Читать книгу Kyla – Kriegerin der grünen Wasser - Regina Raaf - Страница 5
2. Kapitel
Оглавление»Los, wach auf!« Kyla schreckte hoch, als sie gerüttelt wurde. Es war Zygal, der bereits ihre Ketten gelöst hatte und sie unsanft dazu bewegen wollte, das Bett zu verlassen. Kyla fühlte sich schläfrig und schwach. Sie verbarg ihr Gesicht im Kissen und trat nach Zygal, als der sich ihre Beine packte. Er zog sie vom Bett und fing sie auf, kurz bevor sie auf dem Boden landete. Dann warf er sie über seine Schulter und trug sie in die Küche, wo Olha bereits mit dem Frühstück wartete. Zygals Körper bebte, das konnte sie deutlich spüren – vor Zorn? Doch dann hörte sie ihn lachen. Es war ein schreckliches Geräusch – hart und brüchig, so, als hätte er es seit Jahren nicht mehr von sich gegeben und müsse es erst wieder üben. Er ließ Kyla von seiner Schulter gleiten und sorgte dafür, dass sie mit dem Hintern auf einem Stuhl zum Sitzen kam.
»Iss! Auf dem Teller soll nichts übrig bleiben. Du wirst Kraft brauchen.« Kyla sah auf die Berge von Rührei und erkannte auch einige gebratene Fleischstücke. Sie schaute unsicher zu Olha, die heute ein hübsches Kleid trug.
»Das ist Speck. Er ist köstlich. Du wirst ihn mögen. Zygal hat ihn mitgebracht. Er stammt von einem der geschlachteten Schweine der Herrscherin. Es sind die fettesten, die du je gesehen hast.« Sie strahlte Kyla an. »Fette Schweine – und zwei davon werden bald uns gehören. Das haben wir dir zu verdanken, Kyla.«
Zygal klopfte ihr so fest auf die Schulter, dass sie fast vom Stuhl fiel. Nun verstand Kyla gar nichts mehr. Woher kam plötzlich die gute Laune der beiden? »Warum mir?«, fragte sie unsicher. Zygal überlegte. Offenbar wägte er ab, wie viel er ihr verraten wollte. »Weil die Herrscherin der Meinung ist, dass du bislang in deinem Leben zu wenig gegessen hast. Und das stimmt eindeutig.« Kyla wusste, dass das nicht der wahre Grund sein konnte – oder dass es zumindest nur ein Teil der Wahrheit war. Doch Zygal sah nicht so aus, als würde er mehr preisgeben wollen. Er deutete auf den Speck, damit Kyla endlich zu essen begann. Sie nahm ein Stück davon und biss vorsichtig ab. Der Geschmack war mit nichts zu vergleichen. Salzig und knusprig – und dabei so herrlich fettig, dass Kyla sich in Windeseile das ganze Stück in den Mund stopfte. Sie kaute darauf herum und spürte, wie ihr Körper plötzlich hellwach war, um diese herrliche Köstlichkeit ganz bewusst genießen zu können.
»Gib dem Kind von dem Rula-Sud!«, wies Zygal Olha an. »Lass sie doch mit diesem furchtbaren Gebräu in Ruhe. Soll ich ihr vielleicht auch noch einen Krug Bier einschenken?«
»Später. Erst mal genügt das Gebräu aus gemahlenen Rula-Käfern.«
Olha seufzte und wischte sich ihre Hände an einer Schürze ab, bevor sie nach einem Stück Stoff griff, es sich um die Hand schlang und damit eine Kanne hochhob, die auf dem Ofen gestanden hatte. Zygal stellte einen Becher vor Kyla, den Olha mit einer dunklen Flüssigkeit füllte. Kyla sah hinein – es hatte Ähnlichkeit mit einem schlammigen Loch, stellte sie fest. Aber es roch anders. Nicht unbedingt gut, aber doch interessant.
»Trink!«
Sie hob den Becher an die Lippen und nahm einen Schluck. Ein erschreckend bitterer Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus und vertrieb den des köstlichen Specks. Mühsam zwang sie die Flüssigkeit ihre Kehle hinab, um sie nicht in den Becher zurück zu spucken, denn Kyla ahnte, dass ihrem Besitzer so ein Verhalten überhaupt nicht gefallen würde.
