Читать книгу Der helle Wahnsinn nimmt kein Ende - Regina Dotzki - Страница 6

Оглавление

Kapitel 2: Die Schattenseiten der Prominenz

Zwei Monate später erlebte ich ein Phänomen, das jeder Verhaltenstherapeut gut kennt: die Angst vor der Angst. Einmal hatte ich nun die Erfahrung gemacht, wie sehr mich das Lampenfieber überrollen und in die Knie zwingen konnte, und ich hatte eine geradezu panische Angst, dass sich dieses Entsetzliche wiederholen könnte. Mein zweiter Fernsehauftritt sollte in einer Talkshow stattfinden. Leider war diese Talkshow nicht zu vergleichen mit der harmlosen Sendung ‚Aus aller Welt‘, die ohnehin kein Mensch ansah. In einer Zeit, in der nicht wie heute tagtäglich zu jeder Tages- und Nachtzeit Talkshows in Hülle und Fülle über die Mattscheiben flimmerten, erfreute sich diese Talkshow am Freitagabend großer Beliebtheit und erreichte Rekordzuschauerzahlen. Natürlich hatte ich zugesagt, ich wäre verrückt gewesen, eine solche Chance nicht wahrzunehmen.

Drei Tage vor der Talkshow begann die Angst vor der Angst in mir zu wachsen wie ein riesengroßes Ungeheuer, das ich nicht mehr in den Griff bekam. Jedes Mal, wenn ich an diese Talkshow dachte, bekam ich weiche Knie und Herzrasen. Dieses Mal würde es anders werden. Es würde schlimmer werden, denn zu viele Menschen sahen am Freitagabend diese Talkshow. Es hatte nicht den geringsten Sinn, einen Auftritt in dieser Talkshow zu verschweigen.

Zwei Tage vor der Talkshow nahmen meine Schwindelgefühle zu. Verzweifelt konsultierte ich einen Arzt, der mir Kreislauftropfen verschrieb. Der Besitz der Kreislauftropfen war zwar in gewisser Weise beruhigend, aber dennoch konnte er nicht verhindern, dass die Angst vor der Angst von Stunde zu Stunde zunahm. Ich begann mich zu fragen, was wohl schlimmer wäre: ein sich übergebender Studiogast, ein kollabierender Studiogast oder ein Studiogast, der in einer Art geistigen Verwirrung nur Unsinn von sich gab oder gar hysterisch lachte, wenn ihm alles zu aufregend wurde. Alle Alternativen waren denkbar und lagen durchaus im Bereich des Möglichen.

Am Donnerstag stieß ich nur noch tiefe Stoßseufzer aus, und am Freitagmorgen sah mich ein kreidebleiches Gesicht im Spiegel an. Ich fühlte mich wie am Tage meiner Hinrichtung. Nicht einmal die Tatsache, dass Freitag war und Armin kommen würde, konnte mich noch aufmuntern. Der gefürchtete Freitag war wirklich gekommen, dieser schwarze Freitag, über den ich kaum noch hinausdenken konnte. Am Freitagabend um 22:10 Uhr würde ich in einer Live-Talkshow, bei der man nicht schneiden konnte, zwischen fünf anderen Prominenten sitzen. Mein erstes Fernsehinterview hatte ich nur dank der Hilfe von Norbert Groß überstanden. Und die Chancen standen gut, dass in dieser Runde kein Norbert Groß existierte, der die Gabe hatte, mich mithilfe eines Kugelschreibers wieder reanimieren zu können. Es war zu befürchten, dass an diesem Freitagabend nicht nur lächerliche 40 Personen vom Bayerischen Fernsehen, sondern halb Deutschland über eine kollabierende, sich übergebende, Unsinn redende oder hysterisch kichernde Sextourismus-Expertin den Kopf schütteln würde.

Denk an was anderes, Regina, sagte ich energisch zu dem blassen, gequälten Gesicht im Spiegel. Du wirst heute Mittag in deinem neuen Blazer nach Hamburg fliegen. Du wirst mit dem Taxi in ein Luxushotel an der Alster fahren. Du wirst in einer Marmorbadewanne liegen und danach den Blick auf die Alster genießen. Und dann wirst du einen netten Stadtbummel machen und dir einen kleinen Imbiss in einem Edelcafé gönnen. Mensch, Regina, du wirst das alles genießen, du wirst schon sehen!

Aber ich stöhnte nur gequält auf. Wie viele Stunden waren es noch? 12 Stunden! Nur noch 12 Stunden, bevor sich das Entsetzliche wiederholen würde. Wieso nur hatte ich keinen fernsehgeilen Doppelgänger, der mich freudig in der Talkshow vertrat, während ich mich in Hamburg amüsierte? Die Angst vor der Angst hatte mich gut im Griff.

Es klingelte, und Armin kam die Treppe heraufgeflogen, warf wie immer seinen Motorradhelm auf meinen Schreibtisch, zog seine Lederjacke und seinen Nierengurt aus und nahm mich in die Arme. Mein über alles geliebter Armin, der schönste Mann unter der Sonne! Es hätte Hitler persönlich an meinem Bett auftauchen können, es hätte in der Nachbarschaft ein Mord passieren können, es hätte eine Bombe einschlagen können, nichts hätte jemals den Frieden und das Glück, das ich in den Armen dieses Mannes empfand, erschüttern können. So zumindest hatte ich immer gedacht. Aber ich hatte mich geirrt. Selbst in Armins Armen dachte ich noch an die Talkshow.

Ich würde Armin nichts von dieser Talkshow erzählen, so viel stand fest. Bei der Vorstellung, dass auch er Zeuge meiner drohenden Blamage werden konnte, wurde mir sterbenselend. Mit jedem anderen Zeugen konnte ich leben, aber nicht mit Armin. Armin sollte sich auf seinem Sterbebett, wenn er sein Leben Revue passieren ließ, an mich als strahlende und zärtliche Geliebte erinnern und nicht an eine klägliche Figur, die in einer Talkshow Unsinn redete, vor Aufregung hysterisch kicherte, sich übergab oder in Ohnmacht fiel oder vielleicht sogar alles zusammen machte.

„Wehe, du machst mir einen Knutschfleck!“, ermahnte ich ihn nervös, als wir zusammen in meinem Bauernbett lagen und er seine Lippen etwas zu lange an meinen Hals presste.

„Wieso nicht?“ Armin war irritiert.

Wieso nicht? Was für eine Frage! Der Mann hatte Nerven! Was machte es für einen Eindruck, wenn eine Psychologin mit einem Knutschfleck am Hals in einer Talkshow über Sextourismus referierte?

