Читать книгу Die Wächter von Magow - Band 1: Rendezvous mit dem Rattenkönig - Regina Mars - Страница 5
Rattenplage
ОглавлениеSofie folgte den Blicken der anderen. Das Erste, was sie sah, war eine Bewegung hinter den Tanzenden. An der Wand, ganz unten. Winzige Krallen, dunkle, kleine Körper, in die Höhe gereckte Schwänze.
»Igitt«, murmelte sie. »Ratten.«
Es waren nicht die Ersten, die sie im Koval sah. Die Gäste hätten sich ganz schön geekelt, wenn sie gewusst hätten, wie viele Fallen im Vorratsraum standen. Aber für gewöhnlich zeigten die Viecher sich nicht auf der Tanzfläche. Also, höchstens eine oder zwei. Nicht … Dutzende. Kälte rann durch Sofies Magen.
Was zur Hölle war hier los?
Ein Schrei erklang, irgendwo hinten in der Halle. Die Musik setzte einen Moment lang aus und genau in diesem Moment brüllte jemand. Erst eine Frau, dann noch eine, dann mischten sich Männerstimmen in die Kakophonie, die zu angstverzerrtem Kreischen wurde. Zwischen den Füßen der Tanzenden wuselte und wimmelte es. Modriger Gestank waberte durch die Luft.
Sofie drehte sich langsam um die eigene Achse. Überall Hilferufe, überall Panikausbrüche, das Tanzen wurde zu Schubsen und Rempeln, und dem Versuch, voranzukommen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren.
Die drei Trottel mit den Schwertern stürmten los, in entgegengesetzte Richtungen. Sie sah, wie Jean zwei bullige Kerle zur Seite rammte, wie Isa unter einem Stehtisch durch tauchte und verschwand. Nat wurde von einer Horde panischer Junggesellinnen gerammt und konnte knapp verhindern, dass er von ihnen niedergetrampelt wurde.
Etwas streifte Sofies Knöchel. Als sie nach unten sah, blickten ihr glänzend schwarze Augen entgegen. Gelbe Zähne leuchteten unter der behaarten Schnauze, dann huschte die Ratte weiter. Die nächste trippelte über Sofies Fuß.
»Ekelhaft«, flüsterte Sofie, Würgereiz unterdrückend. »So verdammt ekelhaft.«
Sie musste hier raus. Egal, woher die Viecher kamen, sie musste zum Ausgang, nach draußen, weg von hier. Das dachten leider auch alle anderen. Um den Ausgang sah sie geballte Leiber, wild fuchtelnde Hände. Schmerzensschreie hallten zu ihr herüber. Die Leute steckten fest.
Die Musik stoppte.
Sofie sah sich nach dem DJ um und entdeckte, dass er ebenfalls versuchte, zum Ausgang zu kommen. Ratten trippelten über seinen Laptop, der verlassen auf dem Pult stand. Es stank. Nach Schweiß und Panik, und dazwischen waberte Kanalgeruch, faulig und beißend. Die unzähligen haarigen Körper brachten ihn mit sich. Und den nach Blut. Zwischen den wuselnden Leibern, die den Boden bedeckten lagen winzige, zertrampelte. Ratten, die den Davonstürmenden nicht schnell genug ausgewichen waren. Und … Oh, verdammt. Sofie sah Blut an nackten Beinen herunterlaufen. Bisswunden.
Die hohen Kreischlaute der Flüchtenden und die noch höheren Kreischlaute, die die Ratten ausstießen, gellten in Sofies Ohren.
Raus, dachte sie. Du kannst dir später überlegen, was für ein Wahnsinn das hier ist. Raus.
Aber der Eingang war verstopft. Sie würde durch das Lager fliehen müssen, hinter der Bar. Schon als sie sich umdrehte, hörte sie Dennis schreien.
Ihr Atem stockte. Dennis ruderte wie wild mit den Armen. Sein Gold-Schneidezahn funkelte in dem aufgerissenen Mund, Blut lief über seine tätowierten Arme. Ratten schwärmten über ihn. Ratten, die an seinem Körper hochkletterten, die sich von seinem Brüllen nicht abschrecken ließen. Wenn er eine erwischte und von sich schleuderte, kam sofort eine nach. Sofie sah sein Hawaiihemd nicht mehr vor grauschwarzen Leibern.
»Dennis!« Sie sprintete los. Etwas quietschte unter ihrer Sohle, hoch und fiepsig, wand sich und sie rutschte aus. Sie knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden.
Einen Moment lang war alles weg. Eine Sekunde lang sah sie Lichter, Sterne, grelle Scheinwerfer, die alle auf sie gerichtet waren. Dann schoss der Schmerz durch ihren Schädel. Sie brüllte, griff um sich, wollte sich hochstemmen. Alles, was sie fühlte, war Fell. Warmes Fell, lebendige, kleine Leiber, winzige Rippen. Ein haarloser Schwanz glitt zwischen ihren Fingern hindurch. Beißender Gestank verätzte ihre Nase. Krallen trippelten über ihre Wange.
Sie wollte aufstehen, drehte sich, wand sich, doch sie fand keinen Halt in diesem Meer aus haarigen Körpern. Sie schoben sich unter sie, windend und stinkend und plötzlich bewegte sie sich. Die Scheinwerfer glitten über ihr weg, sie sah das Kaugummi an der Unterseite eines Stehtischs, so viel, wie Stalaktiten hing es herunter und …
Ich werde von Ratten fortgetragen, dachte sie. Fast hätte sie gekichert, aber sie war zu beschäftigt damit, sich nicht vor Ekel zu übergeben.
»Hilfe«, krächzte sie, viel zu leise.
Doch sie wurde gehört. Eine kräftige Hand packte ihren Oberarm und riss sie hoch. Zähne blitzten und der Boden unter ihren Füßen war wieder fest. Winzige Körper flüchteten kreischend.
»Hallo, Süße.« Isa zwinkerte und ließ sie los.
»Hallo«, würgte Sofie hervor. »Oh Gott.« Dann kotzte sie Isa auf die Sandalen, was die mit einem mitleidigen Schultertätscheln quittierte.
»Das ist bald vorbei«, hörte Sofie. »Wir finden jetzt diesen Rattenkönig, machen den rund und dann können wir alle nach Hause gehen. Und du erinnerst dich an nichts, versprochen.«
»Wie soll ich eine Scheiß-Rattenplage vergessen? Die wollten mich entfüh...« Die letzten Worte gingen in einem trockenen Würgen unter.
»Entführen?« Isa lachte herzlich. »Na klar. Sorry, ich muss los. Meine Kumpel sind in Schwierigkeiten.«
Sofie hob den Kopf. Nur wenige Meter entfernt standen Nat und Jean auf dem Tresen und droschen mit ihren Schwertern auf eine nicht endende Flut grauschwarzer Leiber ein. Die Ratten griffen von allen Seiten an, kletterten über Barhocker und trippelten fauchend über das Brett mit den frisch angeschnittenen Zitronenscheiben auf der Bar.
Sofie beschloss, zu kündigen.
Aber erst mal musste sie Dennis retten. Wo war der hin? Hinter Nat und Jean, die inzwischen Rücken an Rücken standen, war nichts zu sehen. Seltsam. Die Ratten hatten es eindeutig auf die beiden abgesehen. Am Ausgang, wo es sich lichtete, wuselten nur noch vereinzelte Leiber herum.
»Keine Angst, Jungs!«, rief Isa und stürmte auf die Bar zu. Sofie folgte ihr. Wo war Dennis?
»Isa!« Nats Gesicht war kalkweiß. Eine Ratte sprang auf ihn zu und er zerteilte sie in der Luft.
»Verreckt, ihr verkackten Drecksviecher!«, brüllte Jean und trat eine Horde Ratten von der Bar. Quiekend segelten sie durch die Luft. Das Schwert blitzte und plötzlich waren es doppelt so viele Rattenteile, die herumflogen.
Es ging so schnell, dass Sofie nicht reagieren konnte. Ein kopfloser Leib schoss auf sie zu, drehte sich in der Luft … und landete in ihrem Ausschnitt. Sie spürte die letzten Zuckungen auf ihrem Brustbein.
»Oh Gott«, murmelte sie und übergab sich zum zweiten Mal in zwei Minuten. Würgend stolperte sie weiter. Die Rattenleiche plumpste unten aus ihrem Shirt heraus und blieb liegen.
Isa nahm Anlauf, duckte sich und sprang auf die Theke. Sie landete genau zwischen Nat und Jean, die ihr Platz machten. Die Ratten flüchteten. Kreischend stoben sie auseinander, als wäre Isa ein Anti-Magnet, der sie abstieß.
Warum?, dachte Sofie und gleich darauf: Egal. Es gab einen rattenfreien Ort im Raum, genau da, wo sie eh hinwollte.
Schwer atmend erreichte sie die Theke und hielt sich daran fest. Wie benommen hörte sie die Unterhaltung über ihrem Kopf.
»Das sind viel zu viele. Es sollten höchstens zwanzig sein. Ist der König endlich aufgetaucht?« Isa.
»Nee, das Vieh lässt sich Zeit.« Jean.
»Sind alle sicher rausgekommen?« Nat. Richtig, die Schreie und das Getrampel der Füße verklangen langsam.
»Bestimmt.« Isa seufzte. »Das ist so ziemlich der ekligste Auftrag, den wie je hatten.«
»Ekliger als der Smorgul von Spandau?«, fragte Nat. »Oder der Panke-Bandwurm?«
»Der war eklig«, stimmte Isa zu. »Aber nichts im Vergleich zu … He, die Barkeeperin ist ja noch da.«
Sofie sah hoch. Drei Gesichter musterten sie. »Was geht hier vor?«, krächzte sie wie ein drittklassiger Detektiv.
»Ihr habt ein Rattenproblem«, sagte Jean.
Nat hielt ihr eine Hand hin und zog sie auf die Theke.
Jean verzog das Gesicht. »Und du stinkst nach Kotze.«
»Das liegt daran, dass mir ein verblödeter Fußballtrainer eine Rattenleiche in den Ausschnitt geworfen hat«, sagte sie.
»Fußballtrainer?« Er schaute, als hätte sein bester Spieler den Elfmeter vergeigt.
»Ja, du …«, begann sie, aber Nat unterbrach sie.
»Schaut mal«, sagte er und sie schauten.
Sie waren allein. Vier Trottel auf einer Bar, in einer leeren, schmucklosen Halle, durch die immer noch Scheinwerfer strichen, als würden sie nach etwas suchen. Rot, blau, gelb … Es roch nach Blut, Kanal und Trockeneis. Und da waren die Ratten. Still wie ein Teppich aus tausend Leibern standen sie da und sahen zu ihnen hoch. Sie bedeckten den gesamten Boden, nur rund um die Bar war er frei. Ein Ring hatte sich um die Theke gebildet. Sofie sah nach hinten und erblickte weitere Ratten im Gang zum Vorratsraum und hinter der Theke. Keine Spur von Dennis. Ihre Kleidung klebte vor Blut und Schweiß wie eine halb abgepellte Haut und trotzdem fror sie.
»Warum kommen sie nicht her?«, fragte Sofie.
»Sie haben Angst vor Isa«, sagte Nat und lächelte. »Glücklicherweise.«
»Warum?« Sie musterte Isa, die auf der Theke stand, die Hände in den Taschen ihrer furchtbaren Jogginghose vergraben und das Rattenmeer musterte.
Nat zuckte mit den Achseln und wich Sofies Blick aus.
»Ratten haben halt Angst vor Kötern«, brummte Jean.
»Vor Wölfen, Loverboy.« Isa zwinkerte Sofie zu. »Ich bin ein Werwolf.«
»Klar.« Sofie wollte ihr sagen, dass sie den Scheiß jemand anderem erzählen könnte. Aber dann fiel ihr auf, dass sie von einer Rattenmeute umgeben waren, die unnatürlich still stand, miteinander zu flüstern schien und eben versucht hatte, sie zu entführen. »Echt jetzt? Ein Werwolf?«
»Jupp.« Isas Lächeln hatte eindeutig etwas Wölfisches. Die Eckzähne waren spitz und … praktisch. Perfekt dafür geeignet, Fleisch von Knochen zu reißen. Sofie schauderte.
Das Flüstern wurde lauter. Das Rascheln scharrender Krallen. Die Ratten verharrten, als hätte man ihnen befohlen, stillzuhalten, egal, was ihre rättische Natur ihnen befahl. Nervös trippelten sie an Ort und Stelle. Ein zitternder Fellteppich breitete sich zwischen den Betonwänden aus.
Ja, ich sollte wirklich kündigen. Sofie atmete tief ein und schmeckte Kanalwasser, Salz und Säure. Sobald ich die Rattenmeute und die Schwerttypen und den Werwolf überlebt habe, kündige ich.
Sie zögerte. Wurde sie verrückt? Hatte sie in Wahrheit Dennis' Glas mit ihrem verwechselt und, was immer der für lustige Pillen darin auflöste, getrunken? Bildete sie sich das nur ein?
»Schaut nur, wie ruhig sie sind«, flüsterte Nat. Er räusperte sich, und als er wieder sprach, klang er, als wollte er ein Kätzchen von einem Baum locken. »He, ihr Kleinen. Habt ihr Angst vor uns? Keine Sorge, wir wollen nur euren König. Sobald der besiegt ist, seid ihr wieder frei.«
»Was laberst du da?«, zischte Jean, die Ratten nicht aus den Augen lassend.
»Ich versuche, mit ihnen zu reden.«
»Lass das. Du klingst wie ein Idiot.«
»Lass ihn in Ruhe.« Isa schnupperte. »Und konzentriert euch. Er wird gleich da sein. Schaut mal, wie die Kleinen zittern.« Sie tippte an ihr Ohr. Oh, da musste ein kabelloser, hautfarbener Kopfhörer sein. »Babe? Hörst du das? Ist das normal?«
Sie lauschte. Sofie lauschte ebenfalls, konnte aber nichts hören. Wer immer mit Isa kommunizierte, musste sehr leise sprechen. Auf Jeans und Nats Gesichtern erschien der gleiche konzentrierte Gesichtsausdruck und Sofie wünschte sich, auch einen Ohrstecker zu haben.
»Alles klar.« Nat lächelte. »Danke. Dann sollte das kein Problem sein. Einfach den Knoten zerschlagen und die Verbindung zerfällt.«
»Welchen Knoten?«, fragte Sofie Nat.
»Den Schwanzknoten.«
»Den was?«
»Siehst du gleich.« Er deutete mit dem Kopf zum Ausgang. Dort bebte der Fellteppich, zitterten die Ratten, als wäre etwas im Anmarsch. War es auch.
Der Kanalgeruch wurde stärker. Beißender Verwesungsgestank waberte herein. Sofie kannte ihn. Im Sommer roch es so, wenn die überfahrenen Katzen am Straßenrand von Maden zerfressen wurden, wenn die nackten Küken aus den Nestern fielen und verendeten.
Das, was durch die Tür kam, roch schlimmer als jedes tote Tier.