Читать книгу Kyla – Kriegerin der grünen Wasser - Regina Raaf - Страница 4

1. Kapitel

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Als sie erwachte, erkannte Kyla, dass man sie in einen Käfig gesperrt hatte. Er war so niedrig, dass sie nicht einmal darin hätte stehen können, wenn sie kräftig genug gewesen wäre, um sich zu erheben. Kauernd rüttelte sie an den eisernen Stäben. Sie nahm sich Strebe um Strebe vor, doch ihr Gefängnis war stabil, ohne eine Schwachstelle aufzuweisen.

Kyla wusste nicht, wohin man sie gebracht hatte und ihr Kopf dröhnte heftig. Sie blinzelte in die Düsternis, die von einer kleinen Fackel direkt über ihrem Käfig nur spärlich erhellt wurde; die weitere Umgebung war für ihre Augen undurchdringlich. Kyla hatte den Eindruck, dass es sich um eine Höhle handelte, denn in der Ferne erkannte sie einen hellen Fleck, der mit großer Sicherheit ins Freie führte, dessen Licht hier jedoch nichts mehr ausrichtete.

Ihr Gesicht und ihre Brust klebten vom getrockneten Wildschweinblut – und nun wurde ihr übel davon. Sie erinnerte sich daran, wie das metallisch schmeckende Zeug ihre Zunge benetzt hatte und wie sie es die Kehle hinab gezwungen hatte – nun nahm es die umgekehrte Richtung. Kyla erbrach sich so heftig, dass sie nach wiederholtem Würgen bittere Galle schmeckte. Es passierte ihr nicht zum ersten Mal, dass sie die verschlungene Nahrung unfreiwillig wieder hochwürgen musste. Wann immer sie ein verendetes Tier fand, nährte sie sich davon, selbst wenn der Gestank sie eigentlich hätte warnen sollen. Kyla hatte nichts in ihrem Leben gelernt, außer sich zu nähren, um zu überleben. Und das tat sie aus reinem Instinkt. Es hatte niemanden gegeben, der ihr etwas gezeigt hatte.

In ihrer Erinnerung hatte es lange Zeit nichts als den Wald, die Pflanzen und Tiere um sie herum gegeben – und der Kampf mit alldem, um die besten Nahrungsmittel, und um das wenige genießbare Wasser. Flüsse, Bäche und Seen waren durch Parasiten verseucht, sodass die Tiere, die daraus tranken, elendig krepierten. Von diesen Kadavern hatte Kyla sich schon frühzeitig so fern wie möglich gehalten. Wenn der brennende Hunger es verlangte, hatte sie gejagt. Sie verteidigte sich und ihre Beute mit bloßen Händen, den Zähnen und ihrer List. Sie kämpfte gegen Dumpids, die auf allen vieren liefen und mit ihrem gefleckten Fell kaum auszumachen waren. Die Zähne dieser Raubtiere waren gefährliche Waffen, und wer das Pech hatte, gleich mehreren Dumpids zu begegnen, konnte so böse Verletzungen davontragen, dass er noch an Ort und Stelle verblutete. Mehr als einmal hatte Kyla den gefährlichen Konkurrenten ihre gerade erlegte Beute überlassen und schnell die Flucht ergreifen müssen.

Aber nicht nur wilde Tiere waren eine Gefahr, auch die Mari-Pflanze machte Kyla das Erlangen von Nahrung schwer, denn mit ihren dicken Ranken umschlang sie ausgerechnet die nahrhaftesten und verträglichsten Pilze, die der Wald zu bieten hatte. Einmal von diesen Pflanzen in Besitz genommen, verdorrten die Pilze, und mit ihnen alles im gesamten Umkreis, bis der Boden wie verbrannt aussah. Kyla hatte gelernt, mit scharfkantigen Steinen die widerspenstigen Ranken zu entfernen, doch die Mari-Pflanze ließ sich trotz großer Anstrengungen oft nur unzureichend beseitigen. Wenn Kyla die Pilze dennoch aß, fühlte sich ihr Bauch danach selbst so an, als würden Ranken darin ihr Unwesen treiben. Aber auch das war immer noch besser, als zu verhungern. Doch nun, da sie in diesem Käfig saß und anderen Chyrrta ausgeliefert war, beschloss Kyla, dass es an der Zeit war, zu sterben. Denn wenn es ihr gelänge, ihrem Leben auf diese Art selbst ein Ende zu setzen, würde man sie nicht quälen können.

Der Tod schreckte sie nicht. Immerhin verging alles, was gelebt hatte, irgendwann – die Tiere und die Pflanzen. Auch genügend Chyrrta hatte Kyla schon sterben sehen, um zu wissen, dass ihre eigene Gattung keine Ausnahme bildete. Irgendwann hatte sie damit begonnen, sich in die Siedlungen zu schleichen und das Leben der anderen Chyrrta zu beobachten. Über viele Jahreszeiten hinweg hatte sie sie immer wieder heimlich beobachtet, um ihre Neugier zu befriedigen und ihnen zugehört, um ihre Sprache zu erlernen. Viele Handlungsweisen waren ihr zuerst völlig fremd gewesen, doch mit der Zeit hatte sie begriffen, was sie zu bedeuten hatten. Staunend hatte sie zugesehen, wie die Bewohner neue Häuser bauten und sie instand hielten. Sie hatte beobachtet, wie sie miteinander umgingen und ihresgleichen in verschiedenen Situationen behandelten. Streit, Versöhnung, Lachen, Weinen, Hass und Liebe – im Laufe der Zeit hatte sie die Wörter zu den Beobachtungen begriffen und alles, was dazugehörte. Vieles war seltsam gewesen – körperliche Vereinigungen, die mal friedlich, oft genug jedoch auch wie ein Kampf aussahen. Kyla hatte begriffen, dass sie nicht immer freiwillig stattfanden – ebenso wenig wie viele der anderen Dinge, zu denen manche Chyrrta gezwungen wurde. Vor allem die Frauen hatten keine Wahl, was Kyla erzürnte, da sie inzwischen begriffen hatte, dass ihr Körper diesen benachteiligten Chyrrta glich. Das Wort Sklavin fiel mehrfach und Kyla wünschte sich, sie hätte es niemals gehört, denn es bereitete ihr größtes Unbehagen. Lieber würde sie sterben, als so leben zu müssen, wie diese Sklavinnen! Nun stand sie kurz davor, eine zu werden, da war sie sich sicher, und daher war sie bereit für den Tod – ihr Körper schien ihrem Bestreben zuzustimmen, denn erneut verlor sie das Bewusstsein.

Kylas Augenlider flackerten. War sie tot oder lebendig? Als sie kurze Zeit später vollends erwachte, wurde sie angestarrt. Ein Paar Augen blickte sie aus der Dunkelheit an – bösartig und blutunterlaufen. Erst glaubte sie, ein wildes Tier würde sie taxieren, doch dann erkannte Kyla, dass es ein Chyrrta war, der vor ihrem Käfig stand. Sein stinkender Atem drang in ihre Nase. Und nun furzte ihr Beobachter auch noch – schlagartig war Kyla sich ziemlich sicher, dass sie nicht tot war.

»Du mageres Gerippe! Du bist es nicht mal wert, dass die Tokals dich fressen. Zu viel Dreck für zu wenig Futter«, spie ihr Beobachter ihr entgegen. Kyla versuchte, ihre Stimme furchtlos klingen zu lassen. »Wer bist du? Warum bin ich in einem Käfig?«

Ihre erste Frage wurde ignoriert. »Warum ich dich in einen Käfig gesteckt habe, willst du also wissen. Damit du nicht abhauen kannst, das ist ja wohl klar! Ich habe dich niedergeschlagen, als du fliehen wolltest, und nun bist du mein gesetzmäßiges Eigentum. Ein schönes Eigentum – nichts als Ärger wirst du mir bringen! Ich denke, ich werde dich ersäufen wie einen streunenden Tokal. Vermutlich hast du genauso viel Ungeziefer an dir. Was denkst du? Ich könnte dich in den Fluss werfen.« Kyla nickte. Der Mann stutzte und spuckte auf den Boden. Er gab erneut ein geräuschvolles Furzen von sich, ehe er mit seiner Pranke gegen den Käfig schlug, sodass dieser heftig in Bewegung geriet. Kyla schrie erschreckt auf, als die Umgebung sich zu drehen schien.

»Du dummes Gör hast gekotzt! Es stinkt erbärmlich!«, schrie ihr Peiniger. Kyla sammelte allen Mut, der ihr noch geblieben war.

»Du stinkst doch selbst! Sogar schlimmer als das eklige Flusswasser!« Der Mann starrte sie entgeistert an, dann lachte er. Kyla bekam eine Gänsehaut, denn es steckte eine Boshaftigkeit in seinem Gelächter, die sie das Fürchten lehrte. Doch schließlich zündete er eine Kerze an und stellte sie auf einen Felsvorsprung, um die Höhle in mehr Licht zu tauchen. Dann öffnete er den Käfig, zerrte Kyla hinaus und schubste sie zu einem Rinnsal Wasser, das an der Höhlenwand neben der Kerze hinablief.

»Zieh dich aus und wasch dich!« Sie tat nichts dergleichen. Er grunzte, wandte sich ab und stapfte in Richtung des Ausgangs der Höhle davon. Kyla stand da – zitternd, hungrig und schwach. Sie berührte die Kleidungsstücke, die sie aus Blättern und dünnen Zweigen selbst gefertigt hatte, um ihre Blöße zu bedecken, wie sie es bei Mädchen in den Dörfern gesehen hatte. Es war anfangs ungewohnt gewesen, sich zu bekleiden, doch nun fühlte sie sich unsicher, weil sie die schützenden Blätter ablegen sollte.

Kyla lauschte. Die Höhle schien zu atmen – ein fauliger, keuchender Atem, der rhythmisch über ihren Körper strich und ihr trotz der feuchten Wärme eine Gänsehaut bescherte. Die Wände der Höhle waren schwarz-grün, modrige Flechten hingen von der Decke. Links von ihr verlor sich der Blick in undurchdringlicher Schwärze. In diesem Teil der Höhle konnte sich alles Mögliche verstecken, das sie aus der Finsternis beäugte. Vielleicht eine Kreatur, die bereits darauf lauerte, sie zu ihrer Beute zu machen. Oder der feiste Kerl war, von ihr unbemerkt, durch einen Seitentunnel dorthin gelangt, um zu beobachten, was sie nun tun würde. Er hätte natürlich ebenso gut einfach neben ihr stehen bleiben und sie mit Gewalt zwingen können, sich zu entkleiden. Doch vielleicht liebte er das Versteckspiel und wollte auskosten, dass sie sich sicher fühlte, um dann zuzuschlagen und sie so noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen. Kyla kannte solche Geschichten aus Erzählungen junger Chyrrta-Frauen, die sie belauscht hatte. Sie waren zu Sklavinnen gemacht worden. Kyla hatte schnell begriffen, dass sie nicht frei waren und tun mussten, was jemand anderer ihnen befahl – es hatte sie zutiefst angewidert. Also hatte sie sich weiterhin versteckt vor der Welt, die sie offensichtlich schon früh vergessen hatte. Das Mädchen wusste weder woher es stammte, noch, warum es niemanden hatte, der bei ihm war. Mutter und Vater – das waren nur zwei Wörter, denen sie nicht mehr Bedeutung zumessen konnte, als jedem anderen beliebigen Wort, das sie bei ihrem Herumschleichen in den Dörfern gelernt hatte. Bislang hatte sie es immer geschafft, sich zu verstecken, ohne erwischt zu werden, doch das Blatt hatte sich nun eindeutig gewendet.

Kyla sah in den dunkelsten Teil der Höhle. Normalerweise hätte sie diesen Weg bevorzugt, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das diesmal ein tödlicher Fehler sein könnte – denn was auch immer sich dort verbarg, sie würde ihm mit großer Sicherheit nicht entfliehen können. Sie blickte in die andere Richtung. Der Ausgang der Höhle lag in einiger Entfernung, aber Kyla konnte schnell rennen und war sich sicher, dass sie es in kurzer Zeit schaffen konnte, die Höhle zu verlassen. Doch was mochte dort auf sie warten? Sie war nicht so einfältig, zu glauben, ihr Besitzer würde sie entkommen lassen. Nun hatte das Schicksal auch sie ereilt, dem sie jahrelang durch das Verstecken in den Wäldern hatte entkommen können: Sie war zu einer Sklavin geworden.