„Ich habe heute noch etwas vor“, sagte ich kühl.

„So, du hast etwas vor“, kam es leicht ärgerlich zurück. „Und was, wenn ich fragen darf?“

„Du darfst nicht fragen. Das geht dich nämlich gar nichts an.“

Armin warf mir einen etwas gekränkten Blick zu und küsste mich dann heftig. Wahrscheinlich vermutete er, dass ich eine Verabredung mit einem anderen Mann hatte. Sollte er doch denken, was er wollte! Es war mir gleichgültig, wenn er eifersüchtig war. Schließlich war es auch ihm gleichgültig, wenn ich eifersüchtig war. Und schließlich traf er sich im Gegensatz zu mir tagtäglich mit einer anderen Frau.

„Armin, ich warne dich“, begann ich heftig, als seine Lippen wieder an meinen Hals wanderten. „Wenn du mir einen Knutschfleck machst, dann mache ich dir auch einen, ich schwöre es dir. Und dann wirst du Ärger bekommen.“

„Mensch, Regina, was ist denn heute bloß mit dir los?“

„Ich kann eben heute keinen Knutschfleck gebrauchen, ist das denn so schwer zu verstehen?“, rief ich ungeduldig aus.

„Und warum nicht?“

„Weil ich heute etwas vorhabe, bei dem ich keinen Knutschfleck gebrauchen kann. So! Basta! Und jetzt entschuldige mich bitte!“

Wütend sprang ich aus meinem Bett, zog meinen Bademantel an und rauschte in die Küche. Auch das noch! Ein Streit mit Armin, elf Stunden vor meiner Talkshow!

Wenige Minuten später kam Armin mir nach und nahm mich in die Arme.

„Komm, Regina, lass uns nicht streiten, ja? Die wenige Zeit, die wir füreinander haben, ist viel zu schade zum Streiten. Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich mache dir keinen Knutschfleck, okay? Und vielleicht hast du irgendwann einmal so viel Vertrauen zu mir, dass du mir sagst, warum.“

„Ich werde es dir sagen, aber nicht heute. Und ich verspreche dir, du wirst herzlich darüber lachen.“

Glücklich schmiegte ich mich an ihn, und wir lächelten uns an. Armin und ich kannten uns zu diesem Zeitpunkt schon über sieben Jahre. In mancherlei Hinsicht war in diesen sieben Jahren die Vertrautheit eines alten Ehepaares entstanden. Aber in vielerlei Hinsicht waren wir uns auch fremd geblieben, denn wir hatten niemals einen gemeinsamen Alltag und ein soziales Leben miteinander geteilt. Und immer noch liebte ich Armin. Armin war für mich der Mensch, in dessen Armen ich Frieden und Glück fand. Armin war für mich der Mensch, der mich mit einer ungeheuren Zärtlichkeit erfüllte. Seit der Trennung von Burkhard lebte ich endlich wieder im Einklang mit meinen Gefühlen. Und ich war Armin sogar treu. Armin war der Mensch in meinem Leben, dem ich ohne innere Kämpfe, ohne moralische Verpflichtung, ohne Angst vor Konsequenzen und ohne heimliches Zähneknirschen und Bedauern in vollkommenem Einklang mit mir selbst treu sein konnte. Ich wollte keinen anderen Mann mehr. Ich liebte Armin. Und ich hätte mich geradezu dazu zwingen und überwinden müssen, mit einem anderen Mann Zärtlichkeiten auszutauschen. Die Zeit mit Burkhard war ein Verrat an meinem Körper und an meinen Gefühlen gewesen, und ich wollte einen solchen Verrat niemals wieder begehen. Armin war der Mann, den ich liebte, und er würde es bleiben. Ich hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, dass die Gefühle, die er in mir auslöste, etwas Einmaliges und Unwiederholbares waren, zumindest für mich.

Aber meine Gefühle waren nicht einseitig, auch das wusste ich inzwischen. Ich war nicht selbstlos und masochistisch genug, um einen Mann sieben Jahre lang einseitig lieben zu können. Nach und nach hatte Armin begonnen, auch mich zu lieben, in jedem Blick, in jeder Geste, in jeder Zärtlichkeit spürte ich seine Liebe zu mir. Armin war nicht bereit, aus dieser Liebe Konsequenzen zu ziehen, aber diese Tatsache hatte Gründe, die außerhalb unserer Beziehung lagen: in seinem Alltagsleben, in seinen Ängsten und Gewohnheiten. Lange genug hatte ich um diese Liebe gekämpft und sie ihm Stück für Stück abgerungen. Lange genug hatte es gedauert, bis Armin nach der Liebe nicht mehr schweigend und seufzend an die Decke starrte, sondern mein Gesicht mit beiden Händen umfasste und mir stumm und erfüllt von Zärtlichkeit, Ernst, Staunen und Dankbarkeit in die Augen sah. Aber es war geschehen. Armin liebte mich. Er sagte es mir nie, aber ich spürte es ganz deutlich. Und diese Liebe ging tief. Sie ging in eine Tiefe, die Armin zuvor noch nicht kennengelernt hatte. Die Tiefe dieser Liebe machte Armin Angst, auch das spürte ich. Aber wir hatten Zeit. Wir hatten alle Zeit der Welt. Irgendwann würde Armin erkennen, dass er vor der Tiefe dieser Liebe keine Angst haben musste, weil es einen Menschen gab, der genauso empfand wie er und der aus diesem Grunde die Liebe, die einen Menschen so offen und schutzlos machte, niemals als Waffe gegen ihn verwenden würde. Armin liebte mich, daran hatte ich mittlerweile keine Zweifel mehr, er trug die deutlichen Symptome eines jeden Liebenden in den Augen. Aber Armin vertraute mir nicht. Noch nicht.

„Ach, du, du, du, du, du“, flüsterte er an meinen Lippen, und ich versank in seinen Armen. Ich dachte nicht mehr an die Talkshow. Was war schon eine Talkshow gegen meine Liebe zu diesem Mann?

Und ein weiteres Mal sah ich später im Spiegel meine Augen sprühen wie einen blauen Funkenregen. Armin war die beste Medizin gegen meine Angst vor der Angst gewesen. Ich brauchte keine Kreislauftropfen mehr. Überglücklich zog ich meinen türkisblau-schimmernden Blazer an und raste zum Flughafen. Talkshow, ich komme, dachte ich übermütig, als ich im Flieger saß. Hamburg, ich komme, und ich werde dich erobern! Für eine Frau, die tatsächlich in der Lage gewesen war, das Herz dieses wundervollen Mannes zu erobern, würde es doch ein Leichtes sein, eine dröge Fernsehnation zu erobern! Ich hatte kein Lampenfieber mehr. Lampenfieber? Was war schon Lampenfieber? Glückliche Endorphinwellen durchströmten meinen Körper. Hamburg, ich bin da, dachte ich übermütig, als ich in Hamburg landete. Und als ich in meinem edlen Hotel tatsächlich in einer Marmorbadewanne lag, fühlte ich mich wie eine Königin persönlich. Was für ein Tag! Ich zog mich an mit Blick auf die Alster. Wie hübsch ich aussah mit meinem wunderschönen Blazer, meinen goldenen Locken und meinen lebenssprühenden Augen!

Mein Blick fiel auf die Uhr, und ich schluckte. Es war 17:00 Uhr. Und um 18:00 Uhr sollte ich im Sender sein. In fünf Stunden begann nach all den Vergnügungen des Tages das Martyrium des Abends. Und auf einmal fiel mir die Angst vor der Angst wieder ein. Stöhnend sank ich auf das gigantische Doppelbett, das für mich allein schon an Verschwendung grenzte.

Es klopfte an der Tür, und ein junges, zierliches Zimmermädchen trug einen Obstkorb herein. Sofort sprang ich aus dem Bett.

„Für Sie als kleine Erfrischung“, piepste sie schüchtern und sah mich mit unverhohlener Bewunderung an. „Sie kommen heute Abend in der Talkshow, nicht wahr?“

Sie sah mich an, als stünde eine Filmdiva persönlich vor ihr. Ihre fast unterwürfige Bewunderung beschämte mich zutiefst.

„Ja“, lächelte ich freundlich.

Wieso stand dieses Mädchen immer noch wie festgewachsen auf der Türschwelle und starrte mich an, als sei ich Liz Taylor persönlich? Ach ja, natürlich, sie erwartete ein Trinkgeld. Ich kramte ein silbernes Geldstück aus meinem Geldbeutel und drückte es ihr in die Hand.

„Haben Sie herzlichen Dank“, sagte ich, aber sie ging immer noch nicht. Sie starrte mich an wie ein Weltwunder. Hatte ich etwa meinen Blazer verkehrt herum angezogen? Nein, hatte ich nicht. Ich hatte auch nicht vergessen, meinen Rock anzuziehen. Und eine Naht war auch nicht geplatzt. Ein paar verstohlene Blicke genügten, um zu wissen, dass meine Kleidung tadellos saß. Was wollte dieses Mädchen nur?

„Ach“, sagte sie schüchtern, „ach, ich beneide Sie so sehr!“

Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Dieses Mädchen beneidete mich? Dieses Mädchen hatte eindeutig den Verstand verloren. Die Angst vor der Angst kroch wieder in mir hoch. In wenigen Stunden würde ich angstschlotternd und dem Kreislaufkollaps nahe in einer Toilette eines Fernsehsenders sitzen und mit letzter Kraft wie ein Drogenabhängiger meine Kreislauftropfen auf ein Zuckerstück schütteln, und dann würde ich halbtot ins Studio wanken und mich vor laufenden Kameras erst übergeben und dann in Ohnmacht fallen. Und die halbe Fernsehnation Deutschlands würde all das zwischen Salzstangen und Kräckern zur Kenntnis nehmen. Was gab es daran schon zu beneiden? So viel Unverstand konnte es doch gar nicht geben!

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“, fragte sie verlegen.

„Ja, Sie können etwas für mich tun“, erwiderte ich ohne zu zögern. „Sie ziehen jetzt diese Kleider von mir an, machen sich ein bisschen hübsch zurecht, und dann fahren Sie mit dem Taxi zum Sender und sagen, Sie sind Regina Dotzki. Keinem Menschen wird irgendetwas auffallen, das schwöre ich Ihnen. Und dann gehen Sie ins Studio, lächeln freundlich in die Kamera und machen ein paar dumme Sprüche. Und ich ziehe solange Ihre Kleider an und staube ab, beziehe die Betten und verteile Obstkörbe, okay?“

Das Mädchen sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

„Es ist mein voller Ernst“, bekräftigte ich meine Worte und zog meinen Blazer aus. „Hier! Probieren Sie mal, ob er Ihnen passt!“

„Aber das geht doch nicht.“ Das Mädchen wurde allmählich ängstlich. „Sie können doch hier nicht abstauben und Betten machen.“

Ich seufzte tief. „Nein, Sie haben recht. Ich kann hier nicht abstauben und Betten machen, und Sie können nicht in der Talkshow sitzen. Ist das nicht ungerecht? Keiner von uns beiden kann das machen, was er eigentlich machen will. Glauben Sie mir, es ist mein voller Ernst, dass ich lieber hier stundenlang abstauben und Betten machen würde als in dieser Talkshow zu sitzen.“

Kopfschüttelnd sah das Zimmermädchen mich an und suchte dann fluchtartig das Weite. Wahrscheinlich hielt sie mich tatsächlich für eine Verrückte, die zu allem fähig war.

In Hamburg geschah etwas, das mich hervorragend von meinem eigenen Lampenfieber ablenkte. Ich erlebte nämlich andere Menschen mit Lampenfieber. Als ich in der Maske erschien, diagnostizierte ich bei meinen Leidensgenossen mit fachkundigem Auge die typischen Symptome: Eine Fernsehmoderatorin, die als Quasselstrippe bekannt war, starrte mit schreckensbleichem Gesicht und weit geöffneten Augen schwer atmend in den Spiegel vor sich. Eine Schlagersängerin zeigte exakt die gleichen Symptome. Ein bekannter Schauspieler lehnte mit grünlichem Gesicht in der Ecke und kämpfte mit dem Brechreiz. Ein namhafter bayrischer Politiker schrie minütlich die Maskenbildnerin an, sie solle ihm kein zu dunkles Make-up und nicht zu viel Rouge auftragen, er sei schließlich nicht schwul. In der Maske herrschte das komplette Chaos.

Mit der allergrößten Genugtuung ließ ich mich in einem Stuhl nieder und gab gelassen wie ein Profi detaillierte Anweisungen zu meinen Frisuren- und Make-up-Wünschen. So war das also. Auch die „richtige“ Prominenz litt an Lampenfieber. Eigenartigerweise beruhigte mich diese Tatsache ungemein. Ich hatte kein Lampenfieber mehr. Ich sollte nie wieder Lampenfieber haben. Natürlich war ich nervös und aufgeregt, aber diese Aufregung belebte und beflügelte mich eher, als dass sie mich lähmte und in die Knie zwang. Es war vorbei. Endgültig vorbei! Ich hatte die Angst vor der Angst überwunden.

