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Die Jagd beginnt

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Wieder einmal saß ich in der Abstellkammer, die als mein Büro herhalten musste. Mit anderen zusammen in einem Raum zu sein, kam nicht lange infrage. Die Jahre in Einsamkeit hatten mein Verhalten derart geprägt, dass ich nicht mehr fähig war stundenlang den Sozialen zu spielen — wobei ich mir selbst kaum eingestehen würde, dass ich in Wahrheit nicht in der Lage war den Starken zu spielen.

Mein Bildschirm starrte mich als einzige Lichtquelle in dem Raum an. Ich sollte eine Steuerung für 100 Motoren entwerfen, die zeitlich gekoppelt wurden. Die Programmierung war eines der Dinge, die ich schon in der Ausbildung zum Elektroniker geschätzt hatte. Der Kunde war sicher wieder einer dieser Großkonzerne, die es sich leisten konnten, in einer Stadt wie dieser mit einer richtig großen Lagerhalle aufzufallen. Ich las mir den Auftrag durch und begann die ersten Verknüpfungen über Flip-Flops herzustellen.

Eigentlich mochte ich diesen Job, wenn man mal darüber hinwegsah, dass ein anderer kurz nach mir auf den Posten kam, den ich eigentlich gewollt hatte. Wenigstens hatte ich als Programmierer die Ausrede die ich brauchte, um mich möglichst selten blicken zu lassen. Dass ich Schichten von Make-up und einen Anzug trug, um als 22-jähriger Elektroniker durchgehen zu können, war auch in Ordnung. Ich konnte nicht mein Leben lang zur Schule gehen. Aber Rechnungen mussten nun einmal bezahlt werden und ich war froh, dass ich einen anständigen Job gefunden hatte, in diesem neuen Leben.

Das Programm schrieb sich wie von selbst, da ich wie immer total fokussiert war. Ich blickte erst auf, als ich das "Guten Morgen, Thomas" hörte, das mich nun schon ein Jahr lang Arbeitstag für Arbeitstag begleitete.

"Guten Morgen Claudia."

Die immer adrett gekleidete Frau mit den korrekt geknoteten schwarzen Haaren und blauen Augen sah mich wie üblich abschätzend an. Es war bereits 12 Uhr mittags. "Würdest du wohl mit zum Essen kommen?"

Sie war schon aus der Tür, als ich aufstand und ihr hinunter in die Kantine folgte. Dabei musste ich zwangsläufig durch das Großraumbüro, in dem die fünf anderen meiner Abteilung an eigenen Schreibtischen arbeiteten.

In der Kantine stellte ich mich hinter Claudia an und war wirklich froh, endlich etwas zu essen zu bekommen. Es störte mich nicht einmal, dass es wieder nur Tiroler Gröstel gab. Ich ging gemeinsam mit Claudia zu dem Tisch, an dem schon Amy, Christian, Markus und Tobias saßen.

Ich betrachtete die anderen — die ihr Gespräch wegen uns unterbrachen — mit einem Blick, der Amy dazu veranlasste sofort weiterzusprechen: "Könntet ihr diese Woche mit der Steuerung fertig werden? Nächste Woche ist schließlich Weihnachten und der Boss hat mich bereits unter Druck gesetzt." Der gehetzte Blick in ihren braunen Augen und die Art in der sie ihre braunen Locken schüttelte, zeigten, dass ihr nichts lieber wäre, als diese letzte Woche Arbeit bereits hinter sich zu haben.

"Ich schaffe das niemals. Die Platinen zur Steuerung sind noch nicht einmal als Probemodell fertig und ich bin davon überzeugt, dass wir nur gute Wahre ausliefern sollten." Markus, der sich mit seinen ebenfalls braunen Augen und kurz gestoppelten Haaren für einen Mittvierziger trotz Bierbauch gut gehalten hatte, war recht entspannt. Er hatte bei Fast Elektronik Producement gelernt und war nun schon fast 30 Jahre in der Firma. Selbst wenn sein Boss der Sohn desjenigen war, der ihn eingestellt hatte, machte er sich wenig Sorgen um seinen Job, was ihm keiner verdenken konnte. "Ich entspreche den Vorstellungen vom Boss und stelle die Platinen bis Freitag fertig. Heute fertig layouten, morgen ätzen und löten, Mittwoch testen, Donnerstag in die Produktion schicken, Freitag ausliefern."

