein Flop geworden wäre, dann würde kein Hahn danach krähen, und dann würden wir diese Diskussion hier gar nicht führen. Aber das Buch ist kein Flop geworden. Und das ist es doch, was euch eigentlich nicht passt. Fasst euch lieber an die eigenen Nasen! Schreibt doch erst mal selbst ein Buch, bevor ihr urteilt! Zeigt doch, dass ihr es besser könnt! Aber nein, das ist euch zu mühsam! Der einfachere Weg ist, Regina niederzumachen. Hört endlich auf damit!“
„Aber das Buch ist der letzte Schrott, Winfried, das weißt du doch selbst. Es ist völlig unwissenschaftlich, völlig polemisch, völlig trivial, wie Regina nun einmal ist. Und wenn du siehst, in welcher Zeitung die erste Buchbesprechung stand, das sagt doch alles!“, entgegnete die aufgebrachte Brigitte und endete mit den finsteren Worten: „Sie ist ja noch nicht mal in der Lage, ihr Privatleben auf die Reihe zu kriegen.“
Natürlich, dieses Argument durfte nicht fehlen! Die abscheuliche Zeit während der Beziehung zu Burkhard war die einzige Zeit gewesen, in der ich mir diesen Satz von Brigitte nicht immer wieder anhören musste. In dieser Zeit hatte mir merkwürdigerweise kein Mensch unterstellt, dass ich nicht in der Lage war, mein Privatleben auf die Reihe zu bekommen. Und in dieser Zeit war das tatsächlich der Fall gewesen.
„Lenk nicht ab!“, grinste Winfried. „Schreib erst selbst ein Buch, bevor du urteilst! Und wenn du dein Buch geschrieben hast, treffen wir uns hier wieder und urteilen darüber. Mal sehen, wie dir das gefällt!“
Ich war Winfried sehr dankbar für seinen Beistand, denn ich konnte einfach nicht begreifen, weshalb ich mit wachsender Prominenz so heftig von Menschen attackiert wurde, bei denen ich es niemals für möglich gehalten hatte. Gut, Brigitte hatte offensichtlich noch eine Rechnung mit mir offen, weil ich mich vor Jahren einmal zu der fehlenden Erotik in ihrer Beziehung zu Winfried geäußert hatte, was sie mir vermutlich nie verziehen hatte.
„Frauen!“, sagte Winfried wenig später. „Frauen sind wirklich wie Krähen. Sie hacken sich gegenseitig die Augen aus. Ich glaube, Frauen haben es schwerer, den Erfolg einer anderen Frau anzuerkennen. Männer sind da anders. Sie rivalisieren offener, aber sie erkennen Erfolg und Leistung bei anderen Männern auch viel bereitwilliger an. Warum soll man einem Menschen, der mit einer Sache Erfolg hat, immer gleich neurotische Motive unterstellen? Wenn das wirklich stimmen würde, dann hätte jeder erfolgreiche Mensch eine ungestillte Sehnsucht nach Bestätigung und Liebe in sich. Vielleicht haben wir alle diese Sehnsucht in uns, die uns zu Leistungen antreibt. Warum auch nicht? Was wäre eine Welt ohne Sehnsucht, die nur aus befriedigten Bedürfnissen besteht? Eine solche Welt wäre ohne Literatur, ohne Musik, ohne Kunst und ohne Wissenschaft.“
Ratlos sah ich mich in der vertrauten Runde unseres Küchentisches um. Marianne, Brigitte und ich hatten gemeinsam studiert, wir hatten gemeinsam in Seminarräumen gesessen, wir hatten gemeinsam Referate gehalten, wir hatten nächtelang über psychologische Theorien und über unsere eigenen Lebensgeschichten diskutiert, wir hatten gemeinsam unsere Diplomprüfungen überstanden und uns gegenseitig in all den Jahren immer wieder Mut gemacht und unterstützt. Niemals wäre einer von uns auf die Idee gekommen, in der schwierigen Zeit, als wir uns alle an unseren Schreibtischen mit unseren Diplomarbeiten herumquälten, unseren Leidensgenossen zu unterstellen, dass sie sich nur aus dem Grunde mit ihren Diplomarbeiten herumquälten, weil sie eine ungestillte Sehnsucht nach der Liebe ihrer Mutter in sich trugen.
Was war nur mit uns passiert? Dank unserer jahrelangen Freundschaft wussten diese Menschen an unserem Küchentisch nahezu alles von mir. Sie kannten meine sensiblen Punkte, und sie wussten, womit sie mich verletzen konnten. In all den Jahren hatten wir gelegentlich heftig debattiert, aber wir hatten dieses Wissen übereinander niemals dazu missbraucht, um uns wirklich ernsthaft wehzutun. Was war nur mit uns passiert? Wir hatten keine gleichberechtigten Beziehungen mehr, das war passiert. Marianne schrieb nach wie vor mit mäßigem Erfolg und Honorar ihre Schuldfähigkeitsgutachten für Löffel, und Brigitte schrieb nach wie vor mit mäßigem Erfolg und Honorar ihre Sorgerechtsgutachten. Und ausgerechnet ich wagte es, auf die Überholspur zu gehen und rasant zu beschleunigen.
Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass mir dieses Vergehen noch am ehesten nachgesehen wurde, wenn ich mich zerknirscht und voller Selbstzweifel gab und die Verlegenheit über dieses unerwartete öffentliche Interesse an meiner Person, das ich zweifellos empfand, ungeschönt zum Ausdruck brachte. Aber es wurde mir nicht nachgesehen, dass ich die Freude, die ich ebenfalls über dieses unerwartete öffentliche Interesse an meiner Person empfand, ungeschönt zum Ausdruck brachte. Offensichtlich durfte eine Frau wie ich nach einem unerwarteten Erfolg nur vor Scham im Boden versinken und bescheiden versichern, dass dieser Erfolg peinlich und vollkommen unverdient war, aber sie durfte auf keinen Fall auch nur die kleinsten Anzeichen von Freude zeigen.
Ich hatte meine Lektion begriffen. Aber ich hielt mich nicht an diese unausgesprochenen Regeln. Sei wie das Veilchen im Moose, so sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein! Dieser Satz hatte schon in meinem Poesiealbum gestanden, und schon als Kind hatte ich ihn nicht begriffen. Welche halbwegs vernünftige Frau wollte schon als bescheidenes, sittsames und reines Veilchen vor sich hin kümmern, wenn sie die Möglichkeit hatte, zur stolzen Rose zu erblühen?
Wenn sich ein Freund nicht neidlos am Erfolg des anderen mitfreuen konnte, dann war es kein wirklicher Freund, dachte ich, und ich buchte rigoros einige Freundschaften, die ich für Freundschaften gehalten hatte, unter die Kategorie nicht entwicklungsfähige Bekanntschaften ab. Nicht entwicklungsfähige Bekanntschaften hatten einen Vorteil: Man hatte so viel innerliche Distanz zu ihnen, dass sie einen nicht wie Freunde ernsthaft verletzen konnten. Brigitte hatte ich ohnehin nie als echte Freundin empfunden, dafür waren wir zu unterschiedlich. Aber Marianne gehörte von nun an in diese Kategorie, Marianne, mit der ich so viele Jahre lang in engster Vertrautheit zusammengelebt hatte. Es war nicht so einfach, auf einmal prominent zu werden.
Trotz wachsender Professionalität verursachte mir mein erster Fernsehauftritt doch eine gewisse Nervosität. Ein Mann namens Norbert Groß vom Bayerischen Fernsehen hatte mir am Telefon locker, munter und freundlich wie alle Journalisten mitgeteilt, dass er mich gerne als Studiogast in seine Sendung „Aus aller Welt“ einladen wolle. Erleichtert atmete ich auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand von meinen Bekannten oder von meiner Familie an einem Samstagabend im Bayerischen Fernsehen die Sendung „Aus aller Welt“ ansehen würde, war ausgesprochen gering. Am Samstagabend gingen meine Bekannten in aller Regel aus, und meine Familie sah sich triviale Unterhaltungsshows an. Ich konnte es also wagen. Und wenn ich kläglich versagte, so würde es wenigstens keine nennenswerten Zeugen für dieses Versagen geben.