Als sie plötzlich ein unheimliches Heulen aus der Finsternis zu ihrer Linken hörte, entschied sich Kyla doch für einen Fluchtversuch. Was sollte ihr draußen schon Schlimmeres passieren als hier drin, wo sie den Feind nicht einmal sehen konnte, bevor es zu spät war? Mit zittrigen Beinen lief sie los. Ihre nackten Füße wurden vom felsigen Untergrund aufgerissen, aber Kyla lief noch schneller. Eine Kante im Boden brachte sie zu Fall. Der Schmerz in den Knien war stark, aber Kyla sprang sofort wieder auf die Füße und rannte dem Sonnenlicht entgegen.

Die Luft wurde besser, das Atmen fiel ihr leichter und sie gewann noch einmal an Geschwindigkeit – nur um dann, kurz vor dem Ausgang, von einer Faust niedergestreckt zu werden. Kyla fiel, ihr Kopf schien nicht mehr auf ihrem Hals zu sitzen. Die gerade noch so tröstliche Helligkeit und Wärme waren verschwunden und machten einer weiteren Ohnmacht Platz.

Als Kyla das Bewusstsein wiedererlangte, sah sie das Gesicht einer Frau über sich. Diese sprach leise auf sie ein – es waren beruhigende Worte. Kaum, dass Kyla versuchte, sich aufzurichten, wurde die Frau fortgezogen. Es war der feiste Kerl – ihr Besitzer, der das Mädchen nun rücksichtslos auf die Beine zog.

»Kannst du stehen?«, fragte er barsch. Sie taumelte, nickte aber. Er lachte, als sie auf ihre blutigen Knie fiel.

»Du überschätzt dich! Dürres Gerippe! Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen? Du schaffst es doch nicht einmal bis zur Brücke, die für dich ohnehin gesperrt ist. Und versuche besser nicht, den grünen Fluss zu durchqueren – du würdest auf der Stelle von den Parasiten zerfressen werden. Ein äußerst schmerzhafter Tod. Und den willst du doch wohl nicht erleiden, oder?«

Kyla wusste nicht, ob die Drohung oder die Warnung in seiner Stimme überwog. Sie versuchte es herauszufinden, indem sie ihm in die Augen sah, doch sie konnte es immer noch nicht ergründen. Er schnaubte wütend, als er ihren forschenden Blick bemerkte. »Glotz mich nicht so an, verdammtes Balg! Du bist ein Klotz an meinem Bein. Ich weiß, du wirst mir noch Unglück bringen.«

Kyla wollte nicht warten, bis er sie wieder schlug. Sie sprang auf und lief zur Brücke, die in einiger Entfernung über die tosenden Fluten führte. Das Mädchen lief, so schnell es konnte, trotz der Schmerzen und der neuerlichen Schwärze, die sie umfangen wollten. Kyla wusste, dies war ihre letzte Chance, dem Schicksal als Sklavin zu entkommen. Nur am Rande nahm sie wahr, dass niemand ihr folgte.

Der Dicke hatte davon gesprochen, dass die Brücke gesperrt wäre, doch das war sie nicht! Er hatte sie doch nur von ihrer Flucht abhalten wollen und es behauptet, weil er wusste, dass er sie aufgrund seiner Schwerfälligkeit niemals würde einholen können. Kyla fühlte die Angst von sich abfallen, als sie ihren ersten Fuß auf das hölzerne Konstrukt setzte. Sie rannte noch einige Schritte, als plötzlich in der Mitte der Brücke ein schweres Eisengitter zu Boden krachte. Kyla wollte es nicht glauben. Sie lief dorthin und blickte panisch zu den Seiten. Das Gitter reichte bis weit um die Brücke herum und war mit messerscharfen Widerhaken versehen. Kyla sah nach oben – dort warteten im Sonnenlicht funkelnde Reihen von Pfeilspitzen nur darauf, einen Körper zu durchlöchern.

»Bist du dummes Gör etwa taub? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht entkommen kannst!« Kyla wirbelte herum. Hinter ihr hatte ihr Besitzer die Brücke betreten und kam langsam auf sie zu. Kyla drängte sich nah ans Gitter und blickte ins Wasser. Strudel und scharfkantige Felsen erstreckten sich, soweit sie sehen konnte. Einen Sprung würde sie nicht überleben. Aber selbst wenn, würden letztendlich die Parasiten ihren Mut doch mit einem qualvollen Tode bestrafen. Es galt nun, eine Entscheidung zu treffen. Entweder beendete sie ihr erst kurz währendes Leben, oder sie gab sich geschlagen, um auf eine bessere Möglichkeit zur Flucht zu warten. Der Dicke war stehen geblieben. Er breitete die Arme aus. Es war eine seltsame Geste; selbstherrlich und resigniert zugleich.

»Siehst du, es gibt keinen Weg für dich. Aber wenn du sterben willst, dann entscheide dich nun, denn ich habe heute noch Wichtigeres zu tun, als mich mit dir zu beschäftigen.«

Kyla starrte ihn an. Machte er sich etwa lustig über sie? Über ihre Wunden? Über ihre Angst? Über ihre Gefangenschaft? Erneut sah sie in den Fluss. Es würde schnell gehen, wenn sie jetzt den Mut aufbrachte, sich hineinzustürzen.

»Na los, spring! Tu es! Niemand will dich hässliches Ding!«, herrschte der Dicke sie an. Kyla traten die Tränen in die Augen. Er zuckte mit den Schultern. »Aber wenn du nicht springen willst, dann komm jetzt von der Brücke herunter und geh zu Olha! Sie wird deine Wunden versorgen und dir etwas zu essen geben.« Damit wandte er sich ab und ging davon. Kyla stand da wie festgewachsen. Ihren Plan, sich in den Fluss zu stürzen, hatte sie inzwischen aufgegeben, dennoch war sie unfähig, sich zu bewegen. Die Frau namens Olha – die sich zuvor schon über Kyla gebeugt hatte – wartete geduldig, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Kyla konnte sich nicht überwinden, zurückzukehren. Sie setzte sich auf die Brücke und Olha tat es ihr an Land gleich. So verging eine ganze Weile, in der sie sich nur stumm gegenseitig beäugten. Als Kylas Kehle immer trockener wurde, weil sie den Sonnenstrahlen nicht entkommen konnte, stand sie auf und ging mit langsamen Schritten zurück.

Olha erhob sich, als Kyla bei ihr angekommen war, sagte sie: »Geh zurück in die Höhle und wasch dich! Das Wasser ist klar und bringt keine Krankheiten. Es ist die einzige Quelle hier, der du vertrauen darfst. Auch wenn die anderen Wasser dich locken, denke immer daran, dass darin Parasiten leben, die dich von innen heraus auffressen. Lass dich von den Geräuschen in der Höhle nicht schrecken. Es ist der Wind, der sich durch die engen Spalten drängt und wie gepeinigte Tiere klingt. Wenn du fertig bist, tritt vor die Höhle, damit ich deine Wunden verbinden und dich ins Haus bringen kann.«

Kyla schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn auch wenn die Frau nicht unfreundlich war, war Kyla doch klar, dass sie verloren hatte. Auch Sklavinnen wurden genährt, damit sie ihre Dienste verrichten konnten. Es war also nur logisch, dass man sich auf diese Art um sie kümmerte, und es bedeutete keineswegs, dass sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen durfte. Wie zugeschnürt war ihre Kehle, als sie zum Eingang der Höhle ging – zurück an den Ort, an dem ihre aussichtslose Flucht begonnen hatte.

»Mädchen, sag mir deinen Namen!«, forderte Olha. Kyla blieb stehen, drehte sich um und reckte stolz das Kinn in die Höhe, obwohl ihr in Wahrheit unendlich elend war.

»Ich heiße Kyla!« Sie hatte diesen Namen für sich selbst ausgesucht, als sie alt genug gewesen war, um zu begreifen, dass jedes Wesen einen brauchte. Sie hatte den Frauen und Mädchen im Dorf zugehört, und eine war dabei gewesen, die den Mut ihrer Tochter gepriesen hatte, die von einem Rudel Lantos angegriffen worden war und noch auf dem Sterbebett geschworen hatte, ihre Mutter als Geist aus der Sklaverei zu befreien. Kyla hatte den Namen des Mädchens für sich selbst gewählt, weil sie ihre Stärke bewundert hatte. Doch nun fragte sie sich, ob der Name wirklich so passend war, denn genau wie ihre Namensgeberin würde auch sie in Unfreiheit sterben. Und Kyla war sich sicher, dass sie über kurz oder lang sterben würde, wenn man sie zwang, Dinge zu tun, die sich nicht tun wollte. Olha schien ihre Gedanken erraten zu können. Sie lächelte ein wenig.

»Wenn du ihn nicht zum Narren hältst, musst du keine Angst haben, dass Zygal dich schlägt. Ohne Grund geschieht dies so gut wie nie. Aber wenn du noch einmal versuchst zu fliehen, kann ich dir nur raten, sofort in den Fluss zu springen, denn er hasst es, jemandem hinterherrennen zu müssen. Und Kyla – ich hasse es auch!«

Damit ließ sie sie stehen und entfernte sich mit einer so aufrechten Haltung, dass es für Kyla einfach nicht zum Bild einer Sklavin passen wollte. Olha verschwand in einem Steinhaus, aus dessen Schornstein eine dünne Rauchfahne in den blauen Himmel stieg. Kyla blickte in die Höhle. Hatte sie sich wirklich vom Heulen des Windes täuschen lassen? Sie ging hinein und lauschte. Ja, das Geräusch war wohl tatsächlich darauf zurückzuführen.

Langsam schritt sie vorwärts. Ihre Füße mochten den steinigen Untergrund nicht, und ihre Knie fühlten sich durch das getrocknete Blut klebrig an. Kyla ging zu dem Wasserrinnsal und hielt die Hände darunter. Wenn dies die einzig sichere Quelle war, mussten Zygal und Olha dankbar sein, dass sie stetig Wasser abgab. Aber vielleicht hatte Olha sie auch angelogen, um sie von diesem kostbaren Gut an anderer Stelle fernzuhalten. Kyla legte vorsichtig die Blätter ab, die ihr als Kleidung dienten, und wusch sich. Immer wieder sammelte sie mit ihren Händen Wasser zusammen, um es dann auf ihrem Körper zu verteilen. Es dauerte lange, bis sie sich sauber genug fühlte, um ihre Blätterkonstrukte wieder anzulegen. Als sie fertig war, wagte sie sich ein Stück weiter in die Dunkelheit vor. Das Heulen wurde lauter, und obwohl es wahrscheinlich war, dass der Wind nur mit ihr spielte, hatte Kyla das Gefühl, tausende Augen würden sie lauernd verfolgen.

»Bist du da drin eingeschlafen?« Es war Olha, die verärgert klang.

»Nein, ich komme!«, rief Kyla zurück und erschrak, weil ihre Stimme sich in der Höhle so seltsam anhörte. Sie beeilte sich, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Olha sah sie von oben bis unten an.

»Dieses Zeug hättest du direkt weglassen können. Hier, zieh das stattdessen an.« Sie reichte ihr Kleidungsstücke aus Stoff, die seitlich mit Lederriemen zusammengehalten wurden. »Mach schon! Beeil dich jetzt.«

Kyla streifte sich nur widerwillig die Blätter ab, dann schlüpfte sie schnell in die ihr dargebotenen Kleidungsstücke. Olha half ihr dabei, sie mit den Lederriemen dicht an ihren Körper anzupassen.

»Weißt du, wie alt du bist?«, fragte Olha. Kyla schüttelte den Kopf.

»Du musst noch sehr jung sein. Vielleicht neun oder zehn Sommer. Möglicherweise aber auch jünger. Nicht mal der Ansatz einer weiblichen Brust ist bei dir zu erkennen – dafür jede einzelne Rippe in deinem Körper.« Sie seufzte, holte eine kleine Flasche hervor und deutete auf einen großen, flachen Stein.