Christian, der schwarzhaarige, blauäugige, studentenmäßige Typ, der alle Aufgaben an seinen Fingern mitgezählt hatte, sah mich direkt an. "Wirst du bis Freitag zum Ende kommen?"

"Ich sollte die Steuerung fertig kriegen. Es läuft ganz gut. Zwanzig Motoren sind schon drin und mir bleibt eine Menge Zeit."

Tobias sprach nicht. Seine Arbeit begann, wenn die eines anderen endete und dauerte maximal eine Stunde am Tag. Es war ein Vorteil, wenn man fünf Sprachen fließend beherrschte und Auslandskorrespondent war. Wenn er wüsste wie viele Sprachen ich im Laufe meines Lebens bereits fließend gesprochen hatte, würde er vor Neid erblassen. Da der kräftige Kerl mich allerdings keines Blickes würdigte und noch nie mit mir gesprochen hatte, entschloss ich mich, ihn auf seinem Ross sitzen zu lassen.

"Ich hoffe wir bekommen das wirklich hin. Dann könnte ich zeigen, dass ich im Controlling wirklich was drauf habe und euch Jungs den Hintern versohle." Amy war einfach nur ein junges Mädchen mit einem Bachelor und einem guten Elternhaus. Ich schluckte die Worte, die sich mir auf die Zunge legten, aus genau diesem Grund mit einem Bissen Essen hinunter.

"Du versohlst hier niemanden. Wenn, mache ich das." Die adrette Claudia fürchtete wohl ihren Job an ein jüngeres Wesen zu verlieren.

Diesen Zirkus würde ich mir nicht anhören. Ohne eine Verabschiedung ging ich zurück in mein Büro, stellte auf dem Weg hinaus mein Tablett auf den Geschirrwagen.


Den ganzen restlichen Nachmittag verbrachte ich mit meiner Steuerung. Ich sah erst auf die Uhr, als es schon längst zu spät für das normale Schichtende war. Sicherheitshalber sah ich auch noch auf meine Armbanduhr, wobei ich feststellen musste, dass ich mich doch nicht geirrt hatte und es wirklich 18 Uhr war. Müde erhob ich mich vom Sessel, wobei dies genau eine der Situationen war, die andere nicht sehen sollten. Ich biss die Zähne zusammen und quälte mich regelrecht beim Aufstehen, da ich eine viel zu lange Zeit gesessen hatte. Mein Rücken wurde mir dank meiner Schmerzen wieder Wirbel für Wirbel bewusst und die Tage, in denen ich nicht geschlafen hatte, begannen sich an mir zu rächen.

Als ich durch das Büro der anderen ging, fiel mir wieder ein, dass höchstwahrscheinlich Claudia unten auf mich warten würde. Wer immer sie dafür engagiert hatte, mir ein sozialeres Wesen eintrichtern zu wollen, hatte wirklich zu viel Selbstironie an den Tag gelegt. Die Tür zur Feuertreppe, meinem eigenen persönlichen Notausgang quietschte, sowohl wenn man sie öffnete als auch wenn man sie schloss. Ich ließ meinen Wagen vor der Firma stehen, da ich nur zehn Minuten entfernt wohnte und die Zeit brauchte, um herunterzukommen und abzuschalten. Mein Parkplatz war sowieso immer für mich reserviert, was ein weiteres Zugeständnis des Chefs war.

Die Stadt war schmutzig und roch selbst für mich nach zu viel Abwasser, Abfall, Dreck und Abgasen. Die Wolkenkratzer, die diesen Stadtteil säumten, schwankten gefährlich im eisigen Wind des Dezembers. Das ständige Hupen, die Geräusche der Motoren und die unzähligen Stimmen und Schritte verpesteten meine Gehörgänge. In der Stadt würde ich nicht einmal hören, wenn mir Gefahr wegen eines magischen Wesens drohte, was mit einer der Gründe war, dass ich hier lebte, so widersinnig das auch klingen mag.

Als ich mein Appartement im zweiten Stock eines großen Häuserblocks erreichte, war ich heilfroh, endlich wieder an einen Ort zurückkehren zu können, an dem ich sicher war. Auch wenn das Haus bereits ein dramatisches Alter erreicht hatte und die braune Fassade wenig einladend wirkte, war ich froh, hier wenigstens so etwas Ähnliches wie ein Zuhause gefunden zu haben. Meine Schutzzauber auf meiner Eingangstür, die mit meinem eigenen Blut gezeichnet worden waren, begrüßten mich. Sie bestanden aus altgriechischen Wörtern und mythischen Zeichen aus einer Zeit, in der noch nicht einmal ich das Licht der Welt erblickt hatte. Wie meine Wizzards tobten und glühten sie, waren aber für Menschen nicht sichtbar. Die Schutzzauber waren sogar für magische Wesen sehr schwer zu erkennen und niemand, der nicht in mein Appartement kommen sollte und magische Kräfte hatte, kam hier hinein.

Ich trat ein, verschloss die Tür hinter mir und zog mein weißes Samsung Galaxy S4 aus der Tasche. Ich wählte die Nummer von Tonis Pizzaservice. Er selbst hob ab und nahm meine allabendliche Bestellung entgegen. Das ließ mir 39 Minuten, um mich fertigzumachen.

In der Dusche wusch ich mir all meine Sorgen gründlich ab, wobei ich danach darauf achtete, wieder mein übliches Make-up aufzulegen. Schließlich konnte ich den Pizzaboten nicht erschrecken, indem ich plötzlich wie ein Junge aussah. Mit Grundierung, Rouge, Puder, Finish, Schatten unter den Augen, Faltenverstärkern und mit vielem mehr, schmückte ich mein jugendliches Gesicht.

Neun Minuten zu früh klingelte es an der Tür. Ich öffnete und erschrak. Vor mir stand eine blutverschmierte Amy mit schockgeweiteten Augen, die ich nur noch an ihrem wallenden Haar und ihrer Kleidung erkannte. Sie hatte keine Jacke mehr an und ihre Bluse war mehr als zerrissen. Sie blutete aus unzähligen Wunden, die von Krallen stammen mussten. Keine war tief genug, um tödlich zu sein, doch die Qual, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, nahm mir den Atem. Eine Aura der Magie desjenigen, der sie verletzt hatte, umgab sie. Deutlich nahm ich die Töne war, die ihr Körper aussandte. Als ich endlich aus meiner Starre erwachte, zog ich sie ohne ein Wort in mein Appartement und ließ die Tür ins Schloss fallen. Unter meiner Berührung sackte sie zusammen und entzog sich mir, sobald sich ihr die erste Gelegenheit bot.

"Thomas, was ist hier los?" Die Verzweiflung in ihrer Stimme schnitt durch die Barriere, die ich um meine Gefühle errichtet hatte.

"Das sollte ich eher dich fragen, Amy. Was ist mit dir passiert?"

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr sofort die Wangen hinab rannen. "Drei Männer haben mich in eine Seitengasse gedrängt, als ich auf dem Weg nach Hause war. Einer von ihnen ist auf den Boden gefallen und hat angefangen zu keuchen. Dann hat er sich … "

Sie sackte in sich zusammen und ich fing sie rechtzeitig auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Langsam stützte ich sie auf dem Weg zur Couch.

"Er hat sich in einen Wolf verwandelt. Es hat schrecklich ausgesehen, wie seine Klamotten eingerissen sind und sich seine Knochen verschoben haben, aber dann stand ein Wolf vor mir und hat mich angegriffen. Einer der beiden anderen Kerle hat ihn zurückgepfiffen und gesagt, ich soll zu dir gehen. Er hat gewusst wo du wohnst und meinte, ich solle dir ausrichten, dass du in der Stadt nicht mehr sicher bist."

Meine Gedanken rasten, als ich versuchte herauszufinden, welcher dieser Wölfe mich eventuell kennen konnte und woher. Der Abtrünnige von gestern hatte bestimmt kein Rudel gehabt. Meines Wissens nach gab es bereits seit Jahrhunderten kein Rudel mehr.

