Читать книгу Tod auf dem Klangweg - Regula Stadler - Страница 8

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Am Donnerstagmorgen war das Wetter immer noch wie aus dem Bilderbuch. Liza Huber wollte die ihr verbleibende Zeit nutzen und nochmals zum Klangweg hinauf. Diesmal würde sie von der Sellamatt bis nach Wildhaus wandern. Sie hatte die Ferienwohnung in der Webstube Bühl oberhalb von Nesslau leider nur bis Ende Woche gemietet, da sie vorhatte, am Samstag nach Zürich zurückzukehren. Bei diesen phänomenalen Wetterverhältnissen drängte sich eine Änderung ihrer Pläne jedoch förmlich auf. Zudem wurde ihre Detektei in Zürich in letzter Zeit von Kundinnen nicht gerade überlaufen. Heute Abend würde sie versuchen, die Miete der Wohnung um eine Woche zu verlängern. Sie kannte die Webstube Bühl von früher. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie mit der Quereinsteiger-Ausbildung zur Primarlehrperson begonnen hatte, hatte sie einmal an einem Webkurs teilgenommen. Als sie zufällig im Internet entdeckt hatte, dass die ehemalige Webstube zu einem attraktiven Loft mit einer Toggenburger Hausorgel umgebaut worden war, die man als Ferienwohnung mieten konnte, hatte sie beschlossen, an diesem idyllischen und friedlichen Ort eine Woche Ferien zu machen.

Schon um neun Uhr parkierte sie ihr Auto in Alt. St. Johann bei der Talstation der Sesselbahn auf die Sellamatt und schwebte den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Oben angelangt, beschloss sie, direkt loszuwandern und erst im Restaurant auf dem Iltios einen Kaffee zu trinken. Sie schritt zügig aus, noch war kaum jemand unterwegs, das Gras war feucht vom Morgentau, die Landschaft funkelte und glitzerte in der Sonne. Liza fühlte sich wie in einer Märchenwelt. Immer wieder blieb sie an den einzelnen Klangwegstationen stehen, um die teils witzigen und spannenden Instrumente in Bewegung zu setzen und um, wie sie sich eingestehen musste, ein wenig zu verschnaufen. Sie war nicht mehr so sportlich wie früher; mit ihren achtundvierzig Jahren war sie etwas füllig geworden.

Ich muss unbedingt wieder abnehmen! Eine Detektivin, die schon nach kurzer Marschzeit in Atemnot kommt, das kann es doch nicht sein, schalt sie sich. Eine Weile blieb sie stehen und genoss die Aussicht ins Tal.

Obschