Читать книгу Der schicksalhafte Kuss - Regina Zeh - Страница 10
Umzug
ОглавлениеMein Vater hatte in einer benachbarten Kleinstadt eine Arbeitsstelle als Maschinenschlossermeister bekommen. Als meine Eltern im Sommer 1955 eine größere Wohnung in dieser Stadt bekamen, zog die Familie dorthin um. Unsere neue Wohnung befand sich über der Landmaschinenfirma, in der mein Vater arbeitete. Sie hatte drei Zimmer, Küche und Bad, einen langen Flur mit Einbauschrank, einen großen Dachboden, auf den man über eine Ausziehleiter gelangte, und einen Kellerraum. In dieser Wohnung wurde mit einzelnen Öfen
geheizt. Im Kinderzimmer stand ein Ofen, im Wohnzimmer ebenso. In der Küche gab es einen Küchenherd, der mit Holz und Brikett befeuert wurde, und einen elektrischen Küchenherd. Im Badezimmer waren ein Wandstrahler und ein Heißwasserboiler, die vor dem Baden angestellt wurden. Im Schlafzimmer meiner Eltern gab es keine Heizmöglichkeit.
Auf dem Dorf hatten wir auf der „Hühnerwiese“ oder auf der freien Fläche des Bauernhofs gespielt, in der Stadt spielten wir in den Trümmern. Vor dem Gebäude der Landmaschinenfirma lagen die Ruinen eines großen Wohnhauses, das im Krieg zerstört worden war. Nur das Kellergeschoss war erhalten, die Decke fehlte. Es bestand aus unterschiedlich großen Räumen. In einem dieser Räume stand eine Holzkiste, die mit Sand gefüllt war. Ein kleiner Raum war als Toilette für die Männer der Firma ausgebaut und auch überdacht worden.
Wir Kinder konnten über eine Leiter in die Ruine hinabsteigen und dort spielen. War das Wetter nicht für Außenspiele geeignet, konnten wir vom Kinderzimmerfenster aus auf den Hof schauen. Da standen Trecker, Mähdrescher oder andere Landmaschinen, die repariert wurden. Besonders spannend war es, wenn ein Lanz-Bulldog angelassen wurde. Erst wurde er mit einem Schweißbrenner angewärmt und dann vorn angekurbelt.
Wie die Geräusche des Motors erst schwerfällig klangen und dann immer schneller wurden, war interessant. Wir Kinder wussten auch bald, wann der Motor des Bulldogs es schaffte. Gab er nicht die richtigen Töne von sich (lief er noch nicht richtig rund), ging er wieder aus, wurde wieder angewärmt und wieder gestartet. Jedes Mal ein tolles Erlebnis.
Gelegentlich wurden auch neue Mähdrescher angeliefert, die den Schriftzug der Landmaschinenfirma bekamen. Diese Arbeit machte ein Maler, der eine starke Schüttellähmung hatte. Wir Kinder sahen vom Fenster aus gespannt zu, denn so heftig dieser Mann auch zitterte, er traf immer die richtige Stelle, um den Schriftzug zu vervollständigen.
Eine andere wichtige Besonderheit war, dass wir in der Nähe des Güterbahnhofs lebten. Alle „großen Dinge“ kamen an unserem Haus vorbei. Waren Manöver angesetzt, wurden die Panzer auf dem Güterbahnhof verladen und fuhren vor und nach den Übungen an unserem Haus vorbei. Dann klirrten sämtliche Gläser in den Schränken. Aber noch interessanter war es, wenn ein Zirkus angekündigt war. Vor unseren Fenstern wurden Pferde, Ponys, Kamele, Lamas und Elefanten vorbeigeführt und viele Zirkuswagen mit Unimog oder Bulldog vorbeigezogen.
Im Dorf hatte ich einen Schulweg von nur einer Minute gehabt – nur schräg über die Straße. In der Kleinstadt musste ich weit laufen. Es war eine große Schule, sechszügig, und jede Klasse – mit mindestens doppelt so vielen Schülern wie in der zweiklassigen Dorfschule – hatte ihren eigenen Klassenraum.