Gerade in dem Moment, als ich zu dem Schluss kam, dass ich keine Ahnung hatte von wem die Bedrohung ausging, klingelte es an der Tür. Geschockt schob ich Amy in Richtung Bad. "Das ist der Pizzabote, den ich bereits erwartet habe. Du kannst dich solange frisch machen. Nimm dir einfach ein paar von meinen Klamotten und ein frisches Handtuch. Die Sachen findest du im Schrank, neben der Badewanne. Und wasch dir das Blut ab." Damit schloss ich die Badezimmertür hinter ihr und sprang quer durch mein Hauptzimmer — das mir als Schlaf- und Wohnraum diente, da ich ein extra Büro brauchte — und öffnete die Tür; allerdings nicht ohne mich durch den Spion zu versichern, dass da draußen wirklich der Pizzabote war. Wie immer gab ich ihm zu viel Trinkgeld und war froh ihn schnell loszuwerden.

Während Amy duschte, schaltete ich den Fernseher ein, in dem mir die Nachrichten ankündigten, dass es diese Woche noch Neuschnee geben würde. Meine nächste Jagd in Silvas Auftrag würde dadurch schwieriger werden.

Ich überließ Amy die Hälfte meiner Pizza. Sie aß schweigend und ich hasste mich für das, was ich der Kleinen antun würde, aber ich hatte keine andere Wahl.

Als sie fertig gegessen hatte, sah sie mich eindringlich an: "Weißt du, eigentlich hat die ganze Sache auch was Gutes. Jetzt kann ich endlich mal sehen wie du lebst."

Ich wusste, dass es hier nicht viel zu sehen gab. Die Ledercouch, zwei Sessel, einen kleinen Esstisch mit zwei Stühlen und mein Bett. Im Büro würde sie auch nicht viel zu Gesicht bekommen, außer einem Schreibtisch, einem Computer, einem Laptop und einem Drucker.

"Ich finde es toll, wie aufgeräumt dein Appartement ist. Es sieht gar nicht wie eine Junggesellenbude aus."

Anscheinend hatte der Schock sie die Erinnerung an das eben Erlebte ausblenden lassen, eine gute menschliche Verhaltensweise, die ich zu schätzen wusste. Nun musste ich nur noch dafür sorgen, dass sie ihr Erlebnis vollkommen vergaß. "Danke. Ich bin eben ein reinlicher Junggeselle."

Ihr schüchternes Lächeln und die Art, wie sie mir näher kam, machten mir klar, dass ich die Situation ausnutzen musste. Sie war eben doch nur ein Mädchen, das sich nach Nähe und Geborgenheit sehnte. Dessen wurde ich mir besonders bewusst, als ihre Hand auf der meinen zu liegen kam. Sie sah mir tief in die Augen, wobei mich die Unschuld ihres Blickes und das tiefe Rehbraun in ihren Bann zogen. Ich beugte mich langsam vor und auch sie kam mir noch näher, bis sie gegen meinen Körper lehnte. Im einen Moment sah ich noch in ihre dunklen, braunen Augen, im nächsten Moment schloss sie sie auch schon. Fest fuhr ich mir mit dem Nagel meines Daumens über die empfindliche Stelle an meinem Handgelenk, die ich mir immer ritzte, um mir ein paar Tropfen meines eigenen Blutes zu entlocken. Ich kam langsam mit meiner Hand näher und legte sie ihr auf die Stirn. Bevor sie in der Lage war zu begreifen, was ich als Nächstes tun würde, zeichnete ich ihr ein einziges Zeichen auf die Haut. Mein Blut versickerte in ihrem Epithelgewebe und ließ keine Spuren zurück.

Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten und fiel mir erschöpft in die Arme. Der Zauber würde sie die letzten Stunden vergessen lassen. Ich flüsterte ihr Worte auf Altgriechisch ins Ohr, erzählte ihr die Geschichte, an die sie sich erinnern sollte: Sie war zu mir nach Hause gekommen und wir hatten zusammen zu Abend gegessen. Danach waren wir uns nähergekommen. Wie weit dies gegangen war, würde ihrer eigenen Vorstellungskraft entspringen. — Ich konnte nicht lügen, sosehr ich das auch wollte. Es war nicht so, dass ein Fluch über mich kommen würde, wenn ich es tat, es war einfach psychisch nicht möglich. Ich konnte nur die Wahrheit zu meinen Gunsten verbiegen.

Ich versuchte sie vorsichtig aufzuheben, wobei ich mir ihrer Wunden wieder bewusst wurde, als ihr friedlicher Gesichtsausdruck verschwand. Mein traktierter Rücken war mir trotz ihrer elfengleichen Erscheinung nicht dankbar, als ich sie so vorsichtig wie möglich zum Bett trug. Auf dem Weg dorthin rann wieder etwas Blut an ihrer Seite hinab, von einer etwas größeren Wunde, die wieder aufgerissen war. Als ich sie auf meinem Bett ablud, zog ich ihr das Shirt aus und besah mir die Botschaft der Wölfe genauer: Es hatte größtenteils aufgehört zu bluten, was aber schon als einzig Positives durchgehen konnte. Sie hatte lange Kratzer überall auf ihrer Haut, die ohne ein Kleidungsstück dazwischen sogar noch viel schlimmer aussahen. Sie gingen doch tiefer, als ich es mir erhofft hatte. Es war einer der Momente, in denen ich dankbar war über Magie verfügen zu können. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, ihre Wunden verschwinden zu lassen und kanalisierte meine Macht in meiner Handfläche. Ein stechender Schmerz und das goldene Glühen in meiner Hand zeigten mir an, dass ich meine Magie einsetzen konnte. Ich ließ ihre Wunden heilen, in dem ich den Schmerz, den sie verursachten, in mich selbst aufnahm und in mir wüten ließ, bis das magische Blut die Wunden in mir heilte. Jeder einzelne Kratzer setzte den Prozess der Heilung in mir selbst in Gang, wobei ich jedes Ziehen, Stechen und Pochen erlebte, dass dieser Prozess verursachen würde.

Währenddessen verlor ich sämtliches Zeitgefühl. Die Schmerzen, die sich hinter meinen Augenlidern zu meinen eigenen addierten, wurden immer unerträglicher. Immer wieder öffnete ich meine Augen und legte kurze Pausen ein, um die tiefen Schnitte zu behandeln. Inzwischen gab es nur noch ein einziges Brennen in meinem Körper, das meine Adern schreien ließ; ein Brennen, das nichts mit magischem Feuer zu tun hatte.

Als ich endlich die letzte Wunde komplett geheilt hatte, trat ich erschöpft und zitternd von ihr zurück. Gerade wurde ich mir eines weiteren Problems bewusst: Sie hatte keine Jacke oder Tasche mehr bei sich gehabt, als sie zu mir kam. Ich musste ihre Sachen zurückholen. Die zerrissenen Klamotten würde ich ihr erklären können, nicht aber, dass ihre Tasche und Jacke verschwunden waren.

Ich ließ mich einfach auf meinen Parkettboden fallen. Vom Nachttisch nahm ich mir meinen Dolch und schnitt mir selbst in den Unterarm, um ein weiteres Mal Blut hervorquellen zu lassen. Damit malte ich einen Kreis aus Zeichen: Bringe zu mir, was den Meinigen ist. Ich konzentrierte mich auf das Aussehen der Tasche und Jacke, die sie auch in der Kantine bei sich gehabt hatte. Ich stellte mir mit aller Kraft vor, wie ich sie zu mir in den Kreis rief. Endlos lange Minuten starrte ich einfach auf den Kreis, bis sich langsam Umrisse abzeichneten. Ich klammerte mich mit meinem gesamten Bewusstsein an die Erinnerung ihrer Habseligkeiten und bekam meinen Lohn, indem sich Tasche und Jacke materialisierten. Vor meinen Augen fraß die Magie, die ich gerufen hatte, mein Blut, das ihr als Belohnung galt.

Achtlos ließ ich die Sachen wo sie waren und krabbelte auf mein Bett. Das erste Mal seit Jahren fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


Der Wecker läutete wie üblich um sieben Uhr morgens. Erst die Hand auf meinem Bauch und der Druck von Amys Kopf gegen meinen Brustkorb machten mir wieder bewusst, was geschehen war. Ich streichelte sanft über ihre Locken, bis sie erwachte. Erst sah sie mich schockiert an, dann an sich hinunter und im nächsten Moment schoss ihr Röte in die Wangen.