Nun, da sie brav getrunken hatte, strahlte er jedoch und verkündete: »Von nun an wirst du jeden Morgen und jeden Mittag einen Becher davon trinken. Der Rula-Sud schärft deine Sinne und sorgt dafür, dass du das fettige Essen gut verträgst. Trink ihn aus und dann iss deinen Teller leer. Ich erwarte dich nach dem Essen am Ziegengehege. Wir werden es fertig bauen, und danach gebe ich dir deine erste Lektion.«
Er erhob sich und ging zu Olha, um ihr einen Kuss zu geben. »Sorge dafür, dass sie ihre Arbeitskleidung trägt. Und schneidere ihr gleich neue, denn ich denke, sie wird sie brauchen.« Olha stimmte ihm zu. Kyla trank angewidert den Becher mit dem Sud leer. Wenn Zygal recht hatte, und das Zeug ihre Sinne schärfte, dann würde es ihr wohl ein Leichtes sein, ihrem Besitzer zu entkommen, falls er Dinge von ihr verlangte, die sie nicht tun wollte.
Als sie sich umgezogen hatte, trat sie vor das Haus und entdeckte Hufspuren, die am Tag zuvor noch nicht dort gewesen waren. Offenbar hatten sie erneut Besuch gehabt. Diesmal wohl erfreulichen, daher vermutlich auch der Speck und die gute Laune über die angekündigten Schweine. Kyla wusste jedoch, dass sie nicht danach fragen sollte. Sie ging zu Zygal, der damit beschäftigt war, den letzten Holzpflock in den Boden zu rammen. Sein mächtiger Bauch schwang bei jedem Schlag auf und ab, und auch das doppelte Kinn des Mannes schien bei jedem Hammerschlag ein Eigenleben zu führen. Kyla sah fasziniert zu. Niemals hatte sie einen Chyrrta gesehen, der so gut genährt war. Zygal hielt inne und stellte den Hammer weg. Er fuhr sich mit der Hand durch sein lichtes, blondes Haar.
»Du hast da gestern etwas sehr Ungewöhnliches getan«, sagte er und fixierte sie mit seinen dunkelgrünen Augen. Kyla zuckte nur mit den Schultern. Sie wusste nicht genau, worauf er hinaus wollte. Er nahm einen Stapel Holzlatten und sortierte die aus, die zu gebogen waren. »Ein Mädchen in deinem Alter – und von deiner Statur – kann es normalerweise nicht mit ausgewachsenen Männern aufnehmen. Und schon gar nicht mit welchen, die Schwerter schwingen. Du kannst mit der Axt gut umgehen, wie Olha mir berichtete, und ich denke, wir werden daher zuerst mit dieser beginnen. Aber zunächst wirst du mir helfen, die Latten an die Pfosten zu nageln. Hast du so etwas schon mal gemacht?« Kyla schüttelte den Kopf.
»Das macht nichts. Ich werde es dir zeigen. Ich werde dir alles zeigen, was du benötigst, um hier bei uns zu leben – und alles für danach.« Kyla war über den warmen Klang seiner Stimme noch mehr erstaunt, als über seine Worte. Sie schluckte ihre Verwunderung jedoch hinunter, denn Zygal begann umgehend damit, ihr zu zeigen, wie sie Hammer und Nägel benutzen musste, um mit ihm gemeinsam das Gehege für die Ziegen fertig zu bauen. Immer wieder dachte sie darüber nach, was er damit meinte, dass er ihr zeigen würde, was sie für das Leben nach ihrer Gefangenschaft benötigen würde. Aber hatte er das wirklich so gemeint, wie sie es verstanden hatte? Sie wusste, dass sie ihn besser nicht danach fragte. Zygal schien ihr sehr launisch zu sein. Mal beschimpfte und schlug er sie, mal trug er sie lachend in der Gegend herum. Wie sollte sie so jemandem irgendetwas glauben können? Wie sollte sie ihm trauen? Nein, Olha schien aufrichtig zu sein, aber Zygal machte ihr im Grunde ihres Herzens Angst, auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, ihm das nicht zu zeigen.
Als der Zaun für das Gehege fertig war, fragte Zygal: »Möchtest du die Ziegen in ihr neues Zuhause bringen?« Kyla machte sich begeistert daran, die Tiere eines nach dem anderen am Strick dorthin zu führen, um ihnen dann die Seile vom Hals zu lösen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, sich in ihrem eingezäunten Reich frei zu bewegen. Als sie die Tiere alles neugierig erkunden sah, dachte Kyla unweigerlich daran, dass Zygal und Olha sie nachts in Ketten legten. Das machte sie traurig und wütend zugleich. Jetzt zuzusehen, wie die Ziegen ihr Gehege voller Tatendrang entdeckten, brachte Kyla jedoch schnell wieder zum Lachen. Vor allem, als sich zwei von ihnen ständig gegenseitig Kopfstüber gaben, weil sie unbedingt das gleiche Büschel Gras fressen wollten, obwohl in der Umgebung noch mehr davon standen. Die beiden Dickköpfe waren einfach zu drollig und Kyla lachte aus voller Kehle. Plötzlich stand Zygal neben ihr und sagte: »Es ist schön, wenn du Freude hast. Leider hat das Leben viel zu wenig davon zu bieten.«
»Als ich noch im Wald lebte, hatte ich viel mehr Freude, als hier bei euch.« Kyla wusste, dass das nicht stimmte, aber sie sagte es trotzdem. Sie wollte Zygal wehtun und spürte, dass es ihr gelungen war. »Warum lasst ihr mich nicht einfach dahin zurückgehen?«
»Weil du dich nun innerhalb der Undurchdringlichen Mauern befindest. Hier dulden wir es nicht, dass ein Chyrrta so lebt. Und außerdem gibt es eine Bestimmung für dich, der du nicht entfliehen kannst, ganz egal, wohin du gehen würdest.«
Kyla sah ihn forschend an, aber Zygals Blick blieb verschlossen. »Was ist eine Bestimmung?«
»Das wirst du noch früh genug erfahren.« In plötzlicher Wut schlug Kyla gegen einen der Pfosten des Geheges. »Sag mir, was ihr von mir wollt!«
Zygal seufzte. »Was wir wollen, haben wir dir bereits gesagt. Du bleibst hier bei uns, ob du möchtest oder nicht. Ich werde dich unterweisen – alles andere liegt nicht in meiner Hand, und ich bin nicht befugt, dir etwas zu erklären. Du musst das verstehen, Kyla ...«
»GAR NICHTS VERSTEHE ICH! Nur, dass ihr böse seid! Ich werde weglaufen – so lange, bis ich wieder in meinen Wäldern bin. Die Undurchdringlichen Mauern sind nämlich gar nicht undurchdringlich!«
»Ja, das stimmt. Aber es gab einen Grund, warum es dir gelang, sie zu überwinden. Noch dazu so leicht. Du solltest sie überwinden, Kyla, das musst du mir einfach glauben. Aber in die andere Richtung wirst du niemals mehr gehen können. Dein ganzes Leben lang nicht. Du wirst es vielleicht versuchen, aber du wirst erkennen müssen, dass ich recht habe. Und das nicht, weil ich böse zu dir sein will, sondern weil es unser Schicksal ist – deines, meines und das von Olha. Doch falls es dir gelingt, dieses Stück Land zu verlassen, wird dir ein anderes Schicksal zuteil, denn die Männer werden dich finden. Und sie werden dich töten. Es gibt nur diese beiden Wege für dich. Es liegt also an dir, ob du dein Schicksal annimmst und kämpfst – oder ob du feige bist und stirbst.«
Kyla dachte über Zygals Worte nach. Er schien sich so unglaublich sicher zu sein. Immer wieder sprach er von Schicksal.
»Woher wisst ihr schon so lange von mir? Warum weißt du, was mit mir passieren wird?«, fragte sie. Zygal schluckte. Er schien mit sich selbst zu ringen, ob er ihr antworten sollte. »Ich weiß es einfach.« Er wandte sich ab und Kyla spürte, dass dies die letzte Frage gewesen war, die sie ihm hatte stellen dürfen. Nun war seine Laune gekippt, und wenn sie nicht ruhig war, würde er sie womöglich gewaltsam zum Schweigen bringen. Sie sah zu den Ziegen, die sich gegenseitig das Futter aus dem Maul klauten. Es sah lustig aus, aber Kyla war nicht mehr zum Lachen zumute.
Eine ganze Weile hatte Zygal sich in seine Werkstatt zurückgezogen, die in einiger Entfernung vom Wohnhaus am Rande des Flusses errichtet worden war. Kyla folgte ihm nicht dorthin – er würde sich schon bei ihr melden, wenn sie mit den Tagesaufgaben fortfahren sollte. Ab und zu blickte Olha aus dem Fenster, um nach ihr zu sehen. Kyla ahnte, dass sie den Auftrag hatte, sie zu überwachen. Blindlings zu fliehen, erschien ihr auch immer sinnloser, denn natürlich würden ihre Besitzer sie in Windeseile wieder einfangen können, solange Kyla keinen Plan hatte, wohin sie nach ihrer Flucht gehen könnte. Außerdem hatte es sie verwirrt, was Olha und Zygal ihr über ihre Zukunft gesagt hatten – nicht, dass sie wirklich viel darüber erzählt hatten, aber immerhin so viel, dass Kylas Neugier geweckt worden war.
Vielleicht hatten sie aber auch nur so wenig preisgegeben, um ihr unsichtbare Fesseln anzulegen, und darauf zu hoffen, dass sie freiwillig blieb, um im Laufe der Zeit immer mehr erfahren zu können. Doch was Kyla am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass ihre Besitzer sich nicht sonderlich darüber zu freuen schienen, dass dieses ominöse Schicksal, von dem sie immer sprachen, sich erfüllen würde. Es war doch angeblich Kylas Schicksal, was hatten sie also damit zu schaffen? Sie setzte sich ins Gras und sah den Ziegen zu, die fraßen und sich ab und zu neckten. Vielleicht wäre es auch für sie besser gewesen, als Ziege auf Chyrrta zu leben. Die Tiere dachten wohl kaum so viel über die Dinge nach, wie sie es nun tat. Und auch für Kyla war es neu und sehr anstrengend, über die Zukunft nachzudenken. Als sie noch in den Wäldern lebte, waren ihre einzigen Gedanken an die Zukunft die gewesen, einen Schlafplatz zu finden, oder wie sie sich etwas zu Essen beschaffen sollte. Auf eine gewisse Weise war dieses Leben einfacher gewesen – wenn auch einsamer.
Als plötzlich ein Schatten auf Kyla fiel, hob sie erschreckt den Kopf und blinzelte in die Sonne. Schemenhaft erblickte sie einen großen Angreifer, der eine Axt schwang, die auf sie niedersauste. Sofort rollte sie sich zur Seite, die Klinge wurde wieder hochgezogen, dann wurde das Werkzeug langsam gesenkt und der Angreifer trat um sie herum, sodass sie ihn erkennen konnte. Es war Zygal, der grollte: »Die erste Lektion für heute hast du gerade gelernt: Sei im Freien stets wachsam, damit ein Angreifer dich nicht überraschend attackieren kann. Nimm nun die Axt und schwinge sie vorsichtig ein paar Mal in jede Himmelsrichtung.«
Kyla nahm das Werkzeug entgegen und stieß es über ihrem Kopf nach oben, wobei sie die Augen vor Anstrengung fest zusammenkniff. Die Axt entglitt ihrer Hand und fiel nur wenige Zentimeter neben ihren Füßen zu Boden. »Bei allen grünen Wassern, was tust du denn da?«, rief Zygal erbost. Er bückte sich, um zu sehen, ob Kyla verletzt war, dann hob er die Axt auf. »Du hast gesagt, ich soll sie in Richtung Himmel schwingen.«
»Das habe ich nicht! Ich habe Himmelsrichtungen gesagt!« Kyla schwieg. Zygals Blick wurde weicher. »Du kennst Norden, Osten, Süden und Westen nicht, richtig?« Kyla presste die Lippen zusammen, doch dann nickte sie leicht. »Mach dir darum keine Sorgen. Olha und ich werden dich in allem unterrichten, das dir bislang durch dein einsames Leben im Wald unbekannt geblieben ist. Du wirst auch Lesen und Schreiben lernen. Ich werde dir zeigen, was ich gemeint habe.«
Zygal machte es ihr vor und Kyla sah aufmerksam zu. Sie hatte immer gewusst, dass es vieles gab, von dem sie keine Ahnung hatte. Und sie war sich sicher gewesen, dass sie in ihrem Leben all diese Dinge auch nicht benötigen würde. Wenn Zygal und Olha sie nicht wie eine Gefangene halten würden, wären diese Dinge für sie nach wie vor unwichtig. Kyla dachte darüber nach, ob es ihr Freude bereiten würde, lesen und schreiben zu können. Aber sie wusste es einfach nicht. Ihre Neugier war jedoch groß, und sie entschied, es zumindest zu versuchen. Niemand konnte sie zwingen, Dinge zu erlernen, mit denen sie nichts zu tun haben wollte, also war immer noch Zeit, all das abzulehnen – aber vielleicht war es auch eine Chance, dass sie ihr diese Fähigkeiten beibringen wollten.
»Schwing die Axt jetzt so, wie ich es dir gezeigt habe. Aber sei vorsichtig und überschätze deine Kräfte nicht. Wenn deine Arme taub werden, dann gönne ihnen eine kurze Pause, und dann beginne von Neuem. Deine Muskeln werden später schmerzen, aber sie werden auch schnell wachsen. Und auch deine Beine werden wir trainieren. Erst, wenn du an Kraft gewonnen hast, werde ich dich die verschiedenen Taktiken in praktischen Übungen lehren. Bis dahin werden wir uns mit der Theorie zufriedengeben.«
Kyla sah ihn fragend an. Zygal seufzte. »Ich sage dir, was zu tun ist, und du hörst einfach gut zu und merkst es dir«, erklärte er dann mit einfachen Worten. Sie nickte, dann begann sie, die Axt so zu schwingen, wie Zygal es ihr gezeigt hatte. Bereits nach kurzer Zeit brannten ihre Arme, aber sie wollte nicht jetzt schon eine Pause machen, also führte sie die Bewegungen weiter aus und achtete darauf, die Axt nicht versehentlich fallen zu lassen. Zygal beobachtete sie und korrigierte ein paar Mal ihre Ausführungen, worauf ihre Arme gleich viel weniger schmerzten. Schließlich musste Kyla sich jedoch eingestehen, dass sie nicht mehr konnte, und sie ließ die Arme sinken.
»Leg die Axt fort und ruhe dich ein wenig aus, während ich ein Schwert hole.« Kyla stöhnte innerlich auf. Wollte er, dass sie im Anschluss auch noch ein Schwert durch die Luft schwang? Kyla wusste, dass ihr das nicht gelingen würde, denn ihre Arme fühlten sich jetzt bereits an, als würden schwere Steine darauf lasten. Als Zygal zurückkehrte, beruhigte er sie jedoch: »Das Training ist für den Moment beendet, aber ich möchte, dass du mir nun gut zuhörst. Ich werde dir ein paar grundlegende Dinge des Schwertkampfs beibringen.« Kyla war froh, dass sie die Axt weglegen durfte und konzentrierte sich auf das, was Zygal ihr beibrachte. Er hielt die Waffe so, dass sie es gut sehen konnte und erklärte ihr deren Aufbau.
»Die Spitze des Schwerts wird Ort genannt. Es gibt sie in verschiedenen Formen, je nachdem wofür ein Schwert hauptsächlich verwendet werden soll. Dieser Ort ist gleichmäßig geformt, breit und läuft am Ende parallel spitz zu – damit ist das Schwert zum Hieb und Stoß gleichermaßen geeignet. Schwerter mit schmaler Klinge und spitzem Ort werden zum Stoß verwendet, die mit breiter Klinge und breitem Ort ausschließlich zum Hieb.«
Er zeichnete mit einem Stock die verschiedenen Formen in den Lehm zu ihren Füßen. Als er damit fertig war, reichte er ihr den Stock. Kyla nahm ihn mit fragendem Blick entgegen.
»Steh nun auf und nimm die gleichen Positionen ein wie ich! Ich zeige dir einige der sogenannten Huten: Ochs, Pflug, Tag und Alber. Das sind Grundstellungen, aus denen heraus sowohl Angriff als auch Verteidigung erfolgen können. Zwangsläufig gibst du bei jeder Hut auch eine Blöße – also eine ungedeckte Körperstelle, auf die ein Gegner abzielen kann. Wichtig ist es, ihn zu überlisten, denn wenn du deine Blößen richtig einsetzt, kannst du ihn durch einen Angriff dazu bringen, eine eigene Blöße freizugeben, die du selbst wiederum nutzen kannst.«
Kyla nickte. Sie gab sich Mühe, seinen Beschreibungen zu folgen. Zygal machte eine kurze Pause, damit sie das Wissen verinnerlichen konnte.
»Wir beginnen mit der Hut Ochs.« Er stellte sich aufrecht hin und hielt das Schwert so, dass die Klinge in seiner Kopfhöhe leicht nach unten geneigt war. »Siehst du, das Schwert ähnelt nun dem Horn eines Ochsen. Der Ort zielt ins Gesicht des Gegners. Verlagere dein Gewicht ein wenig auf das vorn stehende Bein.«
Kyla ahmte seine Haltung nach und imitierte die Schwerthaltung mit dem Stock. Ihr war klar, dass sie bei einer richtigen Ausführung mit dem Gewicht des Schwerts zu kämpfen haben würde, aber Zygal schien sich vorerst damit zufrieden zu geben, dass sie nur die Haltungen und Bewegungen nachahmte. Sie versuchte, sich so gut wie möglich alles zu merken, was er ihr zeigte und führte eine Hut nach der anderen aus. Schließlich wischte Zygal sich den Schweiß von der Stirn, bevor er die Schwertspitze zu Boden sinken ließ.
»Hören wir auf?«, fragte Kyla hoffnungsvoll. Zygal lachte. »Das hast du dir wohl so gedacht. Aber auch das ist eine der Grundstellungen. Diese Hut nennt sich Alber.« Zygal lachte abermals, als er ihre gerunzelte Stirn bemerkte. »Ich glaube, das kann ich mir gar nicht alles merken«, bekannte Kyla unglücklich.
»Keine Sorge, wir werden diese Huten immer wieder üben. Und es gibt noch so viele mehr, aber für den Moment ist es wirklich genug. Wir machen später mit anderen Übungen weiter, die deinen Körper wieder mehr fordern werden, als deinen Geist. Deine Muskeln werden danach sicherlich eine ganze Weile schmerzen, aber es wird besser mit der Zeit, glaube mir.«
Immer wieder baten Olha und Zygal darum, Ihnen zu glauben. Kyla fragte sich, ob ihr das jemals möglich sein würde. Dass Zygal ihr eine Waffe in die Hand gegeben hatte, war sicherlich ein Fortschritt in diese Richtung, aber dass sie sie in Ketten legten, konnte Kyla nicht verzeihen.
Als sie abends mit Zygal und Olha am Tisch saß, schmerzten Kylas Muskeln in ihren Armen und Beinen tatsächlich um die Wette. Zygal hatte sie zuletzt immer wieder die gleiche Strecke laufen lassen, auf der sie mehrere Heuballen überwinden und unter aufgetürmten Ästen hindurchkriechen musste. Die Wunden an ihren Knien waren erneut aufgeschürft. Olha hatte ihr Kräuterverbände für jedes gemacht und Zygal gebeten, Kyla vorerst ein Kriechen auf dem Boden zu ersparen.
Nun saßen sie zusammen, aßen Bohnen mit Speck und Zygal schien über die Sache noch mal eingehend nachgedacht zu haben, denn er sagte: »Kyla, du wirst je einen Tag mit Kampfübungen verbringen, und den nächsten mit Lernen. Noch vor Beginn der jeweiligen Lehrstunden wirst du genügend Wasser für die Tiere holen und unseren Vorrat im Haus auffüllen. Du benutzt zwei große Gefäße, die ich selbst gefertigt habe – das Gewicht wird deine Muskeln ebenfalls stählen.«
Kyla hätte bei seinen Worten am liebsten losgeweint. Sie verstand nicht, warum sie sich so quälen sollte, denn noch nie hatte sie eine Frau mit vielen Muskeln gesehen. Männer mochten oftmals damit prahlen, wenn sie das Fleisch ihrer Arme zu ganzen Bergen auftürmen konnten – Kyla hatte selbst beobachtet, wie sie es manchmal taten, um untereinander zu konkurrieren, oder um eine Frau zu beeindrucken. Aber sie hatte nichts davon vor und fand es ungerecht, ihren Körper auf Zygals Geheiß hin trainieren zu müssen. Vor allem auch, weil er seinen eigenen ganz offensichtlich so vernachlässigte. Sie sagte jedoch nichts – was hätte es auch genutzt? In der Welt, in der sie nun lebte, hatte sie nicht das Sagen, aber sie schwor sich, es Zygal eines Tages heimzuzahlen.
Als sie nach dem Essen ins Bett geschickt wurde, nahm sie mit scheinbarer Gleichmut hin, dass der Schmied ihr die Kette anlegte. Auf seinen Gute-Nacht-Gruß erwiderte sie jedoch nichts, sondern drehte sich nur auf die Seite, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen.
Der Morgen kam, und mit ihm ein Tag voller ungewohnter Mühsal. Nachdem Kyla von ihrer Kette befreit worden war, reichte Olha ihr zwei große Behälter, die aus dünnem Metall hergestellt waren. Auf dem Hinweg zur Höhle waren sie, trotz ihrer Größe, noch leicht. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Kyla sie soweit gefüllt hatte, dass sie sie zum Ziegengehege tragen konnte. Jetzt konnte sie die Wasserkübel jedoch kaum noch anheben. Sie schaffte es, indem sie ihre gesamte Kraft aufbrachte. Nun wollte sie nur noch so schnell wie möglich den Weg zurücklegen. Kyla gab sich alle Mühe, aber die Henkel der Behältnisse schnitten ihr tief in die Handflächen und einer rutschte ihr aus den Fingern, woraufhin sich das Wasser auf die ausgetrocknete Wiese ergoss. Hilflos musste sie zusehen, wie ihre aufwendige Arbeit vor ihren Augen im Nichts verschwand. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, das Wasser aus dem anderen Behältnis einfach aufzuteilen – vermutlich würde es niemandem auffallen, und sie hätte nur die halbe Last zu tragen. Dann entschied sie sich jedoch dagegen und ging in die Höhle zurück, um den nun leeren Behälter wieder aufzufüllen.
Als sie schließlich unter enormen Anstrengungen die beiden Wasserladungen in die Tränke der Ziegen und in den Vorratstank im Haus geleert hatte, ließ Kyla sich in der Küche einfach erschöpft auf dem Boden nieder. Der Holzboden war so herrlich kühl – sie legte ihr Gesicht darauf. Er roch vertraut und erinnerte sie an den Geruch der Bäume. Selbst der Schmutz ließ sie an ihre alte Heimat denken: der Wald – wie sehr sie ihn doch vermisste! Sie wünschte sich sehnlichst, nun den Wind zu hören, der durch die Baumwipfel strich und ihr leise ein tröstendes Lied sang.