Vergnügt ging ich in die Stadt und kaufte mir einen in Türkistönen schimmernden Seidenblazer mit verschwommenen Blumen in Blautönen, der mir hervorragend stand. Dieser Blazer kombiniert mit einem schwarzen Minirock und einem schwarzen Top war wie geschaffen für einen glanzvollen Fernsehauftritt. An einem sonnigen Februartag machte ich mich äußerst vergnügt auf den Weg nach München. Was mochte wohl alles hinter den Kulissen der flimmernden Mattscheiben stecken? Ich war entschlossen, es herauszufinden. Für ein zwölfminütiges Interview würde ich sieben Hunderter bekommen. Ein solches Honorar für zwölf lächerliche Minuten war wirklich mehr als fürstlich.
Locker, munter und freundlich wurde ich um 14:00 Uhr von Norbert Groß begrüßt. Die Sendung sollte um 20:15 Uhr beginnen, aber Norbert Groß hatte mich gebeten, bereits um 14:00 Uhr zu erscheinen, um mich kennenzulernen und um die Fragen mit mir abzusprechen.
„Ich kann Ihnen ja nicht einfach irgendwelche Fragen stellen“, hatte er locker, munter und freundlich ins Telefon gelacht. „Nachher sitzen Sie bei irgendwelchen dummen Fragen von mir ganz überrascht und sprachlos im Studio, und dann haben wir den Salat. Es ist es eine Livesendung. Da können wir nichts schneiden.“
Eine Livesendung, wie aufregend! Norbert Groß war mir auf Anhieb sympathisch. Er war ein großer, massiger Mann Mitte 40 mit wachen, blitzenden Augen und einem unternehmungslustigen Lächeln.
„Haben Sie schon Mittag gegessen, Frau Dotzki? Nein? Na, dann lassen Sie uns mal zu einem netten, kleinen Italiener hier in der Nähe gehen und eine Kleinigkeit essen! Dabei lässt es sich auch besser reden als hier im Büro.“
„Gute Idee!“, lächelte ich mit Herzklopfen in meinem türkisschimmernden Blazer zurück.
Norbert Groß lud mich zum Essen ein, es war nicht zu fassen! Jeder Mensch in Deutschland kannte Norbert Groß. Er moderierte ein erfolgreiches Auslandsjournal. Norbert Groß persönlich lud mich zum Essen ein! Wenn ich das in meinem Club erzählte! Aber leider war ich mir nicht mehr so sicher, welche Reaktionen mich erwarten würden, wenn ich derartige Dinge in meinem Club erzählte. Vielleicht war es sogar besser, derartige Dinge nicht mehr allzu häufig in meinem Club zu erzählen.
Der Italiener war in der Tat nett und klein. Mehrere Personen an den Tischen warfen Norbert Groß und mir verstohlene Blicke zu und tuschelten angeregt. Norbert Groß persönlich lud mich zum Essen ein. Himmel, war das alles aufregend!
Beim Anblick der Preise auf der Speisekarte schluckte ich entsetzt. Wie hoch mochte das Spesenbudget von Norbert Groß für die Bewirtung von Studiogästen sein, fragte ich mich, und mir wurde bewusst, dass ich trotz meiner 30 Lebensjahre von vielen Dingen auf dieser Welt nicht die geringste Ahnung hatte.
„Ich werde wohl einen kleinen Salat nehmen“, seufzte ich tapfer und bescheiden.
„Hören Sie doch auf!“, lachte Norbert Groß. „Es gibt nichts Schlimmeres für einen Mann als gut zu essen, während die Frau gegenüber nur an einem kleinen Salat knabbert.“
„Sie meinen, mehr als ein kleiner Salat ist – drin?“, fragte ich hoffnungsfroh.
„Drin? Wo drin?“
„Ich meine, in Ihrem Spesenbudget.“
Norbert Groß lachte schallend. „Sie sind ja wirklich lustig! Wo kommen Sie denn her? Aus dem Schwabenländle, was? Na klar ist das drin. Was glauben Sie, was da alles drin ist! Ein italienischer Vorspeisenteller, Saltimbocca, und, wenn Sie noch können, ein Tiramisu als Nachtisch ist mindestens drin. Sie können bestellen, was Sie wollen, wirklich! Es ist durchaus – drin.“
Er lachte in sich hinein, und ich lachte mit. Das Eis war gebrochen, und wir verbrachten vergnügte Stunden bei dem netten, kleinen Italiener. Mit Norbert Groß ließ es sich hervorragend schlemmen und plaudern. Mit echtem Interesse fragte er nach meinen Erfahrungen in Südostasien, er lachte viel, aber er zeigte auch Betroffenheit und Anteilnahme.
„Danke, ich möchte keinen Wein!“, sagte ich erschrocken, als der der Kellner eine Literkaraffe Weißwein auf den Tisch stellte. „Schließlich brauche ich nachher noch einen klaren Kopf.“
„Na, kommen Sie, ein Gläschen kann nicht schaden! Es beruhigt. Sie sind doch sicher ein bisschen aufgeregt, oder?“
„Nein danke, wirklich nicht! Ein Gläschen Wein mitten am Tag beruhigt mich nicht, es macht mich nur todmüde. Und Sie werden es bitter bereuen, wenn Sie mich zu diesem Gläschen Wein überreden und ich Ihnen nachher im Studio etwas vorschnarche.“
Norbert Groß lachte. „Gut, dann muss ich eben den ganzen Wein allein trinken. Schade!“
Ich staunte. Wollte Norbert Groß am Nachmittag vor seiner Sendung tatsächlich einen ganzen Liter Wein trinken? Norbert Groß trank tatsächlich am Nachmittag vor seiner Sendung einen ganzen Liter Wein, der ihm jedoch kaum anzumerken war. Er war ein hervorragender Interviewer. Ich erzählte ihm alle möglichen Episoden aus meiner Zeit in Südostasien, wir diskutierten angeregt, und wir lachten gemeinsam Tränen. Nur ein einziges Mal sah er einen kleinen Moment lang ein wenig besorgt aus. Es war der Moment, in dem ich ihm erzählte, dass er das erste Fernsehinterview meines Lebens mit mir führen würde.
„Ich habe keinen Zweifel daran, dass Sie das hervorragend hinbekommen werden“, meinte er nach diesem kurzen Moment wieder locker, munter und freundlich. „Wenn Sie heute Abend auch nur halb so amüsant und unterhaltsam sind wie jetzt, dann wird die Sendung ein voller Erfolg, das weiß ich. Sie sind die ideale Interviewpartnerin. Ich bin mir sicher, dass Sie heute Abend keine Fehler machen werden.“
„Welche Fehler kann man denn als Interviewpartner machen?“, fragte ich mit leichter Beklommenheit. Allmählich wurde aus dem Spaß Ernst. In wenigen Stunden würde ich mit diesem Mann vor laufenden Kameras stehen.
„Sie werden diese Fehler nicht machen, das weiß ich“, beruhigte er mich. „Aber es gibt Leute, die zu interviewen ist wirklich eine Katastrophe. Da fragen Sie etwas, und diese Leute sagen überrascht: Wieso fragen Sie das denn, das habe ich Ihnen doch heute Nachmittag schon alles erzählt? Oder Sie fragen etwas, und diese Leute sagen: Das hatten wir aber nicht abgesprochen, dass Sie das fragen! Oder Sie fragen etwas, und diese Leute gehen auf die Frage überhaupt nicht ein. Oder sie reden endlos und sind überhaupt nicht mehr zu stoppen. Oder diese Leute gucken sich im Studio um und fragen: In welche Kamera muss ich denn nun gucken? Solche Leute sind gerade bei Livesendungen schwierig. Wir können nichts schneiden. Es gibt schwierige Interviewpartner, aber ich habe doch so viel Erfahrung, um mit Sicherheit sagen zu können: Sie gehören nicht dazu.“
Norbert Groß war ein Profi. Geschickter und diplomatischer hätte er einem blutigen Fernsehneuling keine Anweisungen geben und diesem blutigen Fernsehneuling gleichzeitig Mut machen können.
„So, nun sind Sie aber dran“, lächelte ich nach zwei Stunden. „Jetzt wissen Sie so viel von mir, und ich weiß nichts von Ihnen. Eine solche Art der Kommunikation ist für mich sehr ungewohnt.“
In der nächsten halben Stunde erfuhr ich, dass Norbert Groß sich gelegentlich fragte, warum er „diesen Scheiß“, und damit meinte er seine Tätigkeit beim Bayerischen Fernsehen, seit 20 Jahren überhaupt mache. Der Journalismus sei kurzlebig, die Menschen redeten selbst bei aufregenden Themen maximal zwei Tage darüber, bevor sie diese Themen wieder vergaßen. Der Journalismus sei zudem oberflächlich, ein Journalist habe immer nur wenig Zeit, um sich in eine Thematik einzuarbeiten, und habe somit nur oberflächliche Kenntnisse zu allen möglichen Themen, aber niemals wirklich profunde Kenntnisse.