"Guten Morgen, Amy. Ich hoffe, du hast gut geschlafen."

Sie senkte den Blick und ihr gesamter Kopf schien zu glühen. "Guten Morgen. Ja, schon. Aber ich … Was ist mit meinen Sachen passiert?"

"Die sind leider durch den gestrigen Abend unbrauchbar geworden." Zum Glück fragte sie mich nicht, ob ich mit ihr geschlafen hatte.

"Wie spät ist es?"

"Kurz nach sieben."

Plötzlich sprang sie wie vom Teufel gejagt aus meinem Bett. "Thomas, es tut mir leid, aber ich muss los. Ich muss mich erst umziehen und … na ja, wir sehen uns auf der Arbeit." Sie sammelte ihre Jacke und Tasche vom Boden auf, schlüpfte in ihre Schuhe und glitt geräuschvoll aus meiner Tür, wobei sie sich noch einmal umsah, bevor sie sie schloss. Dieser fragende Blick würde mir noch einmal das Herz zerreißen, doch nun war ich meinen eigenen Gedanken überlassen.

Ich zog einen meiner Anzüge an und machte mich früh auf den Weg zur Arbeit. Auf keinen Fall wollte ich Amy heute Morgen noch einmal begegnen. Unterwegs zerbrach ich mir den Kopf, wer es auf mich abgesehen haben könnte. Bis jetzt hatte ich noch keinen Werwolf lange am Leben gelassen, nachdem ich ihn aufgespürt hatte. Es war unwahrscheinlich, dass ich mir Feinde gemacht hatte, da Werwölfe in der heutigen Zeit eigentlich nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen waren. Von einem Rudel hatte ich seit einem Jahrtausend nichts mehr gehört.

Auch wenn ich niemals gegenüber jemand anderem zugeben würde, wie sehr mich solche Situationen belasteten, in denen ich nicht für das Schicksal anderer verantwortlich war und doch dafür verantwortlich gemacht wurde, konnte ich meine Gefühle kaum unter Kontrolle bringen.

Die Zufluchtsstätte, die meine kleine Abstellkammer für mich darstellte, bot mir den Vormittag über Schutz vor einer Konfrontation mit meinen Kollegen. Sie half mir auch, mich wieder richtig zu fokussieren und meine Gedanken nicht um Probleme kreisen zu lassen. Bereits bis Mittag hatte ich 50 Motoren in meine Schaltung eingebunden die, nach der ersten Simulation zu urteilen, auch einwandfrei funktionierte.

Fast wäre ich im Erdboden versunken, als ich Claudias nun anzüglich klingende Stimme hörte. "Guten Morgen, Thomas. Komm doch mit runter in die Kantine."

Diesmal ließ sie mir keine Zeit für irgendeine Antwort. Widerwillig folgte ich ihr und bekam zur Belohnung einen Schweinebraten. Wenigstens ein Lichtblick, an diesem Tag.

Als wir uns dem Tisch näherten, ruhte Amys Blick fragend auf mir. Markus Worte versuchten gerade zu ihr durchzudringen. "Ist doch toll. Er ist in deinem Alter und zu mir war er immer zuvorkommend und höflich." Zu spät bekam er mit, dass ich bereits in Hörweite war.

"Wenn mir einer von euch was zu sagen hat, bitte ich darum es jetzt zu tun oder es sein zu lassen."

Die beiden anderen Männer lachten laut los und ich verstand genau wie Markus sich fühlte, als er versuchte ein Loch im Erdboden herbeizuwünschen, um darin versinken zu können.

"Hast du heute Abend vielleicht Zeit dich noch mal mit mir zu treffen?" Amy erreichte mit ihren Worten ihr Ziel, die Situation aufzulockern.

Ich setzte mich auf meinen Platz und sah sie einen langen Moment an. "Es tut mir leid, aber ich habe heute Abend noch einiges zu tun. Ich bin mir nicht sicher, wann ich damit fertig werde. Vielleicht können wir uns ein andermal treffen." Es tat mir wirklich leid, als ich die Enttäuschung in ihren Augen sah, bevor sie ihren Blick senkte. Aber ich hatte keine andere Wahl, als die Werwölfe zu suchen, die Amy aufgelauert hatten.

"Wie weit bist du mit deiner Steuerung gekommen?"