»Bist du krank?«, erklang stattdessen plötzlich Olhas Stimme über ihr. Kyla erhob sich schnell. »Nein.« Olha sah sie forschend an. Schließlich überprüfte sie den Wasservorrat und wies dann auf einen Stuhl am Küchentisch. »Setz dich! Wir werden heute mit dem Unterricht beginnen. Hast du schon mal ein Buch angesehen?« Kyla schüttelte den Kopf. Olha öffnete eine Lade und holte ein in Leder gebundenes Buch heraus. »Hier drin findest du viele Geschichten über unsere Welt. Einige davon sind wahr – einige frei erfunden. Wenn wir mit dem Unterricht irgendwann einmal fertig sind, wirst du diese Geschichten nicht nur lesen, oder selbst eigene aufschreiben können, du wirst auch so viel über alles wissen, was auf unserer Welt vorging und derzeit noch vorgeht, dass du einschätzen können wirst, was wahr und was Erfindung ist. Aber noch mehr wird dir möglich sein, Kyla. Eines Tages wirst du dieses Buch in den Händen halten, und wissen, wie es um die Zukunft von Chyrrta bestellt ist – du wirst sie formen, und alle werden dir folgen.« Kyla starrte sie an. Olha schien wie verzaubert von ihren eigenen Worten zu sein. Ihr Blick war so stolz. Kyla hatte ein seltsames Gefühl, denn dieser Stolz galt ihr.
»Ich glaube nicht, dass ich aus diesen vielen Zeichen eine Geschichte erkennen kann«, widersprach Kyla, doch sie nahm das Buch und blickte auf die Seite, die Olha aufgeschlagen hatte.
»Das wirst du, wenn du weißt, was die einzelnen Zeichen bedeuten und wie du sie aneinanderreihen musst. Glaube mir, auf einmal ist es ganz einfach, wenn du dir etwas Mühe gibst.« Kyla hatte ihr zwar zugehört, aber sie antwortete nicht, weil sie es sich einfach nicht vorstellen konnte. Sie betrachtete das Buch eingehend. Es befand sich ein Bild darauf – grünes Wasser, das sich zwischen kahlen Ebenen und steinigen Anhöhen einen Weg bahnte. Kyla machte große Augen. »Da sind Tiere drin, die aus dem Fluss trinken!«
»Es ist ein sehr altes Buch, Kyla. Damals waren die Flüsse und Bäche noch nicht verunreinigt. Einst waren die Wasser auf Chyrrta ein Quell des Lebens, und es gab Tiere in Hülle und Fülle, sodass kein Chyrrta hungern musste. Egal, ob er in den Siedlungen lebte oder alleine, fernab von anderen. Es gab so viele Tiere, dass es ein Leichtes war, sie zu jagen. Und selbst in den Wassern gab es Lebewesen, die das Überleben eines jeden sicherten.«
»Aber was ist passiert?« Olha lächelte. »Um das zu erfahren, solltest du das Lesen so schnell wie möglich erlernen, denkst du nicht? Denn vielleicht steht es ja in diesem Buch.«
»Aber du hast es doch gelesen, oder? Erzähle es mir!« Kyla hatte zum ersten Mal das Verlangen, eine Geschichte erzählt zu bekommen, doch Olha schüttelte den Kopf. »Wir werden nun mit den ersten Zeichen beginnen. Und du wirst sehen, wenn du fleißig bist, brauchst du schon bald nicht mehr andere zu bitten, dir zu erzählen, was dich interessiert.«
Sie klappte das Buch zu und legte es in die Lade zurück, um ein anderes hervorzuholen. Die Geschichten darin waren wesentlich kürzer, wie Kyla feststellte, und auf der ersten Seite gab es tatsächlich nur einzelne Zeichen zu sehen, die Olha ihr in den nächsten Stunden eines nach dem anderen erklärte. Sie übten die Aussprache, und Kyla sollte ein jedes solange selbst schreiben, bis ihre Finger vor Anstrengung zitterten. Als sie schließlich erschöpft den Federkiel ablegte, den Olha ihr gegeben hatte, stöhnte sie: »Ich übe lieber wieder mit der Axt. Buchstaben schreiben ist viel anstrengender.«