„Jeder Job hat seine Vor- und Nachteile“, meinte ich. „Es gibt wohl keinen Beruf, in dem man alle seine Interessen und Bedürfnisse verwirklichen kann. Aber ich glaube, trotz aller Nachteile haben Sie die richtige Entscheidung getroffen. Sie sind ein ganz hervorragender Interviewer. Man kann mit Ihnen reden, als ob man Sie seit 20 Jahren kennt.“
„Oh, danke“, lächelte er erfreut.
Außerdem erfuhr ich, dass Norbert Groß verheiratet war und dass der Sohn seiner Frau ihn zu dieser Heirat überredet hatte.
„Der Kleine hängt an mir, das können Sie sich nicht vorstellen! Ich liebe ihn über alles. Er sieht mir sogar ähnlich. Wir haben noch ein weiteres Kind bekommen, aber die Beziehung zu meinem eigenen Sohn ist eine ganz andere. Für ihn bin ich selbstverständlich, für ihn war ich von Anfang an da, aber für den Großen bin ich nicht selbstverständlich. Er sagt immer, er hat sich mich als Vater ausgesucht. Irgendwann kam er an und sagte: ‚So, ihr heiratet jetzt! Ich will endlich, dass du mein richtiger Papa wirst.‘ Und dann haben wir geheiratet. Ich hatte früher immer eine Scheu vorm Heiraten, eine Scheu davor, mich lebenslang festzulegen. Ohne den Jungen hätte ich nicht geheiratet, das kann ich mit Sicherheit sagen. Was hatte ich früher für Frauengeschichten! Und ich muss gestehen, ich war nicht immer nett zu den Frauen, mit denen ich zusammen war. Es war mir völlig egal, wenn ich einer Frau wehtat. Aber diesem Jungen, der ausgerechnet mich als Vater wollte, dem konnte ich einfach nicht wehtun.“ Er war ernst geworden. „Sind Sie auch verheiratet, Frau Dotzki?“
„Nein“, lächelte ich. „Aber ich weiß, wovon Sie reden. Ich kenne selbst diese Ängste sehr gut, diese Scheu, sich lebenslang festzulegen. Jede Entscheidung, die man für etwas trifft, beinhaltet gleichzeitig eine Entscheidung gegen alles andere. Und jede Entscheidung, die man für einen Menschen trifft, beinhaltet gleichzeitig eine Entscheidung gegen alle anderen Menschen. Und eine Heirat, meine Güte, das ist eine lebenslange Entscheidung gegen alle anderen Menschen. Das sollte man sich wirklich gut überlegen!“
„Das haben Sie schön gesagt, genau das ist es“, lächelte Norbert Groß. „Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
„Hat Sie jemals ein Kind in sein Herz geschlossen? Voll und ganz in sein Herz geschlossen? Wollte Sie jemals ein Kind als Mutter haben? Und zwar nur Sie?“
„Nein, das habe ich bislang noch nicht erlebt“, antwortete ich überrascht.
„Wenn Sie dieses Gefühl einmal erleben, dann werden Sie zum Sklaven dieses Kindes. Und Sie werden sogar gerne und freiwillig zum Sklaven dieses Kindes. Sie werden alles dafür tun, die Hoffnungen dieses Kindes nicht zu enttäuschen. Dann werden Sie sogar Ihre Scheu vor einer lebenslangen Bindung verlieren. Denn Sie haben eine lebenslange Bindung, die Bindung zu diesem Kind. Es ist ein tolles Gefühl. Sie werden es sicher auch mal erleben.“
Norbert Groß erstaunte mich. Wer hätte gedacht, dass in diesem großen, massigen, gerne lachenden Koloss eine so tiefe Liebe für ein vaterloses Kind steckte?
„Welche Bindung ist denn stärker?“, fragte ich neugierig. „Die zu Ihrer Frau oder die zu diesem Kind?“
„Ich hätte meine Frau nicht geheiratet, wenn der Junge nicht darauf bestanden hätte“, war die verblüffend ehrliche Antwort. „Ich kann nichts gegen meine Frau sagen. Sie ist nett, sie ist attraktiv, und sie war früher selbst Journalistin und hat insofern Verständnis dafür, dass Journalisten nur selten zuhause sind. Aber ich hätte sie mit Sicherheit nicht geheiratet. Schließlich gibt es viele nette, attraktive und verständnisvolle Frauen. So dachte ich zumindest früher. Aber diesen Jungen, den gibt es nur einmal.“
„Sie haben selbst ohne Vater aufwachsen müssen, was?“ Mein psychologischer Forschereifer war erwacht.
Norbert Groß sah mich überrascht an. „Ja, ich musste selbst ohne Vater aufwachsen, woher wissen Sie das? Ich weiß, wie das ist. Ich weiß, wie es ist, wenn man eine Mutter hat, die außer einem selbst keinen anderen Menschen in ihrem Leben hat und die einen mit all der Liebe in ihrer Seele erdrückt.“
Mein psychologischer Forschereifer war befriedigt. Norbert Groß war ein klassischer Fall von Bindungsangst resultierend aus einer klammernden, alleinerziehenden Mutter. Er war nicht in der Lage, Frauen differenziert wahrzunehmen. Er hatte Angst vor ihren Forderungen und ihrer Bedürftigkeit. Aber das Kind, das er selbst einmal gewesen war, dieses Kind konnte er ohne Angst lieben und ihm all das geben, was er selbst vermisst hatte.
„Oh, Frau Dotzki, es ist 16:30 Uhr! Die Zeit mit Ihnen ist wirklich gerast. Ich muss zurück in den Sender. Ich habe noch kein Wort von meiner Moderation geschrieben.“
Eilig brachen wir auf. Ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlte Norbert Groß die gigantische Rechnung.
„Sie sind eine ganz erstaunliche Frau“, meinte er auf dem Rückweg nachdenklich. „Wie haben Sie es eigentlich geschafft, einem wildfremden Menschen in so kurzer Zeit so viele persönliche Dinge zu entlocken? Dabei sollte ich doch eigentlich Sie interviewen und nicht umgekehrt.“
„Ich habe kein Faible für eine One-way-Kommunikation. Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, dann will ich nicht nur über mich reden, sondern auch etwas darüber wissen, was für ein Mensch mein Gegenüber ist.“
„Da sind Sie aber die absolute Ausnahme“, bemerkte er erstaunt. „Die meisten meiner Interviewpartner interessieren sich nicht im Geringsten für mich. Sie interessieren sich nur für sich selbst.“
„Psychologen und Journalisten scheinen gewisse Gemeinsamkeiten zu haben“, stellte ich fest. „Ich kann mir vorstellen, dass gerade Sie in Ihrem Beruf häufig mit Narzissten konfrontiert sind, die sich nur um sich selbst drehen.“
„Narzissten nennen Sie solche Leute?“ Er lachte. „Na, dann gibt es in meinem Leben und in dem ganzen Sender erschreckend viele Narzissten. Ich dachte immer, es gibt nur solche Leute. Na, von Ihnen kann ich wirklich noch etwas lernen. Was macht denn ein Psychologe mit Narzissten?“
„Narzissten gehen so gut wie nie in Therapie. Zum Glück, denn sie sind kaum therapierbar. Sie umgeben sich lieber mit Leuten, die sie niemals kritisieren und die sie für den Größten halten.“
„Interessant! Ich muss Ihnen gestehen, ich habe noch nie eine Psychologin interviewt. Halten Sie mich denn auch für einen Narzissten? Jetzt mal ehrlich!“
„Nein, Sie sind kein Narzisst“, lächelte ich. „Sie sind nur ein harmloser Fall von Bindungsangst. Aber kein Grund zur Panik! Sie haben sich intuitiv den besten Therapeuten gesucht, den es für Sie gibt: diesen Jungen. Er ist das Beste, was Ihnen passieren konnte.“
Norbert Groß sah mich skeptisch von der Seite an und kämpfte mit einem Lachanfall. Schließlich prusteten wir beide los. Auf seinem Rückweg in den Sender kehrte er noch in einem Spirituosengeschäft ein und kam mit drei Flaschen Sekt wieder zurück. Ein weiteres Mal staunte ich, aber ich sagte nichts dazu. Vielleicht war es beim Fernsehen üblich, dass man nach einer gelungenen Sendung mit der ganzen Belegschaft ein Glas Sekt trank.