Sicher und ruhig gab ich der jungen Dame, die mich interviewte, meine Antworten, und gelegentlich machte ich Scherze, über die die Studiogäste sogar lachen konnten. Die junge Dame, die mich interviewte, war längst nicht so professionell wie Norbert Groß. Sie war weitaus nervöser als ich und hatte den Ehrgeiz, in wenige Minuten so viele Fragen wie möglich zu pressen, was unserer Unterhaltung eine etwas hektische Note gab. Die Moderatorin stand auf der Abschussliste, was allerdings erst später zu erfahren war. Sie sollte diese Sendung nie wieder moderieren. Stattdessen übernahm die Quasselstrippe, die als Studiogast gekommen war, nahtlos ihren Job.

Um 24.00 Uhr war alles vorbei. Während wir in Schlange anstanden, um auf die Auszahlung unserer Honorare zu warten, unterhielt ich mich angeregt mit einem weiteren Studiogast, einem Sexguru aus Nürnberg mit langen, wallenden Locken, der die Nation mit seiner Behauptung empört hatte, nach einer Sexualtherapie bei ihm sei eine Frau zu zehn Orgasmen hintereinander fähig.

„Ist das nicht ein bisschen anstrengend, so ein Leistungssport im Bett?“, fragte ich ihn. „Zehn Orgasmen schön und gut, aber wo bleibt da die Gemütlichkeit im Bett?“

Da wir eine halbe Stunde lang anstehen mussten, hatten wir die Möglichkeit, lange und angeregt über dieses und über weitere Themen zu diskutieren. Er interessierte sich brennend für mein Buch, vor allem für die Frage, welche Motive Männer eigentlich zu südostasiatischen Prostituierten trieb. In dieser halben Stunde gestand er mir auch, dass er zwei Frauen hatte, weil er die Monogamie als Vergewaltigung der Seele empfand.

„Tun Sie es eigentlich auch mit Ihren Klientinnen?“, fragte ich interessiert, und einen kleinen Moment lang sah er verlegen zu Boden. „Ja, Sie tun es, nicht wahr?“, folgerte ich glasklar aus seiner nonverbalen Botschaft. „Wie sonst sollten Sie überprüfen, ob Ihre Klientinnen wirklich zehn Orgasmen haben, oder ob sie die nur vortäuschen? Wie überprüfen Sie das eigentlich? Hängen Sie die Damen an irgendwelche Messgeräte?“

„Mann, können Sie sich denn nicht mal über was anderes unterhalten als immer nur über diesen Schweinkram?“, regte sich der bekannte bayerische Politiker hinter uns auf.

„Das sind doch ganz normale sexualwissenschaftliche Diskussionen“, meinte der Nürnberger Sexguru verständnislos.

„Ich sage Ihnen mal was, junger Mann!“, polterte der Politiker. „Statt den ganzen Schweinkram zu machen, sollte eure verwöhnte Generation lieber mal hart und anständig arbeiten. Dann kommt ihr mal auf andere Gedanken! Aber harte, ehrliche, anständige Arbeit, das kennt ihr gar nicht mehr, was?“

„Ich arbeite, genau wie Sie“, verteidigte sich der Sexguru empört. „Und ich arbeite hart, das können Sie mir glauben.“

„Arbeit nennen Sie das? Ich nenne das Schweinkram. Hat der Mann schon zwei Frauen, als ob eine nicht genug Ärger machen würde! Und dann immer noch nur Schweinkram im Kopf!“

„Das ist kein Schweinkram, das ist Wissenschaft“, echauffierte sich der Sexguru mit hochrotem Kopf.

„Wissenschaft, ha! Ich nenne das Schweinkram. Und Schweinkram bleibt Schweinkram.“

Die wirklich interessanten Diskussionen schienen in den Talkshows stets hinter den Kulissen abzulaufen. Vor der Kamera hatte jeder Studiogast nur brav über sein Thema referiert.

Der Sexguru veröffentlichte übrigens nur wenige Wochen später in diversen Zeitschriften die von mir erforschten Motive der Sextouristen, natürlich ohne mich zu zitieren.

Nach der Auszahlung der Honorare verschwanden die Studiogäste in Taxis und fuhren ins Hotel zurück. Es wurde kein Umtrunk mehr gemacht. Schließlich war es bereits 01.00 Uhr, als wir aufbrachen. Was für ein aufregender Tag!

Schlaflos wälzte ich mich in meinem riesigen Doppelbett von einer Seite auf die andere. Wenn Armin doch nur hier sein und diesen Abend und diese Nacht mit mir teilen könnte! Wenn Armin doch nur hier sein und mit mir den Vollmond und die Sterne betrachten könnte, die sich in der Alster spiegelten. Aber Armin war nicht da. Keiner war da. Ich war ganz allein in einem luxuriösen Hotelzimmer in Hamburg und sah mir ganz allein von einem übergroßen Bett aus die Sterne und den Vollmond über der Alster an, nachdem ich vor nicht allzu langer Zeit nach der Sendung von einem Dutzend wildfremder Menschen umgeben war, die mich beglückwünschten, die mir von links und rechts Fragen stellten und um Visitenkarten baten. Vor wenigen Stunden noch war ich hofiert und bewundert worden. Verlegen hatte ich in der Menge gebadet und mir freundliche Worte abgerungen. Und nun? Nun lag ich allein in einem überdimensionierten Hotelbett, sah traurig und einsam in den Nachthimmel und konnte nicht einschlafen. Der Kontrast hätte größer nicht sein können. Hier die vielen Menschen, die Hektik, die Aufregung und die Betriebsamkeit, und wenige Momente später der Sturz in eine abgrundtiefe Einsamkeit. War es dieses Wechselbad der Gefühle? War es der Vollmond? Waren es die Kreislauftropfen? War es die ungewohnte Umgebung? War es die Sehnsucht nach Armin? Ich wusste nicht, was genau es eigentlich war. Aber ich tat etwas, was ich niemals zuvor in meinem Leben getan hatte: Ich ging zur Minibar, nahm fünf Fläschchen Whisky heraus, leerte sie in ein Glas mit Eis und kippte sie in einem Zug herunter. Zwei Minuten später fiel ich wie eine frisch gefällte Tanne ins Bett und schlief einen todesähnlichen Schlaf. Und als ich am nächsten Morgen mit schwerem Kopf wieder erwachte, begriff ich auf einmal, weshalb Fernsehmenschen wie Norbert Groß suchtgefährdet waren.