"Die Steuerung ist bereits halb fertig, Christian." Warum mich die Art störte, in der er seine Frage betonte, wusste ich selbst nicht. Vielleicht hatte es etwas mit meinem nun in seinen Augen vorhandenen Liebesleben zu tun. Aber es war egal, was dahintersteckte, er war ja schließlich keine Bedrohung für mich. Meinen Teller auf dem Geschirrwagen abstellend, machte ich mich wieder auf den Weg in meine Abstellkammer.

Der Nachmittag verlief gut, wobei ich schon früher Schluss machte, um mich des Werwolfproblems anzunehmen. Ich stieg in meinen Audi und befestigte mein Handy in seiner Halterung. Ich visierte alle Kneipen an, die im näheren Umfeld meiner Wohnung waren. Langsam fuhr ich an ihnen vorbei, gerade so schnell, dass meine Magie mir verraten würde, wenn irgendwo in der Nähe ein Werwolf war.

Ohne Spuren gefunden zu haben, machte ich mich auf den Heimweg, wobei ich zuerst noch einmal den Weg von Amys Elternhaus bis zur Firma abfuhr. Die Erkenntnis, dass ich auf diesem Wege keine Anhaltspunkte finden würde, trieb mich in die Resignation. Um die gleiche Zeit wie gestern kam ich nach Hause und rief bei Toni an. Wieder einmal war eine Pizza fällig. Entspannt nahm ich meine Dusche, da sich meine Wizzards, die meine Haut bedeckten, nicht rührten und ich mir einredete, dass alles nicht so schlimm sei, da ich die Wölfe nicht hatte aufspüren können und auch keine der Spuren frisch gewesen war.

Unruhe befiel mich, als ich gerade der Seifenoper lauschte, die im Fernsehen lief, und früher als erwartet die Türglocke läutete.

Als ich durch den Spion sah, überkam mich ein Déjà-vu, mit dem kleinen Unterschied, dass die Person vor meiner Tür nun heftig dagegen hämmerte und Claudia war. Als ich die Tür öffnete, versetzte sie mir anstatt der Tür einen Stoß. Aufbrausend stürmte sie an mir vorbei und ich schloss hinter ihr.

"Kannst du mir das erklären? Als Erstes werde ich überfallen, von drei so Idioten, die meinen dich zu kennen. Dann werde ich in eine Gasse gedrängt, wo sich einer von ihnen, durch welche Specialeffects auch immer, in einen Wolf verwandelt, der mich danach angreift. Sobald der andere ihn zurückgepfiffen hat, schicken mich diese Typen hier her. Ich sage dir, wenn das ein so ein Anmachscheiß ist, den du hier abziehst, damit sich verängstigte Frauen bei dir ausheulen, dann hast du dich bei mir geschnitten. Mich kriegst du nicht ins Bett."

Der Zorn in ihrem Blick war sogar für mich schwer zu ertragen, da er sich komplett gegen mich richtete, ohne dass ich etwas dafürkonnte. Wie kam ich eigentlich immer in Situationen, die derart unangenehm für mich waren? "Ich verspreche dir, dass ich sicher nichts Sexuelles mit dir machen werde. Ich weiß selbst nicht, wer diese Typen sind oder was sie wollen, aber ich meine, du solltest erst einmal duschen und dich umziehen, bevor du wieder auf die Straße gehst." Ich sah an ihr herab.

Ihr Blick sagte mir, dass ich sie erwischt hatte. Niemals würde sie in ihren zerfetzten Klamotten wieder auf die Straße gehen. Das war wohl auch der einzige Grund, warum sie überhaupt hergekommen war. "Wo finde ich was zum Anziehen?"

"Im Schrank dort drüben."

Sie entschied sich für eine meiner schwarzen Jeans und ein rotes Hemd und stapfte wütend ins Bad.