In den Gemäuern des Bayerischen Fernsehens zog sich Norbert Groß in sein luxuriöses Büro zurück und überließ mich der Obhut einer reizenden Praktikantin, die mir den 20-minütigen Filmbeitrag zum Thema Sextourismus vorführte, der vor unserem Interview gezeigt werden sollte. Der Film war vom Text her durchaus kritisch, die Bilder aber zeigten halbnackte, blutjunge, barbusige und hüftschwenkende Südostasiatinnen. Mit einem anderen Text hätte man aus diesem Filmmaterial auch einen Werbefilm für Sexurlaub in Südostasien machen können. Angeregt diskutierte ich mit der reizenden Praktikantin, und die Zeit verging wie im Fluge. Um 19:00 Uhr, so erfuhr ich von der reizenden Praktikantin, sollten wir in die Maske, um fernsehgerecht geschminkt und frisiert zu werden. Ich fühlte mich pudelwohl beim Bayerischen Fernsehen und freute mich geradezu darauf, mit Norbert Groß im Fernsehstudio weiter zu plaudern.
Um 18:30 Uhr schlug meine gute Stimmung augenblicklich um. Norbert Groß kam aus seinem Büro. Er kam nicht aus seinem Büro, er wankte aus seinem Büro. Norbert Groß hatte deutliche Schwierigkeiten zu gehen. Norbert Groß hatte deutliche Schwierigkeiten zu sprechen. Norbert Groß hatte ein hochrotes Gesicht. Norbert Groß hatte glasige Augen. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Norbert Groß war sturzbetrunken. Auf seinem Schreibtisch standen die drei leeren Sektflaschen. Norbert Groß hatte am Nachmittag vor seiner Sendung einen Liter Wein und drei Flaschen Sekt getrunken. War der Mann denn wahnsinnig geworden? Wieso musste er ausgerechnet am Tage meines ersten Fernsehinterviews einen Liter Wein und drei Flaschen Sekt trinken?
Fassungslos starrte ich ihn an. Mit dem merkwürdigen Lächeln aller Betrunkenen, für die die Welt in Ordnung war, wankte er mit unsicheren Schritten auf mich zu. Bei den letzten beiden Schritten stolperte er und stützte sich mit beiden Händen an meinen Schultern ab.
„Frau Dotzki“, lallte er dicht vor meinem Gesicht und war kaum noch zu verstehen, „Frau Dotzki, jetzt weiß ich auch, was ich Sie als erstes frage. Ich werde Sie als erstes fragen: Sagen Sie mal, war Ihnen das nicht unangenehm da mit den ganzen Männern in Südostasien?“
Von der Alkoholfahne wurde mir augenblicklich schlecht. Warum nur wurde ich seit meiner Zeit im Johannes-Heim immer wieder mit betrunkenen Männern konfrontiert? Es war wie ein Karma, das ich nicht mehr loswurde und das mich mit tiefster Verzweiflung erfüllte. Und dieses Mal war es weitaus schlimmer als im Johannes-Heim. Die ganze Fernsehnation Deutschlands durfte beim Herumzappen an diesem Samstagabend Zeuge werden, wie mich ein volltrunkener und kaum noch der Sprache mächtiger Moderator interviewte. Die Peinlichkeit war kaum noch zu überbieten.
Glücklicherweise hatte ich keinem Menschen von diesem Fernsehinterview erzählt. Marianne hatte ich erzählt, dass ich nach München zu einer Lesung eingeladen worden war. Aber was würde passieren, wenn die heutige Samstagabendshow zu langweilig wurde? Wer würde herumzappen? Würde meine Mutter von ihrem Fernsehsessel aus herumzappen und dann rufen: „Ah, Raimund, schau mal, das ist doch unser Reginchen! Nein, unser Reginchen im Fernsehen! Einen hübschen Blazer hat sie an, was? Den muss sie sich neu gekauft haben. Endlich kauft das Kind sich anständige Kleidung! Aber was ist das denn nur für ein Kerl, mit dem sie da redet? Pfui, der Kerl ist ja völlig betrunken! Mein Gott, Raimund, Regina redet mit einem Betrunkenen! Wie kann sie nur?“
Würde Armin beim Herumzappen nicht die Kinnlade herunterfallen, und würde Maria nicht sagen: ‚Ach, schau mal, Armin, ist das nicht diese merkwürdige Ex-Freundin von Burkhard? Was macht die denn im Fernsehen? Und ist das nicht Norbert Groß? Wieso redet Norbert Groß mit der Ex-Freundin von Burkhard? Aber was ist denn nur mit Norbert Groß los? Der Mann ist ja völlig betrunken! Tja, vielleicht ist diese Ex-Freundin von Burkhard ja so ein Typ Frau, die man nur in betrunkenem Zustand ertragen kann.‘
Die Peinlichkeit war kaum noch zu überbieten. Das alles durfte nicht geschehen. Das alles durfte auf gar keinen Fall geschehen. Es war 18:45 Uhr. Norbert Groß hatte somit noch eineinhalb Stunden Zeit, um noch ein wenig auszunüchtern. Im Umgang mit Betrunkenen verfügte ich mittlerweile über ein wenig Kompetenz.
Ernst und starr sah ich ihm in die Augen. „Sie gehen jetzt sofort zur Toilette, klar?“, sagte ich langsam und eindringlich.
„Zur Toilette?“ Ein betrunkenes Gelächter war zu hören. „Keine schlechte Idee!“
„Und in dieser Toilette stecken Sie sich den Finger in den Hals und halten Sie dann Ihren Kopf unter kaltes Wasser, klar?“
Ich sprach mit ihm wie mit einem obdachlosen Alkoholiker, der sich unnötigerweise kurz vor einem Vorstellungsgespräch betrunken hatte. Es schien Norbert Groß nicht aufzufallen, dass ich mit ihm sprach wie mit einem obdachlosen Alkoholiker. Dafür sahen mich die Praktikantin und die Sekretärin mit ungläubigen Blicken an.
„Was soll ich tun?“, lallte er erstaunt.
„Los, gehen Sie schon! Kotzen Sie wenigstens den letzten Rest Alkohol heraus, bevor er auch noch in Ihr Blut kommt. Und dann halten Sie den Kopf unter den Wasserhahn. Und ich warne Sie: Wenn Sie nicht halbwegs nüchtern diese Toilette wieder verlassen, dann drehe ich Ihnen den Hals um.“
Der Sekretärin und der Praktikantin standen die Münder offen. Aber Norbert Groß wankte tatsächlich in Richtung Toilette.
„Sie hat gesagt, ich soll meinen Finger in den Hals stecken. Sie hat gesagt, ich soll meinen Kopf unter den Wasserhahn halten. Haha, das hat sie wirklich gesagt! Und es ist okay, dass sie es gesagt hat. Es ist völlig okay. Ich mache das sogar. Ich mache doch alles, was meine Studiogäste von mir verlangen“, lallte er, bevor er kichernd in der Toilette verschwand.
„Ist er immer so?“, fragte ich die Sekretärin und die Praktikantin.
„Er ist immer so“, antwortete die Sekretärin seufzend. „Vor jeder Sendung ist er so. Er hat immer Lampenfieber. Und dann trinkt er. Aber in der Sendung merkt man ihm das nicht an.“
„Das merkt doch jeder Blinde, dass dieser Mann völlig betrunken ist“, entgegnete ich ungläubig.
„Glauben Sie mir, bis zur Sendung hat er sich wieder gefangen. Wir machen das schon seit Jahren mit. Es ist immer eine Zitterpartie. Aber bis jetzt ging es immer wieder gut.“
„Irgendwann wird es nicht mehr gut gehen“, orakelte ich weise, und ich sollte Recht behalten.
„Er ist so ein netter Mann“, seufzte die Praktikantin. „Aber damit hat er wirklich ein Problem. Er will es nur nicht wahrhaben.“
Ein Alkoholiker ohne Einsicht, hurra! Wie viele Alkoholiker ohne Einsicht hatte ich im Johannes-Heim schon erlebt? Es gab nichts Schlimmeres als ein Alkoholiker ohne Einsicht. Und solange sie in ihrem sozialen Umfeld noch einigermaßen funktionierten, wurden sie von diesem Umfeld geschont und geschützt.
Gegen 19:00 Uhr wankte Norbert Groß leichenblass und mit nassen Haaren aus der Toilette. Hoffentlich übergab er sich während der Sendung nicht noch ein weiteres Mal, dachte ich bei seinem erbärmlichen Anblick.
„Sie müssen jetzt beide in die Maske“, säuselte die Sekretärin und schob uns mit einem Stoßseufzer der Erleichterung in den Aufzug. Ihr Job war für heute erledigt. Meiner dagegen fing leider gerade erst an.