Den Rest des Wochenendes lag ich wie eine Diva in meinem Bett und nahm huldvoll Telefonate entgegen. So viele Menschen hatten die Talkshow gesehen, und so viele Menschen riefen mich an.

„Das hast du wirklich fein gemacht, Reginchen,“ hörte ich meine Mutter ins Telefon strahlen. „Du hast so hübsch ausgesehen in diesem Blazer. Hast du dir diesen Blazer neu gekauft?“

Ich grinste, denn es war typisch für meine Mutter, dass ihr sofort mein neuer Blazer aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte sie in der Viertelstunde, in der ich meinen genialen Auftritt gehabt hatte, lediglich begeistert meinen neuen Blazer kommentiert und darüber gar nicht mitbekommen, welche klugen Überlegungen ich zum Thema Sextourismus von mir gegeben hatte.

„Nein, wirklich, du warst in dieser Runde eindeutig die hübscheste und bestangezogenste Frau. Und wie interessant du erzählt hast!“

Hatte sie etwa doch zugehört? War es wirklich möglich, dass meine Mutter mir einmal eine Viertelstunde lang zugehört hatte?

„Das hast du wirklich fein gemacht, ich hätte es selbst nicht besser machen können. Du warst ganz ruhig, ganz freundlich, ganz souverän. Weißt du, was ich gedacht habe, als ich dich da gesehen habe?“

„Nein, Mama, was hast du denn gedacht?“

„Ich habe gedacht, ja, das ist nun aus meinem Reginchen geworden, die ich vor 30 Jahren geboren habe. Ich war so stolz auf dich!“

Ohne Vorwarnung stürzten mir auf einmal die Tränen aus den Augen. Noch niemals in meinem ganzen Leben, nicht einmal nach dem bestandenen Abitur, nicht einmal nach den bestandenen Diplomprüfungen, nicht einmal nach der Veröffentlichung meines Buches, hatte ich diesen Satz aus dem Munde meiner Mutter vernommen.

„Aber Regina, was ist denn?“, fragte sie überrascht. „Das war wohl alles etwas viel für dich.“

„Weißt du, Mama, dass ich 30 Jahre lang darauf gewartet habe, dass du einmal diesen Satz zu mir sagst?“ Meine Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sie klang nur traurig.

Eine Minute lang war meine Mutter sprachlos. „Aber, Regina, was redest du da?“, fragte sie dann. „Habe ich dir nie gesagt, dass ich stolz auf dich bin?“

„Nein, das hast du nie.“

„Na sowas! Natürlich bin ich stolz auf dich. Ich war immer stolz auf dich. Schon als Baby war ich stolz auf dich. Ich dachte, das ist so selbstverständlich, dass ich stolz auf dich bin, dass ich das nicht extra noch betonen muss. Aber offensichtlich haben wir uns da gründlich missverstanden. Na sowas!“

„Ach, danke, Mama!“, lächelte ich und fühlte mich von einer jahrzehntelangen Last befreit.

Meine Mutter war stolz auf mich! Sie war schon immer stolz auf mich gewesen! Na sowas!

Ich kam nicht lange dazu, mich über diese sensationellen Neuigkeiten zu wundern, denn das Telefon klingelte erneut. Armins Stimme klang ungewöhnlich aufgeregt. Er rief mich auch zu einer ungewöhnlichen Zeit an, am Sonntagnachmittag. Hatte er sich etwa vom sonntäglichen Kaffeetisch mit Maria erhoben, um sich zu einer Telefonzelle zu schleichen?

„Ich bin fast vom Sessel gefallen am Freitagabend,“ lachte er. „Ich dachte, das ist doch nicht möglich! Zuerst dachte ich, das muss eine Aufzeichnung sein. Ich rief bei euch an. Hat Marianne dir das ausgerichtet?“

„Nein,“ sagte ich finster. Marianne hatte mir nichts dergleichen ausgerichtet, als ich am Samstag wieder zu Hause eingetroffen war. Sie hatte mir lediglich mit kühler Miene mitgeteilt, dass sie die Talkshow nicht gesehen habe, weil sie Talkshows unerträglich trivial und niveaulos finde.

„Und Marianne hat mir gesagt, dass du in Hamburg bist. Ich konnte es nicht fassen. Ich war doch bis Freitagmittag noch bei dir. Wie bist du denn so schnell nach Hamburg gekommen?“

„Ich bin, nachdem du weg warst, wie eine Verrückte zum Flughafen gehetzt. Stell dir vor, sie haben mir sogar das Taxi bis zum Flughafen bezahlt. Und dann bin ich nach Hamburg geflogen. Ich musste erst um 18:00 Uhr im Sender sein. Das habe ich locker geschafft. Ich konnte sogar noch vorher im Hotel in einer Marmorbadewanne baden und danach den Blick auf die Alster genießen“, gab ich an. Endlich konnte auch ich einmal mit einer Marmorbadewanne angeben.

„Also ich war jedenfalls völlig von den Socken. Zuerst habe ich dich fast nicht wiedererkannt, so aufgestylt, so geschminkt und frisiert. Wo du mittags noch völlig zerzaust warst, hahaha! Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, dich so unerwartet schnell wiederzusehen.“

„Jetzt weißt du also auch, weshalb ich an diesem Tag so nervös war und keinen Knutschfleck gebrauchen konnte.“

„Ja, jetzt weiß ich es. Und ich dachte schon…“

„Falsch gedacht, mein Lieber! Es war nichts dergleichen. Es war nur eine dumme Talkshow.“

„Und der Sexguru? War der nicht nach deinem Geschmack?“

„Zehn Orgasmen hintereinander, Armin, ich bitte dich! Nein, für solche Sperenzien bin ich wirklich schon zu alt,“ lachte ich.

Und so ging das, den restlichen Samstag und den ganzen Sonntag. Ich lag im Bett, nahm huldvoll die Telefonate entgegen, und ich genoss es sehr. Es war nicht immer einfach, prominent zu sein. Aber mitunter machte es großen Spaß, prominent zu sein.