»Setz dich da drauf und lass mich deine Wunden sehen. Diese Essenz wird helfen, sie richtig zu reinigen und die Heilung zu beschleunigen. Anschließend kaust du diese Beeren. Sie helfen gegen die Entzündungen.«

Kyla sah zu, wie Olha sie reinigte, dann zermalmte sie mit ihren Zähnen wie befohlen die schwarzen Beeren. Die Früchte schmeckten fürchterlich, aber wenn Olha sie vergiften wollte, hätte sie sich wohl kaum die Mühe gemacht, erst ihre Wunden zu versorgen.

»Du bist wirklich ein mageres Ding. Kein Wunder, dass du dich sogar am Mahl der Herrscherin vergriffen hast. Du kannst froh sein, dass du nicht an Ort und Stelle totgeschlagen wurdest.«

»Unser Sklavenhalter schlägt mich bestimmt noch tot«, erwiderte Kyla düster. Olha sah sie einen Moment lang schweigend an, dann sagte sie: »Du bist dumm wie ein Stück Jantholz!«

»Jantholz?«, fragte Kyla, die über die Reaktion der Frau verwirrt war. »Ja, dumm wie Jantholz – das sagen wir hier so, wenn jemand rein gar nichts versteht. Das Zeug ist so wurmstichig, dass es zum Bauen nicht taugt – und genauso löchrig sind offenbar auch deine Gedanken, sonst würdest du nicht solchen Unsinn über Zygal erzählen.«

»Schlägt er dich denn nicht?«, fragte Kyla erstaunt. Olha schnaubte. »Ich bin Zygals Gefährtin, nicht seine Sklavin – und das bist auch du nicht. Hier, im Reich der Herrscherin Paraila gibt es keine Sklavinnen. Man merkt, dass du von außerhalb der Mauern kommst, aber die Welt hier drin ist anders.«

Kyla hatte schon fast vergessen, dass sie sich jetzt innerhalb der Undurchdringlichen Mauern befand – das, was sie sah, ähnelte ihrer eigenen Welt so sehr, dass es ihr schwerfiel, den Unterschied zu begreifen.

»Also bin ich frei? Warum hat mich Zygal dann seinen Besitz genannt?« Olha seufzte, sie fasste Kyla sanft ans Kinn, damit diese sie ansehen musste. »Weil du jetzt unser Kind bist. Und Kinder sind hier im Reich der Herrscherin das Eigentum ihrer Eltern. Doch das wird nicht so bleiben – wenn du alt genug bist, bist du eine freie Frau. Bis dahin rate ich dir jedoch dringend, Zygals und meinen Befehlen Folge zu leisten. Denn ansonsten wirst du die Zeit der Freiheit vielleicht nie erreichen.« Kyla starrte sie an. Gerade noch versuchte sie zu begreifen, dass sie nun das Kind dieser Leute war, als auch schon die Drohung folgte, dass sie diesen Stand vielleicht nicht überleben würde.

»Sieh mich nicht so erschrocken an. Beachte einfach nur, was ich dir sage, dann wird dir nichts geschehen. Reize Zygal nicht – er hat viel auf sich genommen, indem er dir ein Zuhause gibt. Und er wird noch sehr viel mehr auf sich nehmen. Mehr, als du vielleicht jemals begreifen wirst, also zolle ihm Respekt!«

Kyla schluckte. Sie verstand nicht alles, was Olha sagte. Aber sie hatte begriffen, dass es nun Chyrrta gab, zu denen sie gehören sollte – nicht als Sklavin, sondern als deren Kind. Es dauerte geraume Zeit, bis sie wieder sprechen konnte. Olha gewährte sie ihr. »Dann bist du jetzt meine Mutter?«

»Ja, das bin ich«, bestätigte Olha mit einem Lächeln. Wenig später saß Kyla im Haus an einem Holztisch und sah zu, wie Olha aus einem großen Topf Suppe in eine Schüssel füllte. Sie stellte sie vor Kyla auf den Tisch und setzte sich dem Mädchen gegenüber.

»Iss, bevor die Suppe kalt wird!« Sie öffnete ein Tongefäß und legte ein paar Stücke Brot neben die Schüssel. Kyla griff nach der Schüssel und führte sie zum Mund. Sie erschrak, als die heiße Flüssigkeit ihre Lippen berührte, und verschüttete einen Teil davon. Olha schimpfte zu ihrem großen Erstaunen nicht, sondern erhob sich, um ein Stück gewebten Stoff zu holen und das Nasse vom Tisch zu wischen. Kyla probierte die Suppe erneut, und diesmal gelang es ihr, sie problemlos zu trinken.

»Du kannst den Löffel für das Gemüse und das Fleisch benutzen«, sagte Olha und deutete auf das Gebilde, das auf dem Tisch lag. Kyla griff danach, sah es interessiert an und tauchte es dann in die Suppe. Sie war davon begeistert, wie einfach es nun war, die in der Brühe schwimmende Nahrung in ihren Mund zu führen. Olha sah ihr eine Zeit lang schweigend zu.

»Hast du immer nur in den Wäldern gelebt?«, fragte sie schließlich. Kyla nickte, nicht willens, das Essen für so etwas Unwichtiges wie ein Gespräch zu unterbrechen.

»Was ist das Erste, an das du dich erinnern kannst? Waren da Wesen, die auf dich achtgaben? Eltern? Du kannst doch unmöglich ganz alleine gewesen sein, sonst hättest du mit Sicherheit nicht überlebt.«

Kyla kaute ein Stück Fleisch und häufte sich gleich ein neues auf den Löffel, um auch das zu verzehren, bevor sie antwortete. »Ich kann mich an niemanden erinnern. Vielleicht waren da mal Chyrrta, die mich gemacht haben. Ich weiß es nicht. Vielleicht gingen sie irgendwann weg. Ich kann mich an niemanden erinnern«, sagte sie dann noch einmal und aß weiter. Olha nickte. »Was ist denn das Erste, an das du dich erinnern kannst?«, wiederholte sie ihre vorherige Frage. Kyla überlegte. »Ich erinnerte mich an den ersten Firi, den ich sah. Er war zu jung zum Fliegen. Ich habe ihn aus dem Nest genommen und ihm den Kopf abgebissen – aber seinen Schnabel habe ich ausgespuckt, weil er zu hart zum Kauen war.«

Olhas Mund war zu einem schmalen Strich geworden. »Und an was erinnerst du dich noch?«

Kyla überlegte abermals und fuhr mit vollem Mund fort: »Ich habe dem Firi den Flaum abgerupft und seinen weichen Körper gegessen. Ich erinnere mich, dass er gut schmeckte. Dann habe ich nach mehr Firis gesucht, aber ich fand keine. Deshalb aß ich Würmer und Schnecken – aber die haben nicht so gut geschmeckt.«

Olha verzog angeekelt das Gesicht, doch dann kehrte sie zu ihrer gelassenen Mine zurück. »Du kannst dich also nur daran erinnern, was du gejagt hast? Was ist mit anderen Erinnerungen? Hast du keine Chyrrta gesehen? Weißt du irgendwelche Namen aus deiner Vergangenheit?«

Kyla schüttelte den Kopf. »Nein, so etwas weiß ich nicht ...« Olha sah sie forschend an und Kyla fühlte sich unbehaglich. Als die Tür mit einem heftigen Stoß geöffnet wurde, zuckten beide zusammen.

»Zygal, mach doch nicht immer so einen Lärm, wenn du das Haus betrittst!« Olha sah ihren Gefährten tadelnd an, erhob sich dann und fragte: »Möchtest du Suppe?« Er gab ein Grunzen von sich, was Olha wohl als Zustimmung deutete, denn sie füllte ihm ebenfalls eine Schüssel. Kyla bemerkte Zygals brennenden Blick und bemühte sich, die Suppe zu löffeln, ohne etwas zu verschütten.

»Also hat das Gör sich doch noch gewaschen. Und statt im Fluss zu ersaufen, isst es uns jetzt die Suppe weg.« Er ließ sich Kyla gegenüber auf einem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. Kyla hielt den Blick gesenkt, aber sie hatte aufgehört, zu kauen.

»Du machst ihr Angst. Iss, Kind! Bis morgen früh wird dies die letzte Mahlzeit sein.« Kyla aß weiter, auch wenn ihr Mund plötzlich ganz trocken war. Zygal hatte seine riesigen Pranken auf den Tisch gelegt. Sie waren voller Narben, ein Nagel war schwarz verfärbt.

»Hast du die Hufeisen für die Pferde der Herrscherin fertig geschmiedet?«, fragte Olha. »Die für ihr eigenes Pferd und die für die Pferde ihrer Reiter. Den ganzen Tag hat es gedauert. Und dank dieses Görs wäre ich beinahe nicht fertig geworden. Die Reiter kommen morgen bei Sonnenaufgang. Das Pferd der Herrscherin bringen sie mit, damit ich die Hufeisen anpassen kann. Es wird Zeit, dass sie kommen, denn dann erhalten wir auch unsere versprochene Ware.« Olha schien zufrieden.

Kyla sah Zygal verstohlen an, während er aß. Er war also ein Schmied, der im Auftrag der Herrscherin arbeitete. Aber warum lebte er dann nicht bei ihr am Palast? Und warum war sein Land durch eine Brücke mit einem so unüberwindbaren Fallgitter geschützt? Nach allem, was Kyla über die anderen Chyrrta durch ihre heimlichen Streifzüge wusste, lebten die meisten Frauen in Gefangenschaft. Bei Olha schien das jedoch tatsächlich anders zu sein. Vielleicht hatte sie ja mit ihrer Behauptung recht gehabt und innerhalb der Undurchdringlichen Mauern gab es andere Regeln zwischen Männern und Frauen. Kyla wusste zu wenig darüber, doch sie fühlte sich auch nicht in der Lage, länger darüber nachzudenken, denn nachdem sie mit dem Essen fertig war, überfiel sie eine tiefe Müdigkeit. Sie spürte, wie ihr Kinn auf die Brust sank, um dann bereits im nächsten Moment von ihr hochgerissen zu werden. Sie durfte nicht schlafen! Nicht hier – nicht, solange diese Chyrrta hier waren, die ihr jederzeit etwas antun konnten. Kyla wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt in den Wald zu kriechen und sich unter einem dichten Strauch auf den weichen Boden zu legen.

»Ich werde Kyla ihre Kammer zeigen. Das Kind gehört ins Bett nach all den Aufregungen.« Zygal hieb mit der Faust auf den Tisch, sodass Kyla aufschreckte. »Sie wird sich gedulden, bis ich Zeit für sie habe. Das Kind soll warten, bis ich mit dem Essen fertig bin!« Olha sah ihn entgeistert an. »Du wirst sie in Ruhe lassen!«, fuhr sie ihn an. Kyla spürte Panik in sich aufsteigen – was meinte Olha damit? Was hatte Zygal mit ihr vor?

»Du weißt, dass ich das nicht kann. Und nun kein Wort mehr!« Olha sah sehr unglücklich aus, aber sie schwieg. Kyla saß da und hörte, wie Zygal die Suppe schlürfte. Schließlich rülpste er und erhob sich so schnell, dass Kyla zusammenzuckte.

»Bring sie jetzt ins Bett! Ich werde folgen«, forderte er Olha dann auf. »Komm, Kind! Du brauchst Schlaf. Unsere Tage beginnen früh.« Sie fasste Kyla am Arm und führte sie in einen angrenzenden Raum, an den ein weiterer Raum angegliedert war. Kyla sah sich um. Gab es hier eine Möglichkeit, zu fliehen? Der Raum, in dem sie schlafen sollte, hatte kein Fenster, außerdem stand Olha direkt neben ihr. Nun betrat auch Zygal das Zimmer; er sah alles andere als freundlich aus. Kyla verspürte wieder den unbändigen Wunsch, fortzulaufen. Sie erinnerte sich jedoch nur zu gut an Olhas Warnungen – und sie wusste, sie könnte in ihrer Müdigkeit Zygal niemals entkommen. Vielleicht würde sie in der Dunkelheit der Nacht mehr Glück haben, zu entkommen.

»Leg deine Kleider ab! Das ist dein Bett. Leg dich hinein und mach es dir bequem«, sagte Olha.