„Scheiße!“, murmelte Norbert Groß im Aufzug und sah mich mit einem leichten Anflug von Panik an. „Ich bin betrunken.“
Allmählich schien er zu begreifen, in welcher Situation wir steckten.
„Ja, Sie sind betrunken“, meinte ich resigniert. „Versuchen Sie bitte, sich zusammenzunehmen, ja? Das ist mein erstes Fernsehinterview. Ich habe mich so sehr darauf gefreut.“
„Ich verspreche Ihnen, dass ich mich zusammennehmen werde. Aber keine Angst! Ich mache diesen Job schon seit ein paar Jahren. Und bisher ging immer alles gut.“ Er tätschelte leicht meine Wange. „Kopf hoch! Ich werde mich zusammennehmen. Aber Sie müssen sich auch zusammennehmen, okay?“
In der Maske war Norbert Groß wie umgewandelt. Charmant plauderte und lachte er mit der Maskenbildnerin, die uns einpuderte, schminkte und sogar aus meinen wilden Locken eine kunstvolle und haltbare Frisur schuf. Die Luft war im Keller heiß und stickig, und der Alkoholgeruch verursachte mir Übelkeit. Im Studio erging es mir nicht viel besser. Das Studio war ein kleiner, kahler, fensterloser Kellerraum, möbliert mit einem Tisch und zwei Stühlen. Unzählige Scheinwerfer und Kameras standen um die kleine Sitzgruppe herum. Der Aufnahmeleiter erschien und gab Norbert Groß die letzten Anweisungen.
„Sie brauchen sich um all die Kameras hier überhaupt nicht zu kümmern“, sagte der Aufnahmeleiter freundlich zu mir. „Konzentrieren Sie sich nur auf das Interview! Wir werden Sie immer im Bild haben, solange Sie nicht aufstehen und im Raum herumlaufen. Alles klar?“
„Alles klar“, lächelte ich schwach.
Es wurde ernst. Es war 20:00 Uhr. Und auf einmal begriff ich, dass diese ganze Episode keine amüsante Lebenserfahrung war, über die man hinterher in gemütlicher Runde lachen konnte. Es wurde wirklich ernst. In einer Viertelstunde würden sich vor den Augen einer ganzen zappwütigen Fernsehnation all diese Kameras hier auf mich richten, und die ganze zappwütige Fernsehnation würde die Möglichkeit haben, jeden Unsinn, den ich von mir gab, zwischen Salzstangen und Kräckern zu kommentieren. Bei dem Gedanken brach mir auf einmal der kalte Schweiß aus. Es war unerträglich heiß und stickig in diesem Kellerstudio unter all den Scheinwerfern. Norbert Groß und ich saßen schweigend auf unseren Stühlen.
„Noch zehn Minuten“, schreckte mich der Lautsprecher aus meiner Übelkeit auf.
Noch zehn Minuten, um Gottes Willen, dachte ich mit zunehmender Panik. In zehn Minuten würde die ganze zappwütige Fernsehnation Deutschlands die Gelegenheit haben, mich bei der größten Blamage meines Lebens zu erleben. Ich kannte die Symptome, ich kannte sie genau. Oft genug hatte ich sie während meiner Pubertät erlebt, in der ich zu schnell gewachsen war, und danach nur noch in Extremsituationen. Aber dies war eindeutig eine Extremsituation. Ich kannte die Symptome. Ich kannte sie ganz genau. Zuerst trat der kalte Schweiß auf die Stirn, und der Kopf wurde leer. Dann begann es, in den Ohren zu dröhnen. Dann setzte der Schwindel ein. Und wenn ich dann nicht augenblicklich an die frische Luft kam oder mich auf den Fußboden legte, fiel ich in Ohnmacht. Bitte nicht auch noch das, flehte ich in tiefster Verzweiflung meinen Körper an. Die Fernsehkatastrophe des Jahres war perfekt. Ein volltrunkener Moderator interviewte eine kollabierende Psychologin zum Thema Sextourismus.
„Noch acht Minuten“, dröhnte es aus dem Lautsprecher.
Ich atmete tief ein. „Ich muss mal eben an die frische Luft“, hauchte ich kraftlos.
„Das geht jetzt nicht, Frau Dotzki“, meinte Norbert Groß. „Sie können in einer halben Stunde alles machen, was Sie wollen, Sie können an die frische Luft und Purzelbäume schlagen, wenn Sie wollen. Aber jetzt müssen Sie auf Ihrem Stuhl sitzen bleiben. In acht Minuten sind wir auf Sendung.“
In meinen Ohren rauschte es so sehr, dass ich seine Worte kaum noch verstand. Ich sank in meinem Stuhl zusammen. „Es tut mir leid, aber es geht nicht. Ich bin kurz vorm Kreislaufkollaps. Und wenn ich jetzt nicht sofort an die frische Luft komme, dann kippe ich hier vom Stuhl. Ehrlich!“
„Noch sieben Minuten“, dröhnte es aus dem Lautsprecher.
Norbert Groß‘ besorgtes Gesicht drehte sich vor meinen Augen.
„Mein Gott, Mädchen!“, murmelte er erschüttert. „Nimm dich zusammen!“
Einige dienstfertige Geister eilten mit Eiswürfeln ins Studio und rieben mir damit die Schläfen und den Nacken ein. Wie lieb sie alle waren! Wie lieb und besorgt! Aber alles Eis auf dieser Welt nutzte nichts mehr. Die dienstfertigen Geister, das Studio, das entsetzte Gesicht von Norbert Groß, die Kameras, die Scheinwerfer, die ganze Welt drehte sich vor meinen Augen. Immer weiter sank ich in meinem Stuhl zusammen.
„Noch sechs Minuten“, gab der Lautsprecher unbarmherzig bekannt.
Der Aufnahmeleiter kam eilig in Studio gerannt.
„Ich glaube, wir machen nur acht Minuten Interview und keine zwölf Minuten“, raunte er Norbert Groß zu und sah mich argwöhnisch von der Seite an. „Ich glaube, zwölf Minuten steht sie nicht durch.“
„Ich stehe auch keine acht Minuten durch. Ich stehe das Ganze nämlich überhaupt nicht durch“, ächzte ich mit letzter Kraft. Ich wollte nur noch aus diesem heißen, stickigen Studio heraus. Aber ich war in einem Zustand, in dem ich es nicht einmal mehr bis zur Tür des Studios geschafft hätte.
„Noch fünf Minuten“, dröhnte der Lautsprecher.
Noch fünf Minuten bis zur größten Blamage meines Lebens! Warum konnte ich nicht einfach sterben?
„Mensch, Regina, nimm dich zusammen!“, rief Norbert Groß. Wieso duzte mich Norbert Groß auf einmal? Sein Gesicht fuhr vor meinen Augen Karussell. „Regina, kannst du mich noch hören?“ Seine Stimme klang blechern und wie aus weiter Ferne.
„Ja“, hauchte ich schwach.
„Hör mir genau zu, Mädchen, ja?“, hörte ich diese eindringliche Stimme. „Und mach genau, was ich dir sage, ja? Du nimmst jetzt diesen Kugelschreiber, ja? Hast du ihn fest in der Hand? Halte ihn so fest du kannst! Und jetzt drücke die Mine rauf und runter! Schaffst du das? Drücke die Mine rauf und runter! Konzentriere dich nur darauf, wie du diese Mine rauf- und runterdrückst. Denk an nichts anderes, nur daran, dass du diese Mine rauf- und runterdrücken musst. Na siehst Du! Geht doch! Super, Mädchen! Du schaffst es!“
„Noch zwei Minuten“, dröhnte der Lautsprecher, und ich wurde noch um eine Spur blasser.
„Hör nicht hin!“, sagte die eindringliche Stimme sanft. „Konzentriere dich nur darauf, dass du diese Kugelschreibermine drückst. Nichts anderes ist wichtig. Du machst das wirklich gut.“
Waren wir schon auf Sendung? Würde mich Norbert Groß auf Sendung nicht zum Thema Sextourismus interviewen, sondern mir vor den Augen einer zappwütigen Fernsehnation eine Lektion darin erteilen, wie man Kugelschreiberminen herunterdrückte?
„Noch eine Minute“, dröhnte der Lautsprecher.
Nein, wir waren nicht auf Sendung, noch nicht.
„So, und jetzt setz dich gerade hin! Du schaffst es, ich weiß es.“
Wie unter Hypnose setzte ich mich gerade hin. Ich war in einem Zustand, in dem ich alles gemacht hätte, was diese eindringliche Stimme mir befahl.