Am Montagmorgen war ich der Meinung, dass ich allmählich genug hofiert worden war. Ich hatte die Talkshow hinter mich gebracht und wollte nun wieder ein ganz normales Leben führen. Was war schon eine Talkshow? Sie hatte mir erst Angst gemacht, sie hatte mir dann Spaß gemacht, aber nun war sie vorbei. Das Leben ging weiter. Vergnügt zog ich mich an und ging zum Bäcker. Brav stellte ich mich in der Reihe an, als die Bäckersfrau hinter dem Verkaufstresen auf meine Höhe eilte und mich von einem Ohr zum anderen anstrahlte.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Dotzki? Wie immer zwei Vollkorn- und zwei Laugenbrötchen?“

Was war nur in die Bäckersfrau gefahren, fragte ich mich erstaunt. Seit acht Jahren holte ich bei dieser Bäckersfrau morgens meine Brötchen, und seit acht Jahren sah mich diese biedere Bäckersfrau in mittleren Jahren Tag für Tag ohne das geringste Lächeln und mit unverhohlenem Abscheu in den Augen an. Manchmal hatte ich schon das Gefühl gehabt, dass diese Bäckersfrau tief in meine Seele blicken konnte, denn nach durchzechten oder durchliebten Nächten, wenn ich blass mit Ringen unter den Augen und zerzausten Haaren um die Mittagszeit zum Brötchenholen erschien, trafen mich ihre strengen Blicke stets mit noch größerem Abscheu als ohnehin schon. Schon immer war ich mir sicher gewesen, dass diese Bäckersfrau mich für die größte Schlampe aller Zeiten hielt, und sie machte aus ihrer Verachtung nicht den geringsten Hehl. Natürlich hatte sie als Bäckersfrau nicht das Recht, mir irgendwelche moralischen Vorhaltungen zu machen, und das war sowohl ihr als auch mir klar. Sie tat es auch nie. Aber ihre Blicke sagten alles, und sie war eine Meisterin darin, sich nette, kleine Gemeinheiten auszudenken, indem sie mir nach besonders durchfeierten Nächten stets die kleinsten oder dunkelsten Brötchen in die Tüte packte oder andere Kunden vorzog und mich warten ließ. Ihr Sanktionsrepertoire war zwar begrenzt, aber sie reizte dieses begrenzte Sanktionsrepertoire genussvoll aus.

Der ungewohnte Anblick der Bäckersfrau, die mich an diesem Montag von einem Ohr zum anderen anstrahlte, warf mich fast um. Noch niemals hatte ich diese Bäckersfrau so strahlen gesehen. Ich hatte sie noch nicht einmal lächeln gesehen. Ob sie im Lotto gewonnen hatte?

„I war aber z‘erscht draa!“, beschwerte sich ein anderer Kunde in der Schlange.

„Nichts da!“, sagte die Bäckersfrau resolut. „Frau Dotzki ist seit Jahren unsere Stammkundin, nicht wahr, Frau Dotzki?“

Sie betonte meinen Namen ungewöhnlich laut. Ich begriff nichts mehr. Woher kannte die Bäckersfrau, die sich acht Jahre lang nicht für meinen Namen interessiert hatte, auf einmal meinen Namen?

„Ich habe Sie am Freitag in der Talkshow gesehen,“ klärte sie mich zu meinem Entsetzen auf und grinste immer noch über das ganze Gesicht. „Sie waren wie immer umwerfend.“

Die Bäckersfrau fand mich „wie immer umwerfend“? Hatte ich richtig gehört? Die ganze Schlange vor mir im Bäckerladen drehte sich zu mir um und starrte mich an.

Eine andere Frau stieß in die Stille einen spitzen Schrei aus. „Ja, sie ist es! Ich habe sie erst gar nicht erkannt.“

Ich wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Meine Güte, war das peinlich! Und ich hatte doch nur eben Brötchen holen wollen! Schnell drückte ich der Bäckersfrau ein paar Geldstücke in die Hand und nahm die Tüte an mich. Nichts wie raus hier aus dem Laden! Konnte ich mich jemals in meinem Leben wieder in diesen Bäckerladen wagen?

Die Bäckersfrau strahlte immer noch von einem Ohr zum anderen. „Nicht doch, Frau Dotzki, lassen Sie mal stecken! Das geht heute aufs Haus! Bei einer so guten Stammkundin wie Ihnen!“ Und dann drohte sie mir neckisch mit dem Zeigefinger: „Sie sind mir vielleicht eine! Sie sind mir vielleicht eine!“

Sie hatte mir tatsächlich die größten Brötchen eingepackt, wie ich später feststellen sollte.

Wie betäubt wankte ich aus dem Bäckerladen und flüchtete in den Zeitungsladen. Es war nicht zu erwarten, dass die etwa 60-jährige Besitzerin des Zeitungsladens sich am Freitagabend eine Talkshow angesehen hatte, in der ein Sexguru aus Nürnberg darüber berichtet hatte, mit welchen Methoden er einer Frau zehn Orgasmen hintereinander entlocken konnte. Sollte ich mir zur Feier des Tages eine nette Frauenzeitschrift gönnen, überlegte ich. Interessiert blätterte ich das Angebot durch, als ich die Besitzerin des Zeitungsladens mit einer anderen älteren Kundin tuscheln hörte. Beide hatten die Köpfe zusammengesteckt und warfen mir argwöhnische Blicke zu.

Diese alte Krähe, dachte ich wütend. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass mich die Besitzerin des Zeitungsladens keifend zur Rede stellte, wenn ich in ihren Zeitschriften herumblätterte. Schon mehrfach hatte ich vergeblich versucht, ihr zu erklären, dass es bei dem großen Angebot an netten Frauenzeitschriften, deren Titelblätter nahezu identisch aussahen, vollkommen unmöglich war, sich für eine Zeitschrift zu entscheiden, wenn man den Inhalt nicht kannte. Es hatte alles nichts genutzt. Einmal hatte sie mir sogar unterstellt, einer ihrer kostbaren Zeitschriften ein Eselsohr verpasst zu haben, und mich zum Kauf der Zeitschrift mit dem Eselsohr genötigt. Wie ein ertappter Dieb stellte ich unter ihren argwöhnischen Blicken die netten Frauenzeitschriften wieder ins Regal zurück. Also doch nur Tageszeitung, dachte ich und wandte mich zur Kasse.

„Ja, sie ist es,“ hörte ich die Ladenbesitzerin raunen. Die beiden älteren Damen hatten noch immer ihre Köpfe zusammengesteckt.

„Sind Sie sicher?“, flüsterte die andere.

„Ganz sicher. Ich habe sie sofort erkannt. Sie kauft immer hier bei mir ihre Zeitung.“

„Nein!“, rief die andere Dame überrascht.

„Doch. Bei mir. Jeden Tag, schon seit Jahren! Sie ist privat eine ganz reizende Person. Und ich kann Ihnen sagen, sie ist bei all ihrem Erfolg ganz bescheiden geblieben.“

„Nein, was Sie nicht sagen!“

Meine Kinnlade war auf Kehlkopfhöhe gefallen. Bitte nicht schon wieder! Konnte ich denn in Zukunft nie wieder wie jeder andere Mensch in Ruhe morgens meine Brötchen und meine Zeitung kaufen? Würden diese ganzen Peinlichkeiten niemals wieder ein Ende nehmen? Hatten zwei 60-jährige Damen denn nichts Besseres zu tun, als sich an einem Freitagabend die Theorien eines Sexgurus anzuhören?