Olha lachte. »Dann ist es ja gut, dass du morgen stattdessen mit den Kampfübungen fortfahren wirst. Aber genauso, wie das Führen einer Waffe leichter wird, wenn du mehr Muskeln hast, so wird das Lesen und Schreiben einfacher, je mehr Zeichen du beherrschst. Es ist eine anstrengende Zeit für dich, Kyla, und ich würde dich gerne damit trösten, dass deine Zukunft unbeschwert wird – aber das wird sie nicht. Es mag vielleicht eine Zeit lang für dich so aussehen, aber ich fürchte, dein Leben wird dich immer bis an die Grenzen der Belastbarkeit führen. Du wirst Großes erreichen, aber es wird dich vieles kosten, das dir lieb und teuer ist. Schwere Aufgaben und Entscheidungen warten auf dich. Zygal und ich tun unser Bestes, um dich darauf vorzubereiten. Ich wünschte nur, du würdest es dir nicht selbst so schwer machen und deine Fluchtpläne endlich aufgeben. Oder denkst du wirklich, wir wüssten nicht, dass du nur darauf wartest, dass wir einen Fehler machen? Darauf, dass wir dich lange genug aus den Augen lassen, damit du einen Baum fällen und fliehen kannst – so, wie die Angreifer es dir vorgemacht haben.«
Kyla konnte Olha kaum anblicken, so sehr schämte sie sich in diesem Moment für ihr Vorhaben. Aber Olha ließ sich nicht erweichen und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Denkst du wirklich, es war Zufall, dass sie dir diesen Weg aufzeigten? Sie wollen nur, dass du ihn benutzt, um dich zu töten, solange du noch nicht deine ganze Kraft entfaltet hast. Aber sie werden dich nicht in die Finger bekommen, solange Zygal und ich es verhindern können. Also vergiss deine Fluchtgedanken und nutze lieber die Chancen, die wir dir bieten. Nimm unseren Schutz und unser Wissen an, solange dir die Möglichkeit dazu noch bleibt.«
»Was meinst du damit?« Kyla war völlig verwirrt von all den Dingen, die Olha ihr gesagt hatte, aber die winkte nur ab: »Lass uns jetzt Schluss machen für heute. Das lange Sitzen ist für mich ungewohnt. Normalerweise bin ich immer mit etwas beschäftigt und die meiste Zeit auf den Beinen. Mein Hintern ist schon ganz platt.« Sie lachte plötzlich, stand auf und rieb sich den genannten Körperteil, aber Kyla hatte den bekümmerten Blick bemerkt, den ihre Frage bei Olha ausgelöst hatte.
Als Kyla in dieser Nacht zu Bett gehen sollte, legten Zygal und Olha ihr keine Kette an. »Lass uns nicht bereuen, dass wir dir unseren Schutz gewähren«, mahnte Olha, dann zogen sie und Zygal sich in ihr eigenes Schlafzimmer zurück.
Kyla hörte die beiden noch lange miteinander tuscheln, bevor ihr Gespräch abbrach und schließlich in rhythmisches Stöhnen überging. Kyla sah aus dem Fenster, das in dieser Nacht ebenfalls zum ersten Mal unverhüllt geblieben war. Sie fragte sich, ob es dumm war, nicht zu fliehen, oder ob es schlau war, sich nicht unberechenbaren Feinden auszusetzen, sondern bei Zygal und Olha zu bleiben. Bei ihnen hatte sie immerhin bis jetzt überlebt. Und sie halfen ihr, Dinge zu erlernen, die ihr noch nützlich sein konnten. Kylas Lider wurden langsam schwer – sie schloss sie. Im Halbschlaf erinnerte sie sich daran, dass die Chyrrta, die ihr so freundlich gesonnen schienen, in ihrem Kopf unbedingt Feinde bleiben mussten. Denn wenn sie sie einmal soweit hatten, dass sie ihnen vertraute, dann würde sie nicht mehr fliehen wollen. Und dann wäre es mit der Freiheit vorbei. Kyla begann sich zu fragen, was genau diese Freiheit eigentlich war, der sie so hinterher trauerte. War es das tägliche Hungern? Oder die Parasiten, die sich in ihrer Haut einnisteten? War es die ständige Suche nach Wasser, das verträglich war und sie am Leben erhielt? Vielleicht war es aber auch die Einsamkeit, die sie so vermisste. Als sie ein lautes Furzen aus dem Nebenraum hörte, entschied sie in ihrer Müdigkeit, dass es tatsächlich die Einsamkeit war, die ihr so sehr fehlte.
Dass sie nun mit anderen Chyrrta unter einem Dach leben musste, war für sie unerträglich. Und dann fiel ihr Olhas Lächeln ein, und Zygals Mühen, ihr einen Parcours aufzubauen, auf dem sie abwechslungsreich trainieren konnte. Kyla dachte darüber nach, wie glücklich die beiden sein konnten, dass sie einander hatten. Nur einen kurzen Augenblick lang gestand Kyla sich ein, dass sie es angenehm fand, nicht mehr einsam zu sein, sondern nun zum Leben dieses Paars zu gehören. Dann schlief sie ein.