„Noch 30 Sekunden“, dröhnte der Lautsprecher.
„So, und jetzt gibst du mir den Kugelschreiber wieder, ja? Nimm stattdessen diese Büroklammer! Du kannst sie auch in der Hand drücken, das fällt nicht so auf.“
Norbert Groß nahm mir den Kugelschreiber aus der Hand und drückte mir eine Büroklammer zwischen die Finger. Und dann sah er lächelnd in eine Kamera, an der ein roter Punkt leuchtete, und sagte mit weicher, freundlicher Stimme: „Guten Abend, meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie bei der heutigen Sendung ‚Aus aller Welt‘ begrüßen zu dürfen. Und ich freue mich, Ihnen heute Abend einen ganz besonderen Studiogast vorstellen zu dürfen: Regina Dotzki.“
Die Kamera mit dem roten Punkt schwenkte auf mich, und später auf dem Videoband, das Norbert Groß mir freundlicherweise überließ, sah ich ein trotz aller Schminke kreidebleiches, verkrampft lächelndes Gesicht, dem der Schrecken noch in den Augen stand.
Die Sekretärin sollte übrigens Recht behalten. Auf dem Videoband stellte ich später zu meiner Überraschung fest, dass kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, diesen gelassenen, freundlich und amüsant plaudernden Moderator als betrunken einzuschätzen.
„Regina Dotzki, Sie sind Psychologin, richtig?“, lächelte er mich freundlich an.
„Ja“, lächelte ich gequält zurück und war erfüllt von tiefem Staunen. Hatte ich tatsächlich Ja gesagt? Ich war nicht kollabiert. Ich konnte wieder sprechen. Laut und vernehmlich hatte ich Ja gesagt. Ein Wunder war geschehen!
„Und jetzt haben Sie eine ganz tolle Geschichte gemacht. Sie waren ein Jahr in Südostasien, und Sie haben ein Buch über Sextourismus geschrieben, nicht wahr?“
„Ja“, lächelte ich, und dieses Lächeln war schon weitaus entspannter. Dieses Ja klang nicht nur laut und vernehmlich, es klang geradezu jubelnd.
„Darüber werden wir uns gleich weiter unterhalten. Zum Einstieg in dieses heikle Thema hat unser Korrespondent einen Film vorbereitet.“
Und dann lief der Film, ich sah es in einem kleinen Fernseher. Das Wunder war geschehen. Vor laufenden Kameras hatte ich tatsächlich zweimal Ja gesagt. Überglücklich strahlte ich Norbert Groß an, der mit einem tiefen Stoßseufzer in seinen Stuhl zurückfiel.
„Puh, Mädchen, das war knapp! Das war verdammt knapp!“
Die Maskenbildnerin kam angerannt, tupfte Norbert Groß und mir den Schweiß von der Stirn und mir tonnenweise Rouge auf die bleichen Wangen, während er mir zulächelte: „Das lief doch prima, was? Geht‘s jetzt wieder besser?“
Norbert Groß musste ein unverbesserlicher Optimist sein, wenn er der Meinung war, dass eine Sendung mit einem Interviewpartner, der in der Lage war, zweimal Ja zu sagen, prima lief.
„Ja, es geht mir tatsächlich wieder besser“, strahlte ich, immer noch zutiefst erstaunt über dieses Wunder, das geschehen war. „Wie haben Sie das bloß hingekriegt? Ich stand wirklich kurz vor einem Kreislaufkollaps. Aber die Idee mit dem Kugelschreiber war absolut genial. Damit haben Sie mich gerettet. Ich danke Ihnen so sehr! Glauben Sie mir, das ist mir alles ziemlich peinlich. Normalerweise bin ich ein recht disziplinierter Mensch und neige nicht dazu, so ein hysterisches Theater zu machen. Es tut mir wirklich furchtbar leid.“
„Sie sind nicht die einzige Person, die unter Lampenfieber leidet“, beruhigte er mich. „Da habe ich schon ganz andere Dinge erlebt. Das ist ganz normal, das geht jedem so, selbst gestandenen Profis. Das braucht Ihnen wirklich nicht peinlich zu sein.“
„Sie behalten das für sich, ja?“, bat ich ernst. „Zum Glück hat es außer uns beiden und ein paar Ihrer Mitarbeiter keiner mitgekriegt.“
„Gut, wenn Sie darauf bestehen, dann behalte ich das natürlich für mich“, lächelte er. „Aber machen Sie sich keine Gedanken! Ich habe Sie gerettet, und Sie haben mich gerettet.“
„Wieso habe ich Sie gerettet?“, fragte ich verblüfft.
„Na, Sie haben mir doch vorhin geradezu befohlen, auf die Toilette zu gehen.“ Er lachte. „Und das war ein super Vorschlag. Ich fühle mich jetzt wieder topfit. Sie auch?“
Ich nickte lächelnd. Norbert Groß hatte ein Wunder vollbracht. Was für ein netter Mensch er doch war! Er hatte zwar ein Alkoholproblem, aber dennoch schloss ich ihn ins Herz.
Mein erstes Fernsehinterview hätte schöner nicht sein können. Norbert Groß und ich plauderten und lachten, er stellte mir kluge Fragen, und ich gab kluge Antworten. Es gab nicht das Geringste an diesem Interview auszusetzen. Es war ernst, es war klug, es war unterhaltsam, es war amüsant, es war spannend, es informierte, und es machte nachdenklich. Die zwölf Minuten gingen schnell vorbei, und Norbert Groß ging zum nächsten Thema über.
„Ganz klasse gemacht, Mädchen!“, grinste er zufrieden, als der nächste Filmbeitrag lief. „Wenn Sie wollen, können Sie jetzt aus diesem Studio verschwinden. Sie haben Feierabend. Und ich muss leider noch ein bisschen arbeiten. Aber verschwinden Sie bitte nicht ganz! Ich hoffe, Sie werden noch mit uns auf diese gelungene Sendung anstoßen. Es war Ihr erstes Fernsehinterview, und Sie haben es wie ein absoluter Profi gemacht. Sie können wirklich stolz auf sich sein.“
Überglücklich strahlte ich ihn an. „Ich habe es nur Ihnen zu verdanken, dass das Ganze noch so einen glücklichen Ausgang genommen hat. Solange ich lebe, werde ich Ihnen das nicht vergessen. Ehrlich!“
Es war vorbei. Es war alles vorbei. Wider Erwarten hatte ich keinen Kreislaufkollaps bekommen, und der Moderator hatte wider Erwarten nicht nur betrunken vor sich hin gelallt. Ich hatte mein erstes Fernsehinterview überstanden, und ich hatte es bestens überstanden. Wenn das kein Grund zum Feiern war!
Es war keine schlechte Idee gewesen, das stickige Studio zu verlassen. Ich machte mich auf die Suche nach der Praktikantin, die meine Handtasche an sich genommen hatte. Auf der Suche nach ihr geriet ich in einen Raum mit viel Technik und großen Fenstern, die einen freien Blick ins Studio erlaubten. Norbert Groß‘ Stimme dröhnte in dem Raum. Vier Männer sahen mich grinsend an.
„Na, das war ja ‘ne Zitterpartie, was?“, lachte der eine.
„War das erste Mal bei Ihnen, was?“, lachte ein anderer, als ob ich gerade unter ihren Augen auf scheußlichste Art und Weise defloriert worden wäre.
Auch diese vier Männer waren Zeugen meines dramatischen Zusammenbruchs geworden. Wie peinlich! Nun gut, ich würde diese vier lachenden Bayern niemals in meinem Leben wiedersehen. Kühl erkundigte ich mich nach dem Verbleib der Praktikantin mit meiner Handtasche.
„Ich bring Sie hin“, bot sich einer der Männer an. „Nehmen Sie‘s uns nicht übel, aber der Job hier ist echt lustig. Es gibt Tage wie dieser, an denen lachen wir uns einfach nur schlapp.“
„Das glaube ich Ihnen gerne“, meinte ich kühl.
Er führte mich in einen weiteren Raum mit großen Fenstern, die einen freien Blick ins Studio erlaubten. Wie viele Räume mochte es beim Bayerischen Fernsehen geben, die einen Blick ins Studio erlaubten? Vom Studio aus hatte ich keinen Menschen außer Norbert Groß und den Kameramann gesehen. Auch in diesem Raum dröhnte die Stimme von Norbert Groß. Zu meinem Entsetzen waren in diesem Raum etwa 25 Personen anwesend, die mich alle stumm und mitleidig ansahen.