„Ich wollte nur eben die Zeitung bezahlen,“ murmelte ich in tiefster Verlegenheit.

„Sie sind es, nicht wahr?“, fragte mich die andere ältere Dame mit ungläubigem Staunen. „Sie waren am Freitag in der Talkshow, nicht wahr?“

„Ja,“ sagte ich nur und versank vor ihren tief bewundernden Blicken in Grund und Boden vor Scham.

„Ach bitte,“ bat die ältere Dame eifrig, „ich möchte nicht aufdringlich sein, aber würden Sie mir bitte – ein Autogramm geben?“

„Ein Autogramm?“, fragte ich entgeistert.

„Ach ja, bitte! Ein Autogramm! Hier auf meine Fernsehzeitung!“

Sie schob mir ihre Fernsehzeitung unter die Nase, und mit der größten Scham meines Lebens schrieb ich meinen Namen auf ihre Fernsehzeitung.

„Ach bitte, vielleicht noch eine kleine, persönliche Widmung?“

„Wie heißen Sie denn“, ächzte ich kraftlos.

„Erna Jäger.“

Und ich schrieb auf die Fernsehzeitschrift: Für Erna Jäger aus Tübingen, einer ganz besonders reizenden Dame!

„Oh danke!“, hauchte Erna Jäger gerührt und umklammerte ihre Fernsehzeitung wie einen kostbaren Schatz. „Diese Fernsehzeitung werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr wegwerfen. Danke, danke, danke!“

Bevor Erna Jäger mir vor Dankbarkeit die Füße küssen konnte, verließ ich fluchtartig den Laden.

Hinter meinem Rücken hörte ich die Besitzerin des Zeitungsladens hochbefriedigt feststellen: „Ich habe es Ihnen doch gesagt, sie ist eine ganz reizende Person. Trotz ihres Erfolges ist sie ganz bescheiden und natürlich geblieben.“

Auf der Straße wurde mir übel. So weit war es also schon mit mir gekommen, dass mich ältere Damen in Zeitungsläden um ein Autogramm baten! Ich flüchtete in meine Wohnung. Den Rest des Tages wagte ich mich nicht mehr aus dem Haus.

Es war nicht so einfach, auf einmal prominent zu sein, aber ich hatte nicht geahnt, dass es derart peinlich sein konnte, prominent zu sein. Nur ein hoffnungsloser Narzisst konnte solche Szenen wie eben genießen. Ich war kein hoffnungsloser Narzisst. Ich empfand nur eine abgrundtiefe Verzweiflung und ein großes Mitgefühl mit allen Prominenten auf dieser Welt.

Vermutlich hätte ich auch in den nächsten Tagen meine Wohnung nicht verlassen, aber das Leben ging weiter. Ich war eine der wenigen Arbeitslosen, die den Ehrgeiz hatten, der Allgemeinheit so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Gelegentlich arbeitete ich in dieser Zeit als Messehostess, und diesem Verdienst plus meinen Honoraren verdankte ich es, dass ich der Allgemeinheit zumindest finanziell nicht zur Last fiel. Für die nächsten sechs Tage hatte mich ein Kachelofenfabrikant für eine Messe in Stuttgart gebucht, und mit schlotternden Knien stand ich am Dienstag um 9:00 Uhr pünktlich in Stuttgart an seinem Messestand. Während der Zugfahrt nach Stuttgart hatte ich mich hinter einer Zeitung verschanzt, und ich war tatsächlich von keinem Mitreisenden erkannt worden. Lediglich ein Exhibitionist im Gang gegenüber sorgte während der Zugfahrt für ein wenig Aufregung, aber mein Erregungsniveau hielt sich in erträglichen Grenzen. Ich war sogar pervers genug, dem Himmel dafür zu danken, dass dieser Exhibitionist mehr Interesse daran hatte, unverhüllte Tatsachen zu präsentieren, statt mich um ein Autogramm zu bitten. Letzteres wäre mir peinlicher gewesen, ich schwöre es!

Inständig hoffte ich, dass der Kachelofenfabrikant, der mich gebucht hatte, zu den 50 % der bundesdeutschen Fernseherbesitzer zählte, die diese Talkshow nicht gesehen hatten. Und ich hatte Glück. Der Kachelofenbesitzer instruierte mich freundlich, sachlich und ohne jedes Interesse an meiner Person, drückte mir einen Packen Prospekte in die Hand, gab mir Kurzinformationen zu Größe, Gewicht und Preisen seiner Kachelöfen und verschwand dann wieder im Gewühle der Menge.

Aufatmend lehnte ich mich in meinem Stuhl auf dem Messestand zurück. Es würde leicht verdientes Geld werden. Sechs Tage lang würde ich hier herumsitzen, ein bisschen was über die Kachelöfen erzählen und jedem Interessenten einen Prospekt in die Hand drücken. Dennoch hatte ich ein ungutes Gefühl, eine dumpfe Ahnung, dass dieser Tag nicht so angenehm enden würde, wie er begonnen hatte.

Und ich hatte mich nicht getäuscht. Eine Stunde lang durfte ich friedlich herumsitzen, ohne dass sich auch nur ein Mensch für die Öfen des Kachelofenfabrikanten interessierte. Und dann geschah es: Eine biedere Hausfrau in den Fünfzigern stellte sich vor den Stand und fixierte mich immer intensiver. Mittlerweile kannte ich diesen Blick. Diese Frau überlegte, wo sie mich schon einmal gesehen hatte. Der Schweiß brach mir aus allen Poren. Gleich würde sie mich erkennen. Und ich durfte nicht einmal flüchten, denn ich wurde dafür bezahlt, dass ich hier herumsaß. Jetzt kam ihr die Erinnerung, ich sah es deutlich an ihren plötzlich aufleuchtenden Augen.

„Saget Sie,“ begann sie in breitestem Schwäbisch, „waret Sie net am Freitag in dera Talkshow?“

„Nein, Sie müssen mich verwechseln.“ Ich schenkte ihr mein entschlossenstes und unschuldigstes Lächeln.

„Noi!“, widersprach sie heftig. „Noi, i verwechsel Sie net! Sie waret‘s!“ Ihr Tonfall war so triumphierend, als hätte sie mich gerade des Mordes überführt.

