Читать книгу Wem gehört der Mond? - Regula Heinzelmann - Страница 3
Kapitel 1 Faust I: Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben
ОглавлениеAm ersten August 1914 unter den Linden: Militär, Marschmusik, Jubel, Hochrufe, Applaus. Gerade hatte Kaiser Wilhelm seine berühmte Ansprache gehalten und erklärt: „"Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder." Ein Hoch auf Kaiser und Vaterland! Flott ritten und marschierten die Offiziere und Soldaten durch die Straßen. Endlich durften sie, nach jahre- oder jahrzehntelanger Untätigkeit, sich bewähren, siegen, Helden werden! Jubel von den Menschenmengen, die die Straßen säumten, schwoll an, wenn neue Truppen durch die Straßen ritten. Die Mädchen und Frauen warfen den Soldaten Blumen zu. Nur wenige machten ernste Gesichter, darunter der Offizier Sigmar Graf von Hochhausen. „Nanu, was machst Du denn für eine Leichenbittermiene“, fragte ihn sein Kamerad, der neben ihm marschierte und ebenfalls Offizier war. „Das scheint mir passender als euer Jubeljo“, hätte er am liebsten geantwortet, aber im letzten Moment überlegte er sich, dass man ihm das als Feigheit auslegen könnte und schon rief sein Kamerad: „Na, du hast doch nicht etwa Angst?“ – „Vor dem Krieg doch nicht“, antwortete Sigmar scheinbar lässig, „aber um meine Frau mach’ ich mir Sorgen. Sie liegt in den Wehen - Siebenmonatsgeburt.“ – „Na, das soll ja öfter vorkommen“, meinte sein Kollege. „Keene Sorge, deine Friedegunde schafft das schon. Ist ein Prachtsweib - schön, liebenswürdig, gesund und reich dazu. Wat willste mehr? Und wenn nötig, päppelt eure tüchtige Jule den Bengel schon auf. Weihnachten sind wir wieder zu Hause, und du feierst unseren Sieg gleich mit Familie. Bist ein Glückspilz. Würde ja auch gern heiraten“, setzte er dann nachdenklicher hinzu. „Ist aber nicht so einfach. Adlig muss sie sein, Familiengesetz. Reich sagt mein Vater, Hauptsache anständig, die Mutter. Na sie haben ja alle Recht. Und gefallen muss sie mir natürlich auch noch.“ – „Das kommt schon noch, bist doch ein feiner Kerl“, meinte Sigmar. „Na vielleicht klappt es nach dem Sieg, das imponiert den Frauen. Bin vorläufig froh, dass ich mal raus komme“, meinte sein Kamerad. „Morgens exerzieren und nachmittags Kartenspielen im Club, das ist doch auf die Dauer kein Leben für einen Mann. Du hast deine Bank und sicher ein interessanteres Leben als ich.“ Sein bevorzugter Berufswunsch war das nicht gewesen, dachte Sigmar, aber er hütete sich, das zu sagen. Eigentlich wäre er gern Künstler geworden, Maler und Dichter. Aber sein Vater betrachtete solche Tätigkeiten als Freizeitvergnügen und hatte von seinem Sohn selbstverständlich erwartet, dass er das Familienunternehmen, die Hochhausen-Bank, nach seinem Tod übernahm. Aber Sigmar von Hochhausen war kein Bankier, das fühlte er immer wieder und er war froh, dass seine Frau ihn im Hintergrund unterstützte. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, dass sie ihn vor allem geheiratet hatte, um geschäftlich aktiv sein zu können. Gleichzeitig bewunderte er sie und freute sich, dass sie ihm ein Kind schenkte.
Sigmar sah auf die begeisterten Soldaten, die jubelnde Menge und all das kam ihm wie ein absurder Traum vor. Er wusste, dass viele Offiziere, die nun in den Krieg zogen, ähnlich dachten wie sein Kamerad, der neben ihm marschierte. Gerade schenkten einige schöne Mädchen ihm und anderen Offizieren Blumen, und sie genossen das offensichtlich. Sigmar war es recht, dass er sich ein paar Minuten mit niemandem unterhalten musste. Ihm graute es vor dem Krieg. „Ihr, die ihr da jubelt, werdet euch noch wundern!“ Als Wirtschaftsmann war Sigmar informiert über die Waffenindustrie. Sein Geschichtsinteresse hatte dazu geführt, dass er sich mit Militärstrategie befasst hatte. Immerhin musste Deutschland einen Zweifrontenkrieg führen, Sigmar hatte starke Zweifel daran, dass man die Kriegspläne so durchführen konnte wie geplant. „Begeistert auf den Feind losstürmen und siegen, so stellt ihr euch das vor“, dachte er. „Ihr rennt alle blind in den Abgrund! Gegen das Arsenal von Zerstörungsapparaten, das euch erwartet, ist eure Kraft machtlos.“ Sigmar war darauf gefasst, dass er nun in den Tod marschierte, und er fragte sich, ob überhaupt jemals ein Soldat die industrielle Kriegsführung lebendig überstehen würde.
Inzwischen lag Sigmars Frau Friedegunde in den Wehen. „Ach die arme Jräfin“, meinten die Dienstboten, „macht sich solche Sorjen, weil ihr Mann in’nen Kriech muss, dass det Wurm zu früh kommt.“ – „Der gnädige Herr ist doch Offizier“, meinte ein Diener gravitätisch, „die trifft es nicht so leicht.“ – „Aber er ist doch eijentlich een Künstler mit seinen Bildern und Jedichten“, sagte ein Stubenmädchen, „und Künstler taugen nischt im Militär, sacht mein Bruder. Und mein Frieder is ooch Maler und malt jerade een Porträt von mir. Und wenn wir verheiratet sind, will er een schönet Hochzeitsbild machen. Det kommt vielleicht jar nich mehr dazu“, und sie weinte kurz, wurde dann gerufen. „Et jeht los, bringt heisset Wasser, statt hier rumzuquatschen“, befahl die Köchin. Friedegunde lag in den Wehen. Jule, die Friedegundes Amme gewesen war und schon von Kind an ihre Vertraute, hielt ihre Hand. Sie wussten beide, dass es keine Siebenmonatsgeburt war.