»Ich möchte meine Kleidung anbehalten«, begehrte Kyla auf, obwohl sie wusste, dass es gefährlich war, zu widersprechen. Doch Olha nickte.

»Gut, von mir aus. Morgen fertige ich dir ein Nachthemd an. Leg dich nun in dein Bett!« Kyla war froh, dass ihr erlaubt worden war, die Kleidung anzubehalten. Mehr würde sie derzeit nicht erreichen können, um ihre Lage erträglicher zu machen, also legte sie sich wie befohlen ins Bett. Olha breitete eine Decke über sie, während Zygal durchs Zimmer ging und eine Kiste öffnete, die in der Ecke stand. Ein metallisch klirrendes Geräusch ließ Kyla vor Panik aufspringen.

»Nein, bleib liegen! Er wird dir nicht wehtun, aber wehre dich nicht!« Olhas Stimme klang eindringlich. Sie drückte Kyla mit der Hand nieder. Zygal kam neben das Bett und hielt eine Eisenkette in der Hand. Er legte einen Ring aus dem gleichen Material um Kylas Handgelenk und sorgte mit einem Schloss dafür, dass er hielt. Dann legte er die offenbar eigens zu diesem Zweck geschmiedete Kette und einen weiteren Ring so an, dass Kylas rechte Hand an den Rahmen des Bettes gefesselt war. Die Kette war lang genug, dass das Mädchen sich drehen konnte, aber ein Entkommen war ihm nun unmöglich. Kyla sank der Mut.

»Das sollte nicht zu unbequem sein, aber es wird dich davon abhalten, einen törichten Fluchtversuch zu unternehmen – oder uns gar in der Nacht anzugreifen. Schlaf jetzt, du dürres Gör!«

»Nenn sie doch nicht immer so, Zygal. Ihr Name ist Kyla.« Der Schmied schnaubte, doch dann brummte er: »Schlaf gut, Kyla.«

Obwohl sie todmüde war, konnte Kyla nicht einschlafen. So viele Dinge gingen ihr durch den Kopf – so viele Fragen. Dass sie in Gefangenschaft geraten war, hätte einfach nicht passieren dürfen. Der Hunger war schuld daran – Hunger war schuld an fast allem!

Manchmal – wenn Kyla es wagte, zu träumen – dann stellte sie sich vor, dass sie jederzeit so viel Essen könnte, wie sie wollte, und dass sie jederzeit sauberes Wasser hätte. Aber das war eine zu kühne Vorstellung, und deshalb hatte sie ihr niemals zu lange nachgehangen. Von einem warmen Bett, wie sie welche bei ihren Streifzügen durch die Dörfer gesehen hatte, hatte sie ebenfalls ab und zu fantasiert. Denn auch wenn das Moos die bequemste Lagerstätte überhaupt war, hatte es doch den Nachteil, dass sie es mit einer Unzahl von kriechenden und krabbelnden Wesen teilen musste, die sich nachts von ihrem Blut nährten. Kyla war stets bewusst gewesen, dass auch sie für das Überleben anderer Wesen notwendig war – solange es keines war, das sie in Stücke riss und ihr damit das Leben nahm, arrangierte sie sich damit. Aber die Vorstellung, in einem Bett zu schlafen, das sauber und frei von Ungeziefer war, hatte Kyla immer fasziniert. Nun lag sie in einem solchen, aber geborgen fühlte sie sich nicht. Sicher, sie musste nicht frieren und nichts krabbelte über ihre Haut – aber sie war angekettet! Und Ketten waren schlimmer als jeder Parasit. Sie musste unbedingt eine Fluchtmöglichkeit finden. Aber wie sollte ihr das gelingen? Der Schmied verstand sein Handwerk offensichtlich, denn die Glieder der Kette waren ohne sichtbare Schwachstellen gefertigt und das Material so dick, dass Kyla es unmöglich mit ihren Kräften verbiegen konnte – selbst einem ausgewachsenen Mann wäre es wohl kaum gelungen. Kyla betrachtete den großen Ring, der um ihr Handgelenk lag, doch auch dieser war unnachgiebig, genau wie der zweite, der sie ans Bett fesselte.

Kyla begriff, dass ihr eine Flucht noch in der gleichen Nacht nicht gelingen würde. Sie musste ihr Glück am nächsten Tag versuchen. Doch zuvor wäre es klug, das Gelände näher zu erkunden, um eine Stelle zu finden, an der sie entkommen konnte. Auch die Höhle würde sie näher erforschen müssen, denn diese barg ein Geheimnis, da war Kyla sich ganz sicher. So undurchdringlich das Dunkel auch war, vielleicht gab es gerade dort einen Weg, der sie von Zygal und Olha wegführen würde. Olha und Zygal – Mutter und Vater … Kyla fühlte sich bei dem Gedanken daran ebenso unsicher, wie in ihrem Bett. Es klang wie etwas Gutes, aber der Preis dafür war viel zu hoch. Eltern, bei denen man in Gefangenschaft leben musste, waren Feinde – nichts weiter. Und dass Zygal ihr gefährlich werden konnte, daran hatte Kyla keinen Zweifel. Nein, sie würde so schnell wie möglich fliehen müssen. Aus dem Wohnraum hörte sie Olhas Stimme – sie war leise, also lauschte Kyla. »Denkst du, sie ist es?« Auch Zygal sprach ungewohnt leise, doch er war besser zu verstehen. »Ich weiß es nicht. Sie ist so jung, so klein, so zerbrechlich.«

»Wenn dir das bewusst ist, warum hast du sie dann ein weiteres Mal geschlagen? Auf dem Platz vor dem Palast musstest du sie an der Flucht hindern – aber hier? Hier kann sie nicht entfliehen, und du solltest sie nicht unnötig quälen.«

Kyla sank der Mut, als sie hörte, was Olha über ihre Fluchtmöglichkeiten sagte. Vielleicht wollten die beiden sie auch nur täuschen – aber es klang nicht so.

»Wenn sie die ist, die uns prophezeit wurde, dann wird sie noch viele Qualen durchmachen müssen. Und wenn sie es nicht ist, wäre es gut, dieses dürre Gör gleich totzuschlagen. So oder so wären wir besser dran, wenn sie nicht überlebt.«

Kyla versuchte, gleichmäßig weiter zu atmen, auch wenn ihre Kehle vor Angst eng geworden war. Zygals Stimme hatte entschlossen geklungen – ob er gleich zu ihr kam und sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde? Doch Olhas Stimme klang ebenfalls entschlossen:

»Ich weiß, dass du Angst hast, aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Und genau das werden wir tun!« Angst? Zygal hatte Angst? Kyla wollte ihren Ohren nicht trauen. Wovor sollte dieser Mann wohl Angst haben? Und von welcher Aufgabe hatte Olha gesprochen? Sie lauschte noch angestrengter, damit ihr die leise Antwort von Zygal nicht entging.

»Diese Aufgabe fordert einen zu hohen Preis. Bislang hatten wir stets Glück, dass sich die Kinder als Irrtümer herausstellten – aber bei diesem hier ...«

»Also glaubst du, sie ist es wirklich?« Olha klang aufgeregt. Ein langes Schweigen folgte und Kyla glaubte schon, sie hätte Zygals Erwiderung überhört, oder er würde Olha einfach nicht antworten. Doch dann hörte sie ihn sagen:

»Trotz ihrer Jugend und körperlichen Schwäche könnte sie es sein. Ich werde mich daher morgen früh mit den Reitern der Herrscherin zum Palast begeben.«

Von Olha war nichts mehr zu hören, aber Kyla vermutete, dass sie zugestimmt hatte. Nur wenig später hörte sie das Rücken von Stühlen und die beiden näherten sich ihrem Zimmer. Kyla lag ganz still und hielt die Augen geschlossen. Wenn sie bemerkten, dass sie ihr Gespräch mit angehört hatte, würde Zygal es sich vielleicht anders überlegen und sie auf der Stelle erschlagen. Sie musste Zeit gewinnen, um zu entkommen – denn über was Olha und Zygal gesprochen hatten, war Kyla ein Rätsel. Sie wusste weder, was eine Prophezeiung war, noch verstand sie, warum Zygal Angst wegen ihr hatte. Vermutlich hatte sie aufgrund der leisen Stimmen alles falsch verstanden. Kyla hörte, wie die Schritte sich entfernten – die beiden gingen in das angrenzende Zimmer. Nur kurz darauf legten sie sich, den Geräuschen nach, zu Bett. Kyla spürte Wut und Verzweiflung in sich aufsteigen. Zygal und Olha hatten vermutlich nie auf Moos schlafen müssen. Sie hatten nie Tiere gefangen und sogar die essen müssen, deren lebendiger Anblick tiefe Freude bereitete. Sie waren weder Regen noch Sturm, noch den heftigen Blitzen des Himmels nahezu schutzlos ausgeliefert gewesen – und sie waren nicht einsam, sondern sie hatten einander. Mit welchem Recht hatten sie ihr die Freiheit genommen? – das einzige, was Kyla je wirklich besessen hatte!

Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie versuchte, nicht zu schluchzen. Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch von nebenan – Zygal stöhnte. Ob er Schmerzen hatte? Hoffentlich hatte er welche und starb noch in dieser Nacht! Olha zu entkommen, würde dann ganz leicht sein. Kyla lauschte abermals. Zygals Schmerzen wurden größer – das Stöhnen lauter. Und dann stöhnte auch Olha. Die Krankheit schien sehr ansteckend zu sein. Angstvoll dachte Kyla, dass vermutlich auch sie bereits dem Tod geweiht war. Doch dann kicherte Olha plötzlich und Zygal keuchte ihren Namen und sagte ihr, wie wunderschön sie sei.

Kyla erinnerte sich an einige Beobachtungen, die sie bei ihren Streifzügen durch die Dörfer gemacht hatte: Männer und Frauen hatte sie durch Fenster gesehen – ihre Körper vereint. Bei den Tieren hatte Kyla so etwas schon öfter beobachtet, und sie wusste, dass die Weibchen schon bald darauf ihresgleichen gebaren. Es bei Chyrrta zu sehen, bereitete Kyla jedoch immer tiefes Unbehagen. Männer und Frauen gaben dabei so seltsame Laute von sich, die ihr Angst machten. Kyla wollte niemals so klingen! Und ein Kind gebären wollte sie schon gar nicht, denn das sah nicht nur furchtbar aus, sondern war offenbar auch über die Maßen schmerzhaft. Als es im Zimmer nebenan schließlich still wurde, war Kyla erleichtert und enttäuscht zugleich. Besser wäre es gewesen, die beiden wären gestorben – doch wer würde dann am nächsten Tag ihre Fesseln lösen?

Kyla erwachte, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Der Raum lag im Dunkeln, und aus dem Nebenraum war Schnarchen zu hören. Sie versuchte, ihre Hand durch den eisernen Ring zu bekommen, der das Gelenk umschloss, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vielleicht hätte sie die Suppe nicht essen sollen – vielleicht könnte sie ja so lange auf Nahrung verzichten, bis er einfach abfiel. Ihr wurde bewusst, dass sie bis dahin vermutlich längst verhungert sein würde. Möglicherweise konnte sie die Hand irgendwie abtrennen – aber auch das verwarf sie sehr schnell. Kyla wurde sich bewusst, dass sie so früh am Tag offensichtlich noch nicht klar genug denken konnte, um wirklich brauchbare Entscheidungen zu treffen. Als nebenan ein röchelndes Husten zu hören war, zuckte sie zusammen.

»Schlaf weiter, ich werde im Dorf frühstücken«, hörte sie Zygal sagen.

»Aber wäre es nicht gut, wenn ich den Reitern der Herrscherin ein Frühstück zubereite?«, fragte Olha mit müder Stimme.

»Nein, ich möchte nicht, dass du Bahanda begegnest.«

»Du meinst den Reiter mit der Tätowierung, von dem du mir erzählt hast?«

»Ja, ich traue ihm nicht. Bleib im Haus, bis ich mit den Männern fortgeritten bin.«

»Das werde ich. Sei vorsichtig und lass dich auf keine Streitereien ein«, erwiderte Olha.

»Wenn möglich, werde ich ihnen aus dem Weg gehen. Außerdem habe ich anderes zu erledigen. Ich komme zurück, sobald ich kann. Pass auf Kyla auf und lass sie keinen Moment aus den Augen. Falls das nicht möglich ist, kette sie zuvor an. Gib ihr nicht die Möglichkeit, dich überraschend anzugreifen. Denk immer daran, dass du ihr nicht vertrauen kannst.«

Es tat weh, das zu hören – ein seltsames Gefühl, aber schon kurz darauf entschied Kyla, dass es besser war, für gefährlich gehalten zu werden, statt für schwächlich. Zygals verschiedene Meinungen über sie verstand sie trotzdem nicht. Mal war sie in seinen Augen nur ein dürres Gör, dann wieder eine ernst zu nehmende Gefahr – und am Tag zuvor hatte er fast freundlich geklungen, als er ihren Namen sagte. Auch jetzt hatte er ihn wiederholt und Kyla empfand es aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, als tröstlich. Sie rief sich zur Ordnung. Was nutzte es schon, wenn man von demjenigen, der einen tötete, zuvor beim Namen genannt worden war? Was sollte daran tröstlich sein? Nein, sie musste aufpassen, diese Chyrrta nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen.

Als Zygal das Schlafzimmer verließ und durch ihr Zimmer ging, schloss Kyla schnell die Augen. Sie hörte, dass er stehen blieb – ob er zu ihr herüber sah? Dann entfernte er sich hörbar und Kyla öffnete vorsichtig die Augen. Sie blickte zum angrenzenden Wohnraum. Ein rötlicher Schimmer drang dort zum Fenster hinein und kündigte den neuen Tag an. Wenn Kyla in den Wäldern schlief, war das der Zeitpunkt, an dem sie aufstand, um den Tau noch von den Blättern lecken zu können, bevor die wärmer werdende Sonne ihn verschwinden ließ. Hier gab es jedoch keinen Grund, noch vor dem Sonnenaufgang aufzustehen – und vor allem blieb ihr keine Möglichkeit dazu. Also drehte sie sich noch einmal um, schloss die Lider und dämmerte in einen leichten Schlaf hinüber.

Das Geräusch von Pferdehufen weckte sie wenig später. Kyla hörte Stimmen. Es waren die von Zygal und ein paar Männern, die mit ihm sprachen. Dann hörte sie weitere Geräusche: das Gackern von Hühnern und andere Tierlaute, die sie nicht einordnen konnte. Abermals vernahm sie Stimmen, und Gegenstände wurden offenbar umhergetragen, denn ein paar Männer keuchten vor Anstrengung. Kurz darauf erklang erneut Hufgetrappel, dann wurde es still. Der Schmied schien tatsächlich mit ihnen geritten zu sein.

Kyla fragte sich, was er bei der Herrscherin wollte. Aber im Grunde konnte es ihr egal sein – sie würde ohnehin alles daransetzen, Olha zu entfliehen, denn nun war diese alleine, und sie würde ganz sicher keine Gewalt anwenden, um Kyla an einem Entkommen zu hindern. Mit diesem Gedanken schlief Kyla erneut ein, bis sie schließlich von Olha geweckt wurde.

»Steh auf, mein Kind! Wir haben heute jede Menge zu tun – wie jeden Tag. Es ist ein arbeitsreiches Leben hier auf unserem Landstück. Aber das Gute ist, dass du mir jetzt helfen kannst.«

Kyla sah sich verwirrt um. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Es erstaunte sie, dass sie noch einmal so tief und fest geschlafen hatte. Wie spät es wohl inzwischen sein mochte? Die Sonne schien zumindest schon gleißend hell durch das Fenster im Nebenraum herein. Und nun nahm Olha einen Sonnenschutz aus dicht geflochtenem Stroh von der Wand, woraufhin auch in Kylas Zimmer ein kleines Fenster sichtbar wurde, durch das ebenfalls die Sonne unbarmherzig hereinschien. Kyla blinzelte und blickte sich um. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet. Ein Schrank mit zwei Türen, die geschlossen waren, daneben war ein schmales Regal an der Wand angebracht, auf dem eine Bürste aus Wildschweinborsten lag. Der einzige Schmuck bestand aus einem Hufeisen an der Wand, neben dem ein kleiner Strauß getrockneter Blumen hing. Olha deutete zum Fenster. »Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Es ist bereits früher Mittag. Heute haben wir die Morgenstunden verschlafen, weil Zygal es so wollte. Er weiß, wie wichtig der Schlaf für dich ist – und für mich ebenfalls. Für dich, weil du noch wächst und nach deinem Leben in der Wildnis erst einmal zu Kräften kommen musst, und für mich, weil ich vor kurzem erst von einer langen Krankheit genesen bin. Es sah so aus, als würde ich sie nicht überstehen, aber Zygal hat um mich gekämpft wie ein Tarnut. Tagelang ist er nur von meiner Seite gewichen, um die Tiere zu füttern. Er konnte in dieser Zeit nicht schmieden, und das hat uns fast unsere Existenz gekostet. Darum ist es umso wichtiger, dass die Herrscherin ihm heute seinen Lohn zahlt. Wir haben Lebensmittel bekommen, außerdem drei Ziegen und zehn Hühner. Die letzten hatte ein Rudel Tokals geholt. Sie haben die Tiere bis auf ein paar Federn gänzlich aufgefressen – es war ein sehr trauriger Tag für Zygal und mich, der uns viel Kummer bereitet hat. Doch nun, mit dem Geld, das Zygal mitbringen wird, und genügend Tieren, um ein paar davon später eintauschen zu können, sollte unsere Zukunft vorerst gesichert sein. Außerdem haben wir nun genügend Hühner, um nach und nach eins davon zu schlachten. Wir sind also gut versorgt und können dich noch mit durchfüttern.«

Olha lächelte knapp und fuhr dann fort: »Heute müssen wir die Ställe vorbereiten und die Tiere dann dort hinbringen. In den nächsten Tagen werden sie sich an uns gewöhnen. Hast du schon mal ein Tier gehalten?« Kyla, die sich inzwischen erhoben hatte und nun auf ihrem Bett saß, überlegte. »Ich hatte mal einen Hasen. Eins seiner Beine war gebrochen.«

Olha sah sie mitleidig an. »Und? Hast du ihn heilen können?«

»Nein.«

»Das tut mir leid. Dann ist der Hase gestorben?«

»Ich habe ihm nach zwei Sonnenaufgängen das Genick gebrochen. Drei Tage lang konnte ich von ihm essen.« Olha schwieg. Schließlich nickte sie, deutete auf die Tür und sagte: »Hier musst du keinen Hunger leiden, solange Zygal und ich es nicht selbst müssen. Wir werden nun in die Küche gehen, um etwas zu essen. Dreh deinen Kopf herum und blicke zur Wand.« Kyla sah sie verwirrt an, dann begriff sie. Olha hielt einen Schlüssel in der Hand, um das Schloss von Kylas Fesseln zu öffnen. Da sie sich dazu bücken musste, hatte sie vermutlich Angst, dass Kyla ihr unmittelbar danach einen Schlag auf den Kopf versetzen könnte. Damit Kyla nicht wusste, wann genau das Schloss geöffnet wurde, sollte sie also den Blick abwenden. Zögerlich kam sie der Aufforderung nach.

»Ich sage dir, wenn du dich wieder umwenden darfst. Gehorche mir, Kyla, sonst wirst du den ganzen Tag in Fesseln verbringen!« Olha klang strenger, als Kyla es erwartet hatte. Sie glaubte dennoch, dass es leichter wäre, ihr zu entkommen, als Zygal – oder gar beiden gemeinsam. Als die Kette klirrend von ihr abfiel, verspürte Kyla eine unendliche Erleichterung. Der ganze Tag lag vor ihr, und sie würde ihn nutzen, um auf sicherem Wege zu entkommen. Doch zuerst wollte sie das genießen, was Olha ihr anbot – ein Frühstück, ohne dafür erst jagen oder sammeln zu müssen. Gemeinsam gingen sie in die Küche.

»Setz dich auf diesen Stuhl!«, wies Olha sie an. »Wenn du aufstehen willst, fragst du mich zuvor um Erlaubnis. Ich werde ein paar Eier braten, die unsere neuen Hühner gelegt haben. Es sind gute Tiere – nicht mal durch den holperigen Transport haben sie sich schrecken lassen.« Sie lächelte, und das sah so glücklich aus, dass Kyla einen kurzen Stich verspürte, weil sie vorhatte, ihr Ärger zu bereiten. Frisches Brot stand auf dem Tisch, daneben mehrere kleine Stückchen Butter. Kyla lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte mal etwas Butter auf dem Markt gestohlen und sie gierig verzehrt. Danach war ihr etwas schlecht gewesen, aber sie hatte sich auch wunderbar wohlig gefühlt. Sie freute sich darauf, dieses Gefühl erneut zu erleben. Das bratende Ei verströmte einen angenehmen Geruch. Kylas Magen knurrte vernehmlich.

»Ist gleich fertig, dann können wir zusammen essen.« Olha war ganz auf ihr Tun am Herd konzentriert und Kyla wusste, dass sie jetzt zwar fliehen könnte, aber ohne die Gegend zuvor ausgekundschaftet zu haben, würde sie ohnehin nicht weit kommen – abgesehen davon hielt das verlockende Frühstück sie fester an Ort und Stelle, als jede Kette es vermocht hätte. Olha verteilte das Ei auf zwei Tellern und stellte einen davon vor Kyla, den zweiten ihr gegenüber. Dann setzte sie sich davor und wies auf das Brot und die Butter.

»Bediene dich! Wenn du mir heute keinen Ärger machst, darfst du morgen von der Marmelade probieren, die ich eingemacht habe. Sie ist so süß und fruchtig, dass deine Sinne vor Freude tanzen werden.« Sie lächelte wieder, und es sah verschwörerisch aus. Ganz so, als würde sie mit Kyla ein Geheimnis teilen. Nun wurde es Kyla noch mulmiger, weil sie vorhatte, Olha Ärger zu bereiten. Sie rief sich zur Ordnung. Was nutzte es ihr, dass ihre Besitzerin freundlich war? Solange sie nicht hingehen durfte, wo sie wollte, würde sie fliehen müssen. Aber die Sache mit der Marmelade klang wirklich verlockend, und Kyla hatte noch nie welche gegessen, was ihre Neugier umso größer machte. Sie griff zum Brot und brach etwas davon ab. Dann nahm sie mit den Fingern ein Stück Butter auf und schob es sich in den Mund. Olha sah ihr zu. Dann griff sie zu einem Gegenstand aus Metall, nahm damit geschickt ein wenig von der Butter auf und verteilte sie auf einer Scheibe Brot. Sie hielt den Gegenstand hoch und sagte: »Das ist ein Messer für den Gebrauch bei Tisch. Du kannst damit Brote bestreichen oder Fleisch klein schneiden. Du hast auch eines. Probiere es doch mal aus!«

Kyla bemerkte erst jetzt, dass neben ihrem Teller ebenfalls ein solcher Gegenstand lag. Sie hob ihn hoch und betrachtete ihn.

»Es ist nicht sehr scharf. Aber es gibt auch welche, die haben eine Klinge an der du dich schneiden kannst. Sie werden als Waffen benutzt. Zygal wird sie dir zeigen«, erläuterte Olha. Kyla war über die Ankündigung erstaunt. Einmal hatte sie ein solches Messer gesehen – bei einem Wachmann, der auf dem Markt nach dem Rechten gesehen hatte. Er hatte den scharfen Gegenstand kurz aus seiner Tasche gezogen und dann wieder weggesteckt. Kyla hatte dem Mann lange nachgesehen, aber er hatte das Messer nicht wieder berührt, und sie war ein wenig enttäuscht darüber gewesen.