Meine Eltern hatten immer einen Garten, in dem Obst und Gemüse angebaut wurde. Im Dorf waren wir mit einem kleinen Leiterwagen in unseren Garten gefahren. Unser erster Garten in der Kleinstadt lag in einer Gartenkolonie etwa 3 km von unserer Wohnung entfernt und war gut mit Fahrrad oder Bus erreichbar.
Ich kann mich noch an Busfahrten erinnern, bei denen mich fremde Erwachsene aufforderten, den Sitzplatz für sie frei zu machen. Wenn er in der Nähe war, kam mir mein Vater zu Hilfe und klärte die Leute mit leiser Stimme auf, dass ich nicht stehen könne, weil ich was am Bein hätte. Ich brauchte nie aufzustehen, aber ich fühlte mich dabei auch nicht wohl. Ich hatte den Eindruck, dass meinem Vater die Situation peinlich war. – War ich ihm auch peinlich? Wurden Familienfotos gemacht, wurde mir immer gesagt, wie ich mich hinzustellen hatte, damit man „das Bein“ nicht so sah. Damit war für mich deutlich, dass meinen Eltern mein linkes Bein irgendwie unangenehm war, obwohl ich von meiner Mutter und anderen Verwandten mehrfach zu hören bekam: „Weil der liebe Gott dich besonders lieb hat, hat er dir diese Krankheit geschenkt!“ Total verwirrend – ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und meine Eltern wussten nicht, wie sie mir oder anderen die Situation erklären sollten. Mein Anderssein, meine Behinderung sollte ein Geschenk sein? Ich fühlte mich nicht beschenkt! Aber über ein Geschenk von Gott durfte niemand meckern, auch ich nicht. Ein Geschenk bekommt man nur zu besonderen Anlässen, dadurch wird man auf besondere Weise geehrt. Aber weshalb hatte ich dieses lästige Geschenk bekommen?
Im Haushalt hatte ich genauso meine Verpflichtungen wie meine jüngeren Schwestern. Es war mir auch wichtig, nicht behindert zu wirken. Ich wollte normal sein, dazugehören – und gehörte doch nicht wirklich dazu. Wenn ich gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter mir hatte, machte es mir Mühe, mich wieder auf meine Familie einzustellen. Eine meiner Schwestern berichtete mir, dass unsere Mutter sie häufiger aufgefordert habe, meine Aufgaben zu übernehmen, weil ich doch „nicht so konnte“.
Wochen und Monate hatte ich in einem 14-Betten-Saal zugebracht, die Räume waren hoch und die Flure breit und lang. Die ganze Wohnung meiner Eltern war nur etwa so groß wie dieser Saal, mit den dazugehörigen Wänden zwischen den einzelnen Räumen. Ich fand sie winzig.
Angeblich hatte ich auch immer Extrawünsche. Im Krankenhaus wurden „Futterzettel“ geschrieben. Auf denen stand, welches Getränk morgens zum Frühstück gewünscht wurde, ob Brot oder Brötchen mit Butter, Honig, Marmelade oder Wurst und Käse und in welcher Menge. Für die Abendmahlzeit war es genauso. Und in dieser Gewohnheit bestellte ich mir bei meiner Mutter dann auch morgens Kakao und Brötchen – was es zu der Zeit in unserer Familie nur sonntags gab.
Nach den Krankenhausaufenthalten spielte ich mit meinen Geschwistern und Puppen „Krankenhaus“. Dazu gehörten ein Arzt (das war ich), eine Krankenschwester, ein oder zwei Patienten (das waren Puppen oder jüngere Geschwister) und Betten, Verbandszeug und ein roter Stift. Den Puppen und den jüngeren Geschwistern wurden mit dem roten Stift Narben und die dazugehörigen Stiche aufgemalt, und dann wurden Verbände angelegt. Die jüngeren Geschwister wurden sehr gerne als Patienten genommen. Sie durften auch jammern und nach „Pabette“ (Tablette) fragen. Diese bekamen sie dann in Form einer Rosine, Mandel oder selten als Stück Schokolade.