„Oh, Mann, Sie haben uns vielleicht leidgetan!“, meinte die Praktikantin mit meiner Handtasche, die mitten unter ihnen saß.
„Es war so furchtbar, das mitanzusehen und Ihnen nicht helfen zu können“, meinte eine andere in empathischem Tonfall.
„Wir haben so mit Ihnen mitgezittert. Aber Norbert Groß hat das toll hinbekommen mit Ihnen, was?“
„Ja, Norbert Groß versteht es wirklich, eine Wohnzimmeratmosphäre zu zaubern.“
„Diese Idee mit dem Kugelschreiber! Das hat er doch neulich auch schon mit dem Außenminister gemacht, den er interviewen sollte, wisst ihr noch? Der doch glatt eine Minute vor der Sendung zum Ausgang rannte, weil er angeblich auf die Toilette musste.“
„Und die Maskenbildnerin hat ihn buchstäblich wieder zurückgeschleift“, erinnerte sich lachend ein anderer.
„Und der Kerl saß auf seinem Stuhl und drückte wie verrückt auf den Kugelschreiber. Wie ein Idiot drückte er auf diesen Kugelschreiber, immer wieder. Unser Außenminister! Aber das heute, das war fast noch besser.“
Mit offenem Mund stand ich da. Wer um Himmels Willen waren alle diese Menschen? Voyeure, die gut dafür bezahlten, wie im Kino die Qual anderer Menschen zu beobachten? Aber dieses Kino war Wirklichkeit gewesen. Hatte das Bayerische Fernsehen es wirklich nötig, seine Finanzen durch Voyeure aufzubessern? Es waren keine Voyeure. Es waren 25 Studenten der Filmakademie, die ebenfalls Zeugen meines peinlichen Kreislaufkollapses geworden waren.
„Haben Sie noch meine Handtasche?“, fragte ich mit ersterbender Stimme die reizende Praktikantin.
Norbert Groß rief nach der Sendung unter Ausschluss jeglichen Publikums als erstes seine Mutter und als zweites seine Frau an. Und als drittes ließen Norbert Groß, die reizende Praktikantin, zwei weitere Redakteure der Auslandsabteilung des Bayerischen Fernsehens und meine Wenigkeit sich in bester Stimmung bei dem netten, kleinen Italiener nieder. Nach überstandenen Aufregungen war mir stets nach Lachen zumute. Und die Aufregungen an diesem denkwürdigen Tag waren besonders dramatisch gewesen. Ich hatte allen Grund zum Lachen. Norbert Groß und ich warfen uns die Stichworte nur noch zu, und wir lachten ohne Ende. Der Rest der Crew konnte sich unserem Gelächter nicht entziehen. Es war eine fröhliche, wenn nicht zu sagen feuchtfröhliche Runde.
„Sagen Sie, Frau Dotzki, was machen Sie eigentlich, wenn Sie gerade keine dramatischen Fernsehauftritte haben?“, fragte Norbert Groß nach dem fünften Glas Wein. Es war unglaublich, wie viel Alkohol dieser Mann vertragen konnte.
„Ich bin seit sechs Wochen arbeitslos.“
„Arbeitslos? Sie?“
„Ja, arbeitslos, ich! Ich habe im letzten Jahr in einem Heim für Obdachlose gearbeitet, es war eine befristete Stelle, und jetzt bin ich arbeitslos.“
Er lachte amüsiert. „Was ist das nur für eine Frau? Erst zieht sie ein Jahr lang durch südostasiatische Bordelle, und dann arbeitet sie in einem Heim für Obdachlose. Sie haben wirklich Schneid, das muss man Ihnen lassen. Und was wollen Sie als nächstes machen? Eine Expedition zum Nordpol, um das Liebesleben der Eskimos zu erforschen?“
„Mal sehen“, grinste ich.
„Sie wären eine hervorragende Journalistin“, meinte Norbert Groß auf einmal.
„Ich bin aber Psychologin“, erinnerte ich ihn.
„Sie wären eine hervorragende Journalistin, doch, das wären Sie. Sie haben Schneid, Sie haben Mut, Sie trauen sich an heikle Themen ran, Sie können auch kritische Situationen meistern, Sie können hervorragend schreiben, und im Interview eben haben Sie gezeigt, dass Sie komplexe Zusammenhänge kurz und knapp auf den Punkt bringen können. Und Sie können Leute erstaunlich schnell dazu bringen, Ihnen Persönliches mitzuteilen. Doch, Sie haben alle Eigenschaften, die eine gute Journalistin braucht. Wollen Sie bei mir anfangen zu arbeiten?“
Beinahe fiel mir das Sektglas aus der Hand. Am Tisch war es totenstill geworden. Jeder sah mich an. Der Mann hatte an diesem Tag einen Liter Wein und drei Flaschen Sekt getrunken, und derzeit befand er sich bei seinem sechsten Glas Wein, beruhigte ich mich. Der Mann war zweifellos in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit.
„Ich bin Psychologin und keine Journalistin“, lächelte ich freundlich. „Danke für das nette Angebot! Aber ich kann doch keine Filme drehen. So etwas habe ich nie gelernt.“
„Dann lernen Sie es, es ist nicht schwer. Sie müssen auch gar nicht selbst drehen. Sie ziehen mit einem Kameramann durch die Gegend und sagen zu ihm: ‚Dreh dies und dreh das!‘ Und dann gucken Sie sich das Material an, lassen es zusammenschneiden, und dann machen Sie einen Text dazu. Es ist wirklich nicht schwer. Sie können das, ich weiß es. Sie müssen es nur wollen.“
Völlig verblüfft sah ich ihn an. Meinte der Mann wirklich, was er da sagte? Bei einem solchen Promillestand konnte ein Mensch unmöglich meinen, was er sagte.
„Ich könnte Sie mir sehr gut als Journalistin für frauenspezifische Auslandsthemen vorstellen“, endete Norbert Groß mit einem weinseligen Lächeln.
„Das ist doch nicht Ihr Ernst“, meinte ich zweifelnd.
„Es ist mein voller Ernst. Ich habe zwar schon ein paar Weinchen intus, aber Sie können mir glauben: So ein Angebot mache ich nicht, wenn ich es nicht ernst meine. Ich bin lange genug im Geschäft, um ein Talent zu erkennen. Und Sie haben Talent. Sie haben sogar verdammt viel Talent.“
Was gab es dazu noch zu sagen? Ich wusste aus Erfahrung, dass es nicht den geringsten Sinn hatte, mit betrunkenen Menschen zu diskutieren.
„Ich werde es mir überlegen“, sagte ich verlegen.
„Was gibt es da noch zu überlegen?“, lachte Norbert Groß. „Diese Frau sagt einfach, sie will es sich noch überlegen. Habt ihr sowas schon mal gehört? Ich mache ihr so ein Angebot, und sie will es sich noch überlegen. Mensch, ich glaube, Sie wissen gar nicht, was Sie eben für ein Angebot bekommen haben! Wissen Sie eigentlich, wie viele Frauen vor mir auf die Knie fallen würden für ein solches Angebot? Wissen Sie eigentlich, wie viele Frauen mir schon angeboten haben, für ein solches Angebot mit mir ins Bett zu gehen? Und immer sage ich nein. Und Ihnen mache ich ohne Wenn und Aber ein solches Angebot, einfach weil ich denke, dass Sie dafür geboren sind, und Sie sagen, Sie wollen es sich überlegen? Sie haben mir noch nicht einmal angeboten, mit mir ins Bett zu gehen.“
Von daher wehte also der Wind! Alle Personen in dem netten, kleinen Italiener gaben sich nicht mehr die geringste Mühe, so zu tun, als ob sie unserem Gespräch nicht atemlos folgen würden. Alle Personen an unserem Tisch und alle Personen an den anderen Tischen sahen mich aufmerksam an. Norbert Groß hatte mir soeben ein Angebot gemacht, und alle Personen in dem netten, kleinen Italiener waren gespannt auf meine Antwort. Es war so still geworden, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
„Mit Sicherheit haben Sie es nicht nötig, auf solche Methoden zurückgreifen zu müssen, um eine Frau in Ihr Bett zu bekommen“, lächelte ich mein nachsichtigstes und mütterlichstes Lächeln, und alle Personen in dem netten, kleinen Italiener atmeten nach dieser diplomatischen Antwort hörbar auf.
„Nein, natürlich habe ich das nicht nötig“, bestätigte Norbert Groß lachend und rief in die Runde: „Oder habe ich das nötig, Leute?“
„Nein!“, riefen alle Anwesenden in dem netten, kleinen Italiener unisono.