»Weißt du, Zygal ist eigentlich Waffenschmied«, erklärte Olha. »Er kümmert sich zwar auch um die Hufeisen, die für die Pferde am Palast benötigt werden, aber vor allem stellt er solche Waffen her – große und kleine. Du solltest immer vorsichtig damit sein, wenn er dir eine anvertraut.«

»Warum sollte er das tun?«, fragte Kyla erstaunt. Olha lächelte kurz und es sah zu Kylas Verwunderung traurig aus. »Er wird es tun, weil er es tun muss. Frag jetzt nicht weiter danach. Kyla, ich möchte, dass du uns vertraust, denn wir werden auch dir vertrauen müssen.« Stille entstand, dann nickte Kyla, auch wenn sie das alles nicht verstand. Olha seufzte. »Es wird dauern«, sagte sie. Statt etwas zu erwidern, nahm Kyla mit dem Messer ein Stück Butter auf und verteilte es, so wie Olha zuvor, auf ihrem Brot, um sich dieses dann komplett in den Mund zu schieben. Olha beobachtete sie und Kyla bemerkte den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel.

Als sie das Frühstück beendet hatten, räumten sie gemeinsam die Sachen vom Tisch und wuschen das Geschirr ab. Als sie damit fertig waren, sagte Olha: »Ich werde dir andere Kleidung geben, die du zum Arbeiten trägst. Zieh dich um und komm dann vors Haus. Wir werden den Hühnerstall ausmisten und später eine Einzäunung für die Ziegen errichten. Solange müssen die Tiere an einem Pflock angebunden bleiben. Pass auf, dass du keinen der Stricke löst, sonst müssen wir die Tiere wieder einfangen, und das ist ein Arbeitsaufwand, den wir uns wirklich ersparen sollten.«

Kyla nickte und sah zu, wie Olha Kleidung aus dem Schrank nahm. Sie hielt ein Stück nach dem anderen hoch, um es Kyla zu zeigen. Es waren viele verschiedene Kleidungsstücke, die den Körper so bedecken würden, wie es für eine erwachsene Frau üblich war. Olha traf eine Auswahl und reichte die Kleidung an Kyla. Diese nahm sie an und ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen, während Olha bereits das Haus verließ. Es war ungewohnt, so weiches Material am Körper zu spüren. Es gefiel ihr. In dieser Kleidung konnte man sich gut bewegen, ohne dass die Haut aufgescheuert wurde. Kyla folgte Olha nach draußen. Die Sonne schien, und der Boden um das Haus herum war trocken und staubig. In ein paar Schritten Entfernung ging er in eine ausgetrocknete Wiesenfläche über, die nur stellenweise saftiges Grün aufwies. Kyla vermutete, dass diese Bereiche regelmäßig mit Wasser versorgt worden waren. Das war sicher sehr anstrengend, aber um den Tieren Futter zu bieten, musste man die harte Arbeit nun mal auf sich nehmen.

Zur rechten Seite standen vereinzelt Bäume, sie alle trugen Früchte. Kyla lief bei dem Anblick das Wasser im Munde zusammen. Hinter den Obstbäumen wurde das Land vom breiten Fluss umsäumt, der eine natürliche Barriere darstellte. Zur Linken des Hauses erstreckte sich eine Felswand, die glatt und steil emporragte und eine Flucht praktisch unmöglich machte. Doch in dieser unüberwindbaren Gesteinswand befand sich die Höhle, die Kyla unbedingt näher erforschen wollte. Was, wenn sie so weit reichte, dass sie hinter den Bergen ins Freie führte? Sicher, wenn sie sich komplett durch diesen massiven Berg erstreckte, musste sie wirklich lang und vermutlich auch sehr gefährlich sein, aber es war immerhin eine Möglichkeit, Olha und Zygal zu entfliehen. Kylas Blick ging zur Brücke. Sie sah so einladend aus – nur ein paar Schritte, um das Stück Land ihrer Besitzer zu verlassen. Doch dass dies unmöglich war, hatte Kyla inzwischen begriffen. Vielleicht würde sie jedoch herausfinden, wie der Mechanismus funktionierte, der das Fallgitter auslöste. Möglicherweise würde sie ihn ja irgendwie blockieren können. Im Laufe ihres Lebens hatte sie gelernt, dass es oft Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen gab, und das machte Kyla so viel Mut, dass sie lächelte.

»Es ist ein schöner Tag, nicht wahr? Du wirst sehen, die Arbeit macht Spaß, denn sie sichert unsere Zukunft. Und das ist nun auch deine Zukunft, Kyla. Bei Zygal und mir wird es dir gut gehen.«

Erneut verspürte Kyla einen Stich, dass sie Olha so enttäuschen würde, aber das hatte diese sich nun mal selbst zuzuschreiben. Wenn sie ein Kind wollte, dann sollte sie sich eins machen lassen – wie es ging, hatten Zygal und sie ja offenbar begriffen, wie sie in der Nacht zuvor festgestellt hatte. Kyla war das Kind von niemandem. Sie gehörte zu keinem und würde sich alleine durchschlagen, weil sie es immer so getan hatte. Ja, ihr Entschluss stand fest. Nun musste sie nur noch auf den richtigen Moment warten.

Während sie das alte Stroh aus dem Hühnerstall kehrten, liefen die Hühner aufgeregt zwischen ihren Füßen umher. »Nun geht doch endlich raus, ihr neugierigen Viecher! Ihr seid viel zu furchtlos, als gäbe es nicht genügend Gefahren. Was seid ihr nur für ein dummes Federvieh?«

Kyla musste lachen, weil eines der Hühner Olha nun aufmerksam ansah und dann ein Gegacker von sich gab, als wolle es die Beleidigung zurückgeben. Die Luft stank, aber Kyla machte es Spaß, so wild zu kehren, dass der Hühnerdreck nur so umher spritzte. Olha hatte sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden und ihr ebenfalls eines verpasst. Nun kehrten sie beide so kräftig, dass die Hühner doch das Weite suchten. »Ja, kommt später wieder, wenn euer Reich fertig ist!«, rief Olha ihnen hinterher.

Als sie mit dem Ausmisten fertig waren, häuften sie frisches Stroh in den Stall, dann sagte Olha: »Lass uns eine kleine Pause machen, bevor wir das Gehege für die Ziegen errichten.« Sie gingen ins Haus und Olha gab Kyla einen Becher mit einer Flüssigkeit, die sie selbst zubereitet hatte. Sie schmeckte fruchtig und war herrlich kühl. Kyla trank den Becher innerhalb kürzester Zeit leer, Olha schenkte ihr nach. »Sonst habe ich nur Wasser aus einer Quelle getrunken, aber das hier schmeckt viel besser!«

»Das Lob höre ich gerne«, freute sich Olha. Nach kurzer Zeit gingen sie wieder hinaus und Olha deutete auf einige angespitzte Holzpflöcke. »Zygal hat die schon vor Tagen vorbereitet. Auch die Latten liegen schon bereit. Unsere Aufgabe ist es, sie so anzubringen, dass die Tiere sie als Barriere sehen, und dass der Zaun hoch genug ist, damit sie nicht darüber hinwegspringen. Meinst du, wir beide bekommen das hin?« Kyla nickte aufgeregt. Ihr Blick ging zu den Holzteilen, dann schweifte er in eine Ecke, in der ein seltsames Gerät stand. Ein Holzstiel steckte in einem großen, aus Metall gefertigten Keil, der zu beiden Seiten abgeflacht und geschärft war. Kyla wusste, dass das Gerät zum Spalten von Holz benutzt wurde. Sie merkte sich, wo es stand, denn vielleicht würde sie es später noch benötigen. Olha ging plötzlich in diese Richtung, und Kyla glaubte einen Moment lang, sie habe bemerkt, dass sie das Werkzeug ins Auge gefasst hatte. Doch Olha griff es nur, um es zur Seite zu stellen – zum Vorschein kam ein weiteres Werkzeug. Es war ein grober Klotz aus Metall, der fest mit einem Holzstiel verbunden war.

»Das ist einer von Zygals besten Hämmern. Er ist stabil und wird uns eine große Hilfe sein. Leider ist er auch sehr schwer, aber das soll uns nicht schrecken, nicht wahr?« Ehe Kyla antworten konnte, griff sich Olha bereits den Hammer und deutete auf die Holzpflöcke.

»Nimm dir einen oder zwei davon und dann folge mir. Die restlichen holen wir nach und nach. Das Gehege der Ziegen soll so nah wie möglich ans Wohnhaus, damit wir die Tiere im Blick haben.«

Die Sonne wanderte unaufhaltsam weiter, während Olha und Kyla den Zaun errichteten. Sie benutzten den schweren Hammer, um die angespitzten Enden der Pflöcke tief in die Erde zu rammen. Es war anstrengend, aber Kyla gefiel es, zu sehen, wie viel sie bereits geschafft hatten. Sie hielt die Holzpflöcke, während Olha sie in die Erde schlug. Die Ziegen meckerten ab und zu und drängten sich gegenseitig zur Seite, als wäre der Platz der jeweils anderen der bessere.

»Es ist gut, wenn wir bald fertig sind, damit die Tiere sich frei bewegen können.«

Kyla kam der Gedanke, dass Olha den Ziegen damit mehr zugestand, als ihr. Doch obwohl Kyla wusste, dass sie eine Gefangene war, fühlte es sich im Moment gar nicht so an. Die Arbeit bereitete ihr wirklich Freude, und es war ein gutes Gefühl, den Ziegen eine sichere Heimat zu schaffen – auch wenn es im Grunde ebenfalls eine Gefangenschaft war. Olha wischte sich den Schweiß von der Stirn und band ihre dunklen Haare neu zusammen. Zum ersten Mal betrachtete Kyla sie näher. Olha hatte gleichmäßige Gesichtszüge, einige Falten auf ihrer Stirn und neben ihren Augen zeugten von ihrem Alter. Sie hatte eine normale Gestalt – nicht zu dünn und nicht zu dick. Nun wirkte sie so erschöpft, dass Kyla anbot: »Lass mich den nächsten Pfahl einschlagen, dann kannst du dich etwas ausruhen.«

Olha lächelte. »Es ist besser, wenn du es in ein paar Tagen versuchst. Dann, wenn du regelmäßig Nahrung zu dir genommen hast und zu Kräften gekommen bist.«

Kyla erwiderte nichts, sondern nickte nur stumm. In ein paar Tagen wäre sie vielleicht wirklich kräftig genug – aber solange würde sie nicht mehr hierbleiben. Olha hob erneut den schweren Hammer und schlug auf einen Pfosten, um ihn in die Erde zu treiben. Als sie damit fertig war, keuchte sie: »Kyla, geh uns Wasser aus der Höhle holen. In der Küche findest du Gefäße, in die du es füllen kannst. Ich werde inzwischen die restlichen Pflöcke einschlagen. Die Querbalken anzubringen, wird hoffentlich etwas leichter werden. Auf jeden Fall kannst du mir dann besser helfen. Beeile dich mit dem Wasser, damit wir schnell weitermachen können.«

Kyla tat, was ihr befohlen worden war. Sie ging zum Haus zurück und nahm zwei Krüge, die aus Ton gefertigt waren. Dann verharrte sie einen Moment und dachte nach. Olha selbst schickte sie in die Höhle – und damit aus ihrem Blickfeld. Es war die Gelegenheit, auf die Kyla gewartet hatte, um zu entkommen. Aber sie würde dafür sorgen müssen, dass Olha ihr nicht sofort nachsetzen konnte, wenn sie bemerkte, dass sie nicht zurückkam. Also verließ sie das Haus und löste rasch die Leinen der Ziegen vom Pflock, an dem diese angebunden waren. Die Tiere bemerkten es erst gar nicht, und Kyla hoffte, sie würden nur langsam davon trotten, damit sie genügend Zeit gewann.