Ich wurde blass. Das war das Ende. Die Katastrophe war perfekt, und es gab keine Möglichkeit zu fliehen.

„Gerda!“, brüllte sie quer durch die Messehalle. „Gerda, komm amol her! Schnell! Do isch die Frau von dera Talkshow. Jo, sie isch es! Komm, Gerda! Schnell! Sie isch es! Die Frau mit dem Seeeeeeeeeeeeex!“

Das letzte Wort brüllte sie unnötigerweise aus voller Kehle.

Nach diesen vielversprechenden Worten strömten die Besucher der Messe in Scharen herbei. Wie festgeklebt saß ich auf meinem Stuhl neben einem Kachelofen auf einem Messestand in Stuttgart und konnte mich kaum mehr rühren vor Schreck.

Gerda kam als erstes atemlos angerannt. Auch Gerda war eine biedere Schwäbin in den Fünfzigern. Gerda hatte sich offensichtlich gefreut, mit ihrer Freundin über die Inneneinrichtungsmesse zu bummeln. Und Gerda durfte in ihrem trostlosen Hausfrauenleben endlich einmal eine Sensation erleben.

„Guck, Gerda, sie isch es, gell?“

„Jo, sie isch es. Des gibt‘s doch net!“

Beide Frauen gingen dichter an mich heran und starrten mir in Armeslänge Entfernung ins Gesicht, als sei ich eine Wachspuppe bei Madame Tussauds. Ich saß auch in der Tat regungslos und wie versteinert auf meinem Stuhl.

„Also im Fernsäha sah se besser aus,“ befand Gerda nach eingehender Musterung.

„Ja, im Fernsäha, da werdet die ja auch immer gschminkt und frisiert.“

Gerdas Freundin kannte sich aus.

Dutzende von Menschen kamen von allen Seiten herbeigeströmt. Ich musste etwas tun. Ich musste so schnell wie möglich etwas tun.

„Hören Sie,“ sagte ich freundlich, „ich weiß nicht, was Sie wollen. Aber offensichtlich verwechseln Sie mich mit jemandem.“

Es nutzte nichts. Eine Traube von Menschen stand mittlerweile um mich herum und murmelte irgendwelche Kommentare.

Gerdas Freundin fasste sich als erstes ein Herz und sprach mich direkt an.: „Saget Sie, was machet Sie eigentlich hier auf dera Messe?“

„Ich verkaufe hier Kachelöfen,“ antwortete ich kühl.

„Wieso verkaufet Sie hier Kachelöfa?“ Gerdas Freundin verstand die Welt nicht mehr. Wahrscheinlich dachte Gerdas Freundin, dass Menschen, die in Talkshows auftraten, wie Dagobert Duck in Geld schwammen und es nicht mehr nötig hatten, Kachelöfen zu verkaufen.

„Weil das mein Job ist,“ sagte ich bestimmt. „Haben Sie Interesse an diesen Kachelöfen?“

„Noi, des net grad,“ meinte Gerdas Freundin etwas unwirsch.

„Des war so interessant, was Sie da gsagt hen in dera Talkshow,“ kam Gerda ihrer Freundin zu Hilfe. „Ich woiß nemme so gnau des Thema. Woisch du‘s no, Elfriede?“

„Noi, i woiß es auch nemme so gnau,“ gab Elfriede zu. „‘s war irgendwas mit Sex.“

„Jo, ‘s war irgendwas mit Sex, des woiß i au no!“

„Haben Sie Interesse an diesen Kachelöfen oder nicht?“, fragte ich grimmig.

„Was wellet Sie bloß emmer mit dene Kachelöfa?“, stellte Elfriede verärgert die Gegenfrage.

„Verkaufen will ich sie, und sonst gar nichts. Und wenn Sie kein Interesse haben, einen dieser Kachelöfen zu kaufen, dann können Sie hier verschwinden. Und zwar alle!“, bemerkte ich wütend mit einem Blick in die Runde.

„Frech isch se au no!“, stellte Gerda entrüstet fest. „Höret Sie, jonge Frau, mir hen hier Eitritt zahlt, und mir kennet uns hier uff dera Messe uffhalta, wo mir wellet, gell, Elfriede?“

„So isch es.“

„Wenn Sie jetzt nicht endlich von hier verschwinden, dann verschwinde ich,“ drohte ich, aber der Pulk vor mir gab sich gänzlich unbeeindruckt von meinen Worten. Der Pulk vor mir stand da und starrte mich immer noch ungläubig an.

Gab es wirklich Menschen auf dieser Welt, die es genossen, prominent zu sein? Diese Menschen mussten zutiefst gestört sein. Ich hatte es immer geahnt, es war nicht so einfach, auf einmal prominent zu sein. Nun aber wusste ich, es war nicht nur nicht so einfach, prominent zu sein, es war unerträglich, prominent zu sein. Schweißgebadet griff ich nach meiner Handtasche und verließ den Messestand. Keiner wagte es, mir nachzukommen. Aber alle wagten es, mir hinterher zu starren.

Das schöne, leichtverdiente Geld, dachte ich wehmütig, als ich mit großen Schritten aus der Messehalle schritt. Wie sollte ich unter diesen Konditionen jemals wieder auf vernünftige und anständige Art und Weise Geld verdienen?

Am Ausgang bekam ich gewisse Skrupel. Der Kachelofenfabrikant hatte mir immerhin seinen Stand anvertraut. Konnte ich diesen Stand so einfach alleinlassen? Aber ich konnte nicht mehr zurück, auf gar keinen Fall! Nie wieder wollte ich wie ein Idiot vor Gerda, Elfriede und Co. sitzen und mich anstarren und kommentieren lassen. Trotzdem, es war nicht richtig, meldete sich mein Pflichtbewusstsein. Was würde geschehen, wenn irgendwelche Chaoten den Stand demolierten? War ich dafür verantwortlich? Nachdenklich schritt ich durch die Straßen, als ich auf einmal an einem Laden für Friseurzubehör vorbeikam. Das war‘s! Das war die genialste Idee des Jahrhunderts!

„Sie sehen irgendwie anders aus als am Anfang,“ meinte der Kachelofenfabrikant etwas befremdet am Ende des sechsten Tages zu der Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, der er seinen Stand anvertraut hatte.

„Tja,“ lächelte die Frau mit der schwarzen Kurzhaarperücke, die noch fünfeinhalb ruhige Tage verbracht hatte, „es gibt Situationen im Leben einer Frau, in denen sie das dringende Bedürfnis hat, ihren Typ zu verändern.“

Der helle Wahnsinn nimmt kein Ende

Подняться наверх