1956 bekamen wir ein Klavier. Von da an wurde bei Familienfesten Klavier gespielt, und es wurden Lieder in schlesischer Mundart gesungen. Ein Onkel, der sehr gerne und gut sang, kannte immer wieder für uns neue hochdeutsche, lustige Lieder.
Unsere Mutter spielte gern Brett- und Kartenspiele, die sie uns sehr früh beibrachte. Bei gutem Wetter gingen wir sonntags spazieren, manchmal in den Wald, aber sehr häufig in unseren Garten, selten auch zu Verwandten oder Bekannten. Die besuchten uns häufiger, denn eine acht- und später neunköpfige Familie sprengte die Kapazität normaler Wohnzimmer. Sonntagnachmittag, nach dem Kaffee wurde gespielt. Unser Vater spielte nicht mit, kannte aber alle Regeln und kiebitzte gerne. Neben dem Spiel gab es Säfte und Kekse oder andere Knabbereien, manchmal wurde auch eine Schokolade „geschlachtet“.
Unser Vater hörte gerne Opern, Operetten und Hörspiele, anfangs am Radio und später von Schallplatten. In der Herkunftsfamilie meines Vaters wurde musiziert. Beide Eltern sangen im Kirchenchor, und mein Großvater wurde als Solosänger gern zu Familienfeiern eingeladen. Mein Vater hatte als Kind Geigenunterricht. Aber schon als Kind hatte er große kräftige Hände, die zum Geigenspiel nicht wirklich geeignet waren. Dazu kam, dass er weder das Instrument noch den Geigenlehrer, einen Bruder seiner Mutter, gern hatte.
In der Familie meiner Mutter wurde in der knappen Freizeit viel gelesen und gespielt. Von ihrer Mutter Rosa hatte sie oft gehört: „Die Mutter muss die Familie zusammenhalten!“ Dafür seien Spiele und Vorlesen im Familienkreis bestens geeignet.
Gerne erinnere ich mich an den Vater meiner Mutter, meinen Opa Joseph. Er erzählte uns Kindern oft Geschichten, mit Vorliebe von Joseph und seinen Brüdern, in Anlehnung an die biblische Geschichte. War unsere Mutter häufig gestresst und überlastet, strahlte Opa Ruhe aus. Noch heute wirken Erinnerungen an ihn beruhigend auf mich.
Durch eine Verletzung im Ersten Weltkrieg hatte er ein steifes Bein. Er beaufsichtigte mich, wenn meine Mutter mit meinen anderen Geschwistern Besorgungen oder Arztbesuche zu machen hatte. Wenn meine Mutter wiederkam, schliefen wir oft, Opa auf seinem Stuhl und ich auf einem Sofakissen zu seinen Füßen. Opa war fast immer etwas stachelig im Gesicht. Wenn wir über die Stacheln strichen, schnappte er mit seinem Mund nach unseren Fingern, ein Spiel, das uns allen große Freude machte.
Wir großen Geschwister, Theresia und ich, waren im Wettstreit, wer die kleinen Geschwister am besten beruhigen konnte. Wir durften ihnen die Flasche geben, sie füttern.
Ein Ereignis überraschte und bestürzte unsere Eltern sehr. Es war Sonntag und sie waren beide zur Frühmesse in die Kirche gegangen. Als sie zurückkamen, waren meine Schwester Theresia (4 Jahre) und ich (5 Jahre) dabei, unsere Schwester Monika – acht Monate alt – trocken zu legen. Weil sie weinte, hatten wir sie mit vereinten Kräften aus ihrem Gitterbettchen gehoben, in die Küche zum Sofa getragen und ihre Windeln gewechselt. Wie das gemacht wird, hatten wir oft genug gesehen. Mama vollendete die Aktion, und von da an gingen unsere Eltern – bis wir verständiger waren – nacheinander zum Sonntagsgottesdienst.