Dann machte sie sich schnell auf den Weg in die Höhle. Ein letzter Blick zurück zeigte ihr, dass Olha zu sehr beschäftigt war, um von ihren Plänen etwas zu bemerken. Kyla ging in die Höhle. Sie stellte die Krüge vor dem Wasserrinnsal ab und begab sich dann eilig in den hinteren Teil. Die Luft wurde stickig und die Schwärze für die Augen undurchdringlich, doch Kyla wollte sich davon nicht abhalten lassen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Sie ging weiter und verlor das Gleichgewicht, da der Boden sehr uneben wurde. Ihre Füße fanden keinen Halt mehr; als sie stürzte, hörte Kyla das Reißen von Stoff. Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kleidung, die Olha ihr gegeben hatte, nicht sorgsam behandelte. Erst dann wurde ihr bewusst, dass es ihr egal sein konnte, denn Olha würde sie ohnehin nie wiedersehen, wenn die Flucht gelang. Ein beinahe schon körperlicher Schmerz jagte bei dem Gedanken durch ihren Körper. Olha niemals wiedersehen? War es wirklich das, was sie wollte? Die erste Chyrrta verlassen, die sich um sie sorgte? Die ihr zu essen gab. Die ihr ein Dach über dem Kopf bot. Und ein Bett, das schöner war, als der schönste Traum, den Kyla in ihrem Leben bisher je zu träumen gewagt hatte? Sie tastete und fühlte einen langen Riss im Stoff ihrer Beinbekleidung. Er war feucht und ihr Knie schmerzte. Vermutlich nur die erste Verletzung, wenn sie weiter im Finsteren einen Weg durch diese Höhe finden wollte. Kyla biss die Zähne zusammen, dann hörte sie Olhas Stimme.

»Kyla! Schnell, komm zu mir! Beeil dich! Wir müssen Schutz suchen!« Eine Falle! Es musste eine Falle sein – aber Olhas Stimme klang so aufgeregt ... Kyla lauschte. Nun wurde Olhas Stimme panisch.

»KYLA? Kind, wo bist du?« Immer noch antwortete Kyla nicht, aber sie lief zurück. Wenn Olha sie nur hervorlocken wollte, hatte sie ihr Ziel fast erreicht. Kyla blieb kurz vor dem Ausgang stehen. Ihr Herz schien ebenfalls stillzustehen, als sie erkannte, dass drei Fremde auf Olha zustürmten. Irgendwie waren sie auf das Landstück gelangt. Sie schwangen große Waffen, die im Sonnenschein aufblitzten. Olha versuchte, ihnen auszuweichen; die Ziegen liefen in dem Tumult ängstlich von einer Seite des Grundstücks zum anderen. »Kyla, versteck dich! Wo auch immer du bist, versteck dich gut!«

Nein, Olha versuchte nicht, sie aus der Höhle zu locken, sondern sie hatte wirklich Todesangst – und sie wollte offenbar um jeden Preis verhindern, dass die Männer Kyla fanden, denn sie stellte sich einem von ihnen in den Weg, als er in Richtung der Höhle laufen wollte. Kyla sah das dunkle Gewand des Mannes: schweres, schwarzes Leder bedeckte beinahe seinen gesamten Körper. Gefährlich aussehende Stacheln aus Metall befanden sich an seinen Schultern und Ellenbögen. An seinen Stiefeln waren diese metallenen Spitzen sogar noch länger – und nun trat der Mann damit nach Olha! Er traf sie am Oberschenkel. Augenblicklich färbte sich der Stoff ihres Kleides blutig rot. Der Mann lachte und schrie Olha dann an, dass sie einen langsamen Tod erleiden würde, wenn sie nicht preisgab, wo das Kind sich versteckt hielt.

Kyla konnte nicht glauben, was sie da hörte. Wieso fragte dieser Mann nach ihr? Und warum tat er Olha so furchtbar weh, nur um an diese Informationen zu gelangen? Kyla hatte ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Natürlich hatte sie so manchen Chyrrta bestohlen – und ihre Opfer sannen bestimmt auf Rache – aber das war jenseits der Undurchdringlichen Mauern gewesen. Hier kannte sie außer Zygal und Olha doch niemanden! Was könnte dieser Kerl also von ihr wollen?

»Willst du elendig krepieren, oder sagst du mir jetzt, wo die kleine Göre steckt?«

Olha schüttelte verbissen den Kopf, woraufhin der Mann wieder nach ihr trat und ihr so den anderen Oberschenkel aufriss. Kyla stockte der Atem vor Schreck: Dieser Mann würde seine Drohungen wahr machen! Warum wollte Olha ihr Leben riskieren, um sie zu schützen? Olha wich zurück und nahm in einer abwehrenden Geste die Arme hoch.

»Denkst du etwa, du könntest mich hindern? Du wirst in deinem eigenen Blut verrecken! Ich werde dir die Kleider vom Leib reißen, dich mit einem Seil fesseln und wir werden dich abwechselnd solange über den Boden ziehen, bis nur noch blanker Knochen von dir übrig ist.

Und wir werden johlen, während du vergeblich um Gnade flehst.«

Der Mann lachte triumphierend. Die anderen Männer sahen ihn mit Bewunderung und in Vorfreude an – offensichtlich war dieser sadistische Kerl ihr Anführer. Kyla war vor Angst erstarrt. Was sollte sie nur tun? Auf keinen Fall wollte sie zusehen, wie die einzige Chyrrta brutal getötet wurde, die jemals nett zu ihr gewesen war.

»Erspare dir doch deinen qualvollen Tod. Sag mir, wo das Kind ist, dann werde ich dich mit einem einzigen Schwerthieb hinrichten«, offerierte der Mann nun. Olha schüttelte den Kopf und besiegelte damit ihr Schicksal. Als Kyla sah, wie der Mann ein Seil aus einer mitgeführten Tasche hervorholte, um seine Ankündigung wahr zu machen, stürzte sie, ohne nachzudenken aus der Höhle. Sie griff nach einem großen Stein, der am Eingang lag, und warf ihn im Laufen nach Olhas Angreifer. Der Stein traf ihn am Hinterkopf und Kyla war darüber mindestens so erstaunt, wie der Angreifer. Der Kopf des Mannes wirbelte herum, doch sie war bereits rechts an ihm vorbeigelaufen und hechtete in Richtung der Pfähle, die Olha zuletzt eingeschlagen hatte.

»Da ist das Gör! Los, schnappt sie euch! Worauf wartet ihr denn noch, ihr faulen Bastarde?«

Der Anführer war außer sich vor Zorn, weil Kyla es geschafft hatte, ihn zu überrumpeln und zugleich dafür zu sorgen, dass seine Kumpane nur dumm dastanden und ihre Dreistigkeit womöglich insgeheim auch noch bewunderten. Doch sie waren durch seine Beschimpfung aufgerüttelt worden und setzten Kyla nun ebenfalls nach. Einer – ein Bärtiger mit schulterlangem Haar – erreichte Kyla gerade in dem Moment, als sie zur Axt griff. Sie wusste nicht, dass das Gerät so hieß, und ebenfalls wusste sie nicht, dass es für sie eigentlich viel zu schwer war. Sie reagierte einfach instinktiv und schleuderte die scharfe Seite ins Bein ihres Angreifers, ohne den Stiel dabei loszulassen. Als sie die Klinge wieder herauszog, schoss eine Blutfontäne aus der Wunde. Der Mann war zu verwundert, um auch nur einen Laut von sich zu geben, doch seine Augen wurden riesengroß und seine Kinnlade klappte herunter.

Kyla schlug noch einmal zu. Diesmal traf sie das Knie des Bärtigen und er schrie laut auf, bevor er umkippte. Der zweite Mann – um einiges jünger als seine Begleiter – starrte Kyla an, als würde er nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Doch er fing sich rasch wieder, zog ein Schwert und hieb nach Kyla. Sie konnte ausweichen, indem sie sich fallen ließ, wieder aufsprang und einen Haken schlagend in die andere Richtung davonlief – die Axt hielt sie dabei fest in der Hand. Doch sie kam nicht weit, denn hier schnitt der Anführer ihr den Weg ab. Siegessicher holte er mit dem Schwert aus. Abermals ließ Kyla sich zu Boden fallen, rollte sich von ihm fort und sprang im gleichen Moment auch schon wieder auf die Beine. Der Mann orientierte sich neu und hieb wieder nach ihr. Kyla wurde am Arm erwischt, doch es war zumindest nicht der, mit dem sie die Axt hielt, und der Schmerz war einigermaßen erträglich. Sie wandte sich um und sah, wie der jüngere Mann sich ihr näherte. Kyla starrte auf die glänzende Schneide, die er ihr an die Kehle halten wollte. Sie wusste nicht, ob sie eine Chance hatte, aber sie parierte seinen Angriff mit der Axt. Der Mann schien verwundert über ihre Kraft zu sein, denn er glotzte sie blöde an und änderte einen Hauch zu spät seine Taktik. Kyla nutzte sein kurzes Zögern und schlug noch einmal zu – das Schwert flog ihm aus der Hand. Er warf sich hinterher, um danach zu greifen. Als er sich hinabbeugte, schlug Kyla ihm die Axt in den Rücken. Sie dachte nicht einmal lange darüber nach. Alles, was sie wollte, war, dass diese Kerle sie und Olha endlich in Ruhe ließen. Der Mann fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Die Schneide der Axt steckte in seinem Rücken fest, und Kyla wollte sie hinausziehen. Doch so viel Zeit blieb ihr nicht, denn im gleichen Augenblick stürzte der Anführer auf sie zu. Er wollte sie offenbar einfach mit der Masse seines Körpers umrennen. Kyla bückte sich und wusste, dass sie diesmal unmöglich schneller sein konnte, als ihr Gegner. Der Anführer prallte gegen sie und die Wucht schmetterte sie zu Boden. Einen Moment lang konnte Kyla ihm genau in die Augen sehen – die Mordlust verschlug ihr den Atem. Nun hob er sein Schwert zum tödlichen Schlag. Kyla wusste, dass sie die Axt nicht so schnell aus dem Körper des Toten würde ziehen können, um sich zu verteidigen, also griff sie stattdessen nach dem Schwert, das am Boden lag. Der Kopf des Angreifers war nun unmittelbar vor ihr; sie konnte seinen Atem in ihrem Gesicht spüren. Kyla reckte die Hand mit dem Schwert nach oben und schloss die Augen. Ein heftiger Ruck durchfuhr ihren Arm, dann wurde ihr ganzer Körper getroffen. Kyla riss die Augen auf und begriff, dass sie es geschafft hatte, ihrem Gegner die Schwertspitze von unten in den Leib zu stechen, bevor sie selbst von seinem schweren Körper niedergedrückt wurde. Sie sah nun alles wie durch einen Nebel und rang um Atem. Ihr Brustkorb schien seinem Gewicht nicht Stand halten zu können – nur mühsam gelang es ihr, nach Luft schnappen. Der Mann erhob sich jedoch und stand dann leicht taumelnd und offensichtlich orientierungslos neben ihr, während sie sich unter Schmerzenslauten ebenfalls erhob.

Sie hielt das Schwert fest umklammert, doch ihr Feind wollte nicht mehr kämpfen. Sein Mund war weit geöffnet und Blut quoll daraus hervor. Es tropfte ihm unablässig das Kinn hinab auf seine inzwischen rot gefärbte Brust. Kyla betrachtete ihn stumm. Dann fiel er erneut: Sein Körper gab einen dumpfen Laut von sich, als er auf den Boden prallte. Diesmal blieb der Mann leblos liegen. Kyla atmete schwer, doch langsam füllte sich ihr Brustkorb wieder wie gewohnt mit Atemluft. Sie erhob sich und spürte, wie wackelig ihre Knie waren. Ihr Körper schmerzte an vielen Stellen, doch sie konnte kaum glauben, dass sie nicht viel schlimmere Verletzungen davongetragen hatte. Ja, wenn sie ehrlich war, konnte sie nicht fassen, dass sie überhaupt noch lebte!

Dann sah sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Der tot geglaubte, bärtige Mann kroch stöhnend über den Boden. Weit kam er nicht, denn bereits im nächsten Moment war Olha über ihm und schnitt ihm die Kehle mit einem Messer durch. Kyla fiel auf, dass ihre Kleidung bereits vor der Fontäne aus der Kehle des Mannes mit Blut besudelt gewesen war. Sie blickte umher und fand den jüngeren Angreifer mit der Axt im Rücken am Boden liegend. Auch er war vorsorglich von Olha mit einem Schnitt durch die Kehle zum sicheren Tode befördert worden. Nun ging sie zu dem Anführer, und obwohl Kyla sich sicher war, dass er nicht mehr lebte, schnitt Olha auch ihm tief in den Hals. Sie erhob sich und ließ das Messer sinken, dann sah sie zu Kyla.