Bei Norbert Groß‘ siebtem Glas Wein verabschiedete ich mich. Der Tag war lang und aufregend genug gewesen. Und immerhin musste ich noch mit dem Zug zurück nach Tübingen fahren.
„Gehen Sie doch in ein Hotel und fahren Sie erst morgen nach Hause!“, schlug Norbert Groß vor.
Ich überlegte nicht lange. Möglicherweise würde Norbert Groß darauf bestehen, mich bis ins Hotel zu bringen, möglicherweise würde ich ihn dort nicht mehr loswerden, und möglicherweise würde er gekränkt reagieren, wenn ich ihn doch loswurde. Einen potenziellen Arbeitgeber sollte man nicht allzu sehr verärgern. Und ich hatte keinesfalls vor, mit Norbert Groß den Rest dieser aufregenden Nacht zu verbringen.
„Nein danke“, lächelte ich freundlich. „Dann würde ich ja die Hälfte meines Honorars gleich wieder loswerden.“
„Unsere Schwäbin!“, lachte er und klopfte sich vergnügt auf die Schenkel. „Wisst ihr, Leute, was sie gesagt hat, als ich sie heute Mittag zum Essen eingeladen habe? Sie hat sich einen kleinen Salat bestellt, weil sie der Meinung war, mehr sei in unserem Spesenbudget nicht drin.“
Die restlichen Gäste des kleinen, netten Italieners, die mit Interesse unser Tischgespräch verfolgten, glucksten vergnügt.
„Natürlich können Sie auf Kosten des Senders hier ins Hotel gehen“, endete er großzügig.
„Nein danke!“, wiederholte ich mich. „Es ist ja nicht so weit. Das schaffe ich ohne Probleme. Trotzdem, vielen, vielen Dank für diesen unvergesslichen und aufregenden Tag! Und danke, dass Sie mich heute gerettet haben“, fügte ich leise hinzu. „So genial wie Sie hat mich noch kein Mann vor einer drohenden Ohnmacht bewahrt. Diese Geschichte werde ich sicher noch meinen Enkeln erzählen.“
„Fahren Sie vorsichtig!“, rief Norbert Groß mir noch mit deutlich schwerer Zunge nach. „Ich will doch meine neue Mitarbeiterin nicht gleich wieder verlieren!“
Der Mann war in einem Zustand, in dem ihn jedes Gericht der Welt für schuldunfähig und unzurechnungsfähig erklären würde, dachte ich die ersten 100 Kilometer in mich hineinlachend. Die Worte eines Mannes, der sich jenseits der 3-Promille-Grenze bewegte, waren zweifellos nicht ernst zu nehmen. Aber angenommen, wagte ich kurz vor Stuttgart mit Herzklopfen zu denken, nur mal ganz hypothetisch den unwahrscheinlichen Fall angenommen, dass Norbert Groß tatsächlich noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen war: Sollte ich einen Versuch als Journalistin für frauenspezifische Auslandsthemen wagen? Was hatte ich schon zu verlieren? Nichts hatte ich zu verlieren. Warum sollte ich mir einen weiteren Job als Mülleimer für tief gestörte Menschen suchen, wenn ich in der Welt herumreisen und Filme drehen konnte? Aber die Wahrscheinlichkeit hierfür war ausgesprochen gering, sagten mir mein Realismus und meine Erfahrung im Umgang mit Betrunkenen. Ich wusste mittlerweile, dass Betrunkene alles versprachen und nichts hielten.
Insofern überraschte mich Norbert Groß enorm, als er mich am nächsten Tag anrief und sich nach meinem Befinden erkundigte.
„Na, haben Sie sich mein Angebot überlegt?“, fragte er dann, und ich war vollkommen überwältigt. Es schien doch noch Menschen zu geben, die jenseits der 3-Promille-Grenze noch wussten, was sie am Vorabend gesagt und getan hatten.
„Es war also keine Schnapsidee?“, fragte ich ungläubig zurück.
„Eine Schnapsidee?“, lachte er. „Ich habe doch keine Schnapsideen! Glauben Sie mir, ich weiß immer, was ich tue. Immer! Wie war Ihre Rückfahrt?“
„Bis Stuttgart kam ich bestens, und in Stuttgart habe ich zwei denkwürdige Stunden in einer Bahnhofskaschemme zwischen Zuhältern und Prostituierten verbracht“, erinnerte ich mich grinsend.
„Sie haben kein Auto?“, fragte Norbert Groß so entsetzt, als ob ich ihm eben gestanden hätte, dass ich kein Zuhause hätte. „Wieso nicht?“
„Man erlebt mehr, wenn man kein Auto hat. Oder haben Sie schon mal zwei Stunden nachts in einer Bahnhofskaschemme zwischen Zuhältern und Prostituierten verbracht?“
„Nein“, antwortete er verblüfft.
„Na, sehen Sie! Das ist total interessant!“, lachte ich, und er lachte auch.
„Nun spannen Sie mich nicht so auf die Folter! Haben Sie sich mein Angebot überlegt?“
„Ich muss Ihnen ganz ehrlich gestehen, die ersten 100 Kilometer kam mir das alles nur völlig skurril vor. Aber nach 200 Kilometern wusste ich auf einmal: Wenn Sie mich wirklich als Mitarbeiterin haben wollen, dann werde ich bei Ihnen anfangen. Aber ich warne Sie: Ich habe wirklich keine Ahnung vom Filmemachen. Und von Technik verstehe ich auch nichts. Wahrscheinlich muss ich lange und gründlich eingearbeitet werden.“
„Ah, das freut mich, das freut mich wirklich.“ Norbert Groß‘ Stimme klang in der Tat erfreut. „Ich wusste es. Gut, ich werde mich um den ganzen bürokratischen Kram kümmern, und dieser ganze bürokratische Kram nimmt in diesem Hause leider zu. Kein Mensch kann in diesem Hause noch irgendjemanden beschäftigen, ohne vorher 1000 Leute um ihre Zustimmung zu bitten. Aber ich habe es Ihnen versprochen, und Sie werden meine Mitarbeiterin, darauf können Sie sich verlassen. Ich freue mich wirklich sehr auf unsere Zusammenarbeit. Sie werden von mir hören.“
Ich knallte den Hörer auf und tanzte jubelnd durch die Wohnung. Es war zu schön, um wahr zu sein. Ich, Regina Dotzki, würde Fernsehjournalistin werden! Ich, Regina Dotzki, würde in der Welt herumreisen und einen Kameramann mit den Worten: ‚Filme dies und filme das!‘ herumkommandieren. Und aus diesem Material würde ich, Regina Dotzki, spannende und interessante frauenspezifische Filme für die Auslandsredaktion machen. Vom Obdachlosenheim direkt in die Welt des Fernsehens, was für ein Aufstieg! Allmählich schwindelte mir selbst vor der Höhe, in der ich mich befand.
Natürlich spaltete diese Neuigkeit meinen Bekanntenkreis noch ein Stückchen mehr. Bewunderung und Stolz auf der einen Seite und Neid und Kritik auf der anderen Seite verstärkten sich zunehmend.
„Mensch, Regina, pass auf, dass du nicht langsam abdrehst!“, warnte mich sogar Winfried mit einem gewissen Unbehagen. „Ein Mensch, der so schnell wie du so hochkommt, kann auch schnell wieder ganz tief fallen.“
„Das ist wirklich toll, Regina“, meinte Sebastian begeistert, der sich seit unserer Trennung über meine beruflichen Erfolge weitaus mehr mitfreuen konnte als vorher. „Ich wusste immer, dass du sehr begabt und etwas Besonderes bist. Und jetzt wissen es wenigstens noch andere Leute.“
„Der Mann hat dir das Angebot doch nur gemacht, weil er mit dir ins Bett will“, kommentierte Marianne mit finsteren Blicken.
„Genau!“, stimmte Brigitte mit ebenso finsteren Blicken zu. „Jeder weiß doch, dass eine Karriere in der Fernsehbranche nur übers Bett läuft.“
„Dann wirst du wohl nicht mehr allzu oft hier sein“, seufzte Armin. „Klar, das ist eine Riesenchance für dich, aber ich frage mich nur, wie zwei Menschen, bei denen der eine nur freitags Zeit hat und der andere sich ständig im Ausland aufhält, sich unter solchen Konditionen überhaupt noch sehen können.“
Aber alle Bedenken prallten an mir ab. Überglücklich über diese neuen Perspektiven schwebte, hüpfte und tanzte ich durchs Leben.