Diesmal klingelte der Pizzabote erst, als sie die Tür bereits hinter sich geschlossen hatte. Ich nahm mein Essen entgegen und aß, während ich die Seifenoper mit mildem Interesse verfolgte. Wie sollte ich wohl Claudia nahe genug an mich heranbekommen, dass ich ihre Erinnerungen manipulieren konnte? Sie würde mir wohl keine Gelegenheit auf dem Silbertablett liefern. Fieberhaft suchte ich nach einer Möglichkeit, sie ihrer Erinnerung zu berauben. Sie würde bestimmt bereitwillig vergessen wollen, was in dieser Nacht geschehen war, wobei sie sich hier bei mir würde ausschlafen müssen. Während ich überlegte, ob es irgendeine andere Möglichkeit gab, wie sie heute noch mein Appartement verlassen konnte und trotzdem ohne eine Erinnerung an die Werwölfe hinausging, riss mich das Geräusch der Badezimmertür aus meiner Trance.

"So Thomas, und nun will ich eine Erklärung. Wie kann es sein, dass diese Typen mich zu dir schicken, wo du doch angeblich gar nichts mit der ganzen Sache zu tun hast?" Sie kam wütend auf mich zu, was mir zeigte, dass ich vielleicht doch leichtes Spiel hatte.

"Ich kenne die Typen wirklich nicht, aber ich finde es eigentlich ganz gut, dass sie Frauen zu mir nach Hause schicken, damit ich ihnen beistehe."

"Das dachte ich mir schon, dass das eine Masche ist, aber mich wickelst du nicht um den Finger."

Während sie näherkam, wurde mir bewusst was sie vorhatte. Ich ritze blitzschnell mein Handgelenk und als sie ihre Hand hob, um mir eine Ohrfeige zu verpassen, war sie mir nahe genug, dass ich meinen Zauber auf ihre Stirn schreiben konnte.

Claudia bewahrte ich nicht davor auf den Boden zu fallen, als ihre Knie nachgaben. Ich hockte mich einfach zu ihr und flüsterte ihr auf Altgriechisch meine Geschichte ins Ohr: Sie hatte wissen wollen, wo ich wohnte und mich aufgesucht, da sie sich dafür interessierte, wie ich Amy herumgekriegt hatte. Daraufhin hatte ich sie eingeladen und … Den Rest würde sie sich selbst ausmalen.

Aufgrund des größeren Widerstandes, den Claudias Gewicht verursachte, meldete sich mein Rücken wieder zu Wort, als ich sie aufs Bett zerrte. Ich zog ihr das Hemd aus und stellte fest, dass die Frau nicht so dumm war, wie ich angenommen hatte. Die Wunden waren desinfiziert und — wo erforderlich — fein und säuberlich verbunden. Ich konzentrierte wieder einmal all meine Magie in mir, um sie zu heilen, um ihren Schmerz in mich aufzunehmen. Durch ihre deutlich geringeren Verletzungen war ihr Schmerz erträglicher als der von Amy und erschöpfte mich weit weniger.

Während ich die Verbände, die nun unnötig geworden waren, entfernte und entsorgte, überlegte ich mir, wie ich die Werwölfe am besten zu fassen bekommen konnte. Ich musste so schnell wie möglich handeln, da ich ansonsten noch vor größeren Problemen stehen würde, als ich hoch war. Wie hatten sie sich meiner gründlichen Suchen entziehen können?

Aufgrund des guten Schlafes in der letzten Nacht war ich nicht wirklich müde. Trotzdem fiel ich neben Claudia aufs Bett und starrte an die Decke. Wieder einmal wurde ich mir durch die Schmerzen in meiner Wirbelsäule jedes einzelnen Wirbels bewusst. So sehr ich auch in den Schlaf abgleiten wollte, so konnte ich es doch nicht. Vor meinen Augen tanzte der Schmerz in den unterschiedlichsten Farben, während ich jeden einzelnen Ton in Claudias unregelmäßiger Atmung neben mir wahrnahm. Selbst als ich mich darauf fokussierte mich an eine Landschaft im Winter zu erinnern, die geräuschlos und friedlich war, fand ich keinerlei Schlaf. Meine Gedanken wanderten immer wieder ab, bis die Schadenfreude über die Wehmut siegte. Ich war wirklich in freudiger Erwartung, was morgen früh passieren würde.

Irgendwann fiel ich in einen leichten Schlaf, in dem mich drei Werwölfe auf Schritt und Tritt verfolgten, deren goldene Augen in der Dunkelheit leuchteten, während sie mich durch die Stadt jagten.

Ayelees

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