Stolz war in ihrem Blick zu erkennen – stolz auf Kyla, wie diese erstaunt feststellte. Doch da war noch etwas anderes in Olhas Blick: deutlich sichtbare Angst. Ja, einen Moment lang war sie eindeutig erkennbar gewesen, dann verschwand der Ausdruck so schnell, wie er gekommen war. Olha wischte sich die blutigen Hände an ihrer Kleidung ab und sagte dann mit fester Stimme: »Wir müssen den Baumstamm in den Fluss werfen, über den sie hierher gelangten. Kyla, nutze ihn nicht, um zu entfliehen. Niemand sonst ist derzeit bereit, sein eigenes Leben zu riskieren, um dich zu schützen – außer Zygal und mir. Wir werden für dich kämpfen … Wobei ich zugeben muss, dass du uns vermutlich schon jetzt kaum noch brauchst. Dennoch musst du uns gehorchen, denn es gibt noch so vieles, das du lernen musst. Glaube mir – wir sind nicht deine Feinde.« Kyla verstand nichts von dem, was sie sagte. Sie wusste nicht, warum sie ihnen vertrauen sollte, denn immerhin hielten sie sie gefangen. Oder doch nicht? Kyla sah zu den Bäumen. Tatsächlich, über den tosenden Wassern lag einer von ihnen quer, den die Angreifer als Brücke benutzt hatten.

»Wer waren diese Männer? Warum haben sie nach mir gesucht?« Olha schüttelte den Kopf. »Es reicht, wenn du weißt, dass sie Feinde waren. Feinde des Reiches – und damit auch unsere Feinde. Sie werden nicht wiederkommen, dafür sorgen Zygal und ich. Wir waren zu nachlässig, sonst wäre es ihnen nie gelungen, einen Baum in der Nähe des Ufers zu fällen, ohne, dass wir es bemerkt hätten. Das wird nicht noch einmal geschehen. Ich verspreche es dir. Doch nun müssen wir zuallererst dafür sorgen, dass der Baumstamm nicht mehr als Zugang auf unser Land benutzt werden kann.«

Kyla begriff, dass es also wohl noch weitere Feinde gab. Ihr ganzes Leben lang war sie von Feinden umgeben gewesen. Doch wilde Tiere und die teils lebensbedrohlichen Naturgewalten hatten es niemals auf sie persönlich abgesehen – anders, als diese Männer! Vielleicht setzte man hier, genau wie jenseits der Undurchdringlichen Mauern, Kinder als Sklaven ein. Möglicherweise waren sie deshalb so begierig gewesen, sie in ihren Besitz zu bekommen. Kyla graute bei dem Gedanken, solchen Männern in die Hände zu fallen. Hatte Olha ihr vorenthalten, dass es diese Art der Sklaverei hier doch gab? Kyla wollte nicht, dass noch mehr solcher Angreifer kamen, also half sie ihr dabei, den Baumstamm als Brücke unbrauchbar zu machen. Sie benötigten geraume Zeit, aber schließlich fiel er in den Fluss und trieb davon. Olha sah völlig erschöpft aus. Das getrocknete Blut hatte dunkle Flecken auf ihrem Kleid hinterlassen.

»Lass uns die Ziegen einfangen und dann zu Abend essen. Für heute haben wir genug geleistet.« Stumm blickten sie zu den Leichen der Männer. Olha schüttelte den Kopf, als könne sie immer noch nicht recht glauben, was passiert war. Auch Kyla konnte es nicht fassen – sie hatten sich gegen drei Männer verteidigt, die mit der Absicht gekommen waren, sie zu holen. Was hätten sie wohl mit ihr getan, wenn sie sie zu fassen bekommen hätten? Konnte es schlimmer sein, als die Gefangenschaft, in der sie momentan lebte?

Kyla dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es eine ganze Menge gab, was weit weniger zu ertragen wäre, als ein Leben bei Olha. Insgeheim wünschte sich Kyla jedoch, dass Zygal nicht so viel Glück wie sie und Olha haben würde – sie hoffte, er würde auf Feinde treffen, die ihm nach dem Leben trachteten und ihn besiegten, damit er nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Mit Olha würde sie viel einfacher zurechtkommen – selbst, wenn sie nicht fliehen wollte. Aber mit Zygal? Er schien ihr unberechenbar.

Als sie am Tisch saßen und Suppe mit Brot aßen, sagte Olha: »Ich weiß, dass du heute fliehen wolltest. Ich danke dir, dass du zurückgekommen bist und mir geholfen hast.«

Kyla hätte sich beinahe an der Suppe verschluckt. Olha hatte ihren Fluchtversuch also durchaus zur Kenntnis genommen. Doch statt ihr Vorhaltungen zu machen, bedankte sie sich nun sogar. Kyla nickte nur knapp zur Erwiderung. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sich zu verteidigen, wäre ebenso falsch, wie den Dank anzunehmen. Stattdessen sagte sie schließlich: »Sie kamen wegen mir. Die Männer waren hier, weil sie mich gefangen nehmen wollten.«

Olha nickte vage. »Möglich. Vielleicht wollten sie dich aber auch töten. Ich weiß es nicht.« So schnell wollte Kyla sich nicht abspeisen lassen. Olha musste doch mehr wissen. »Warum haben sie mich gesucht? Sie kennen mich nicht. Niemand kennt mich. Ich habe hinter den Undurchdringlichen Mauern gelebt und mich immer versteckt.«

Olha pustete auf die Brühe, um sie dann in Ruhe vom Löffel zu schlürfen. Kyla sah sie abwartend an. Sie würde nicht eher ruhen, bis Olha ihr gesagt hatte, was sie wusste. Doch was Olha ihr dann offenbarte, machte Kyla sprachlos. »Schon bald wird dich jeder kennen, Kyla. Zygal und ich kennen dich schon seit langer Zeit – noch vor deiner Geburt.«

»Das verstehe ich nicht.« Diese Worte ergaben doch überhaupt keinen Sinn.

»Eines Tages wirst du es verstehen. Aber bis dahin möchte ich, dass du dich nicht mit unnötigen Fragen beschäftigst, sondern versuchst, das zu begreifen, was wir dich lehren. Es ist wichtig, dass du Zygal und mir gehorchst. In den nächsten Tagen wird dein Körper vom heutigen Kampf sehr schmerzen. Du bist hart getroffen worden. Ich werde dir eine Salbe geben, mit der du dich einreiben kannst. Aber am wichtigsten ist, dass du mir versprichst, nicht mehr so tief in die Höhle zu gehen. Deine Füße sind aufgeschürft von den scharfkantigen Steinen. Ich weiß, dass du glaubst, es gäbe einen Ausgang, wenn man die Schwärze durchdringt. Aber es gibt keinen, das schwöre ich dir bei meinem Leben. Das Einzige, was es dort gibt, ist das klare, genießbare Wasser – doch ansonsten gibt es dort nur Verderben und Tod. Wäre es anders, hätten Zygal und ich dir niemals den Zugang gewährt, das muss dir doch klar sein.«

Kyla dachte über das Gesagte nach. Schließlich nickte sie. Natürlich hätten ihre Besitzer ihr verboten, die Höhle überhaupt zu betreten, wenn sie tatsächlich die Möglichkeit zur Flucht bot. Doch nun gab es eine weitere Möglichkeit, um zu entkommen. Die Angreifer hatten sie ihr heute gezeigt. Sicher, es würde Zeit und unglaublich viel Kraft brauchen, um einen Baum zu fällen. Und vor allem würde sie erst einen finden müssen, der von dieser Seite des Ufers nahe genug am Fluss stand, um die andere Seite damit zu erreichen. Aber wie sollte sie es nur anstellen, ihn unbemerkt zu fällen, wenn Olha und Zygal jetzt noch mehr Augenmerk auf die umstehenden Bäume richteten? Sie würde irgendwie einen Weg finden müssen. Aber wie nur? Kyla versuchte, in Olhas Gegenwart nicht so viel darüber nachzudenken, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, diese Frau könne ihre Gedanken lesen.

Sie waren gerade damit fertig, das Geschirr abzuwaschen, als sie erneut Hufgetrappel hörten. »Geh in deine Kammer!« Kyla gehorchte sofort. Olha öffnete die Haustür ein Stück, dann rief sie auch schon: »Den grünen Wassern sei Dank! Zygal, endlich bist du heimgekehrt!« Ohne ein weiteres Wort an Kyla zu richten, verließ sie das Haus und lief ihrem Gefährten entgegen.

Kyla ging zur Tür und sah, wie Zygal sich vom Pferd schwang und Olha in seine Arme zog. Er hielt sie fest und dann küssten sich die beiden. Kyla wurde bei dem Anblick ganz seltsam zumute. Sie hätte niemals gedacht, dass der Schmied so gefühlvoll sein konnte. Er sah erschöpft aus, seine Kleidung war jedoch sauber und sein Pferd trug auf dem Rücken einige Säcke, die prall gefüllt waren.

»Was ist hier passiert?« Er blickte sich um und seine Miene wurde düster.

»Bewaffnete Männer waren hier. Sie wollten Kyla. Aber sie haben sie nicht bekommen. Zygal, das Kind hat sie ganz alleine niedergestreckt. Es war unglaublich! Es war so, wie es uns vorausgesagt worden ist. Es besteht nun kein Zweifel mehr: Sie ist es!«

Zygal heftete seinen Blick auf Kyla, die immer noch im Türrahmen stand. Er sah nicht freundlich aus. »Eine freudige Erkenntnis – jedoch nicht für uns.«

»Pssst … sie hört dich doch. Bitte, Zygal, sie kann doch nichts dafür. Es ist unser Schicksal, das wussten wir von Anfang an. Und sieh: Sie hat mir heute das Leben gerettet!«

»Ja, heute ...« Zygal sah zu den Leichen, die immer noch verstreut lagen. »Ich wusste nicht, was wir mit ihnen tun sollen«, sagte Olha leise. Zygal runzelte die Stirn. »Überlass das mir.« Er wollte sich umdrehen, aber Olha fasste ihn am Arm. »Entweihe nicht den Ort des Vergessens. Ich flehe dich an. Lass ihnen ihren Frieden!«

Kyla war verwundert über die Worte. Meinte Olha damit etwa die Angreifer? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Es schien ihr, als sei sie um den Frieden anderer besorgt, aber mehr erfuhr Kyla nicht, denn nun kehrte Olha zu ihr zurück und befahl: »Du wirst jetzt schlafen gehen, Kyla. Es war ein harter Tag. Zieh dich um und entleere deinen Körper im Verschlag neben dem Haus. Dann kehrst du sofort zurück!« Kyla nickte und tat, was von ihr verlangt worden war. Als sie den Verschlag verließ, konnte sie sehen, wie Zygal die Körper der toten Männer in den Fluss warf. Ob Olha mit dieser Lösung einverstanden war? Sie ging ins Haus und erkundigte sich danach. »Keine Fragen, habe ich dir doch gesagt. Leg dich nun in dein Bett!« Olhas ernste Stimme ließ Kyla erschaudern. In diesem Moment war von der freundlichen Frau, die für sie sorgte, nicht viel übrig. Kyla wurde klar, dass sie die Flucht doch hätte riskieren sollen. Doch nun war es zu spät, und so legte sie sich hin, worauf Olha ihr sorgsam die Ketten anlegte. »Schlaf gut, mein Kind«, sagte sie dann, drehte sich um und verließ den Raum.

Kyla lag da und starrte an die Decke. Was für ein seltsamer Tag das doch gewesen war. Es gab so viele Dinge, die sie nicht verstand. Aber sie durfte keine Fragen stellen. Sie war angekettet, aber sie fühlte, dass sie trotz allem auch freiwillig bleiben würde. Wie könnte sie jetzt ernsthaft wieder in die Wälder zurückkehren? Wie sollte sie wie bisher weiterleben können, wenn doch alle Chyrrta sie bereits kannten? Und wie sollte sie Olha und Zygal vergessen können, wenn es so vieles gab, das sie von ihnen unbedingt wissen wollte?

Kyla ignorierte die Fesseln und schloss die Augen. Der Tag war wirklich anstrengend gewesen. Vielleicht einer der anstrengendsten in ihrem bisherigen Leben – und in der Tat einer der seltsamsten.

Kyla – Kriegerin der grünen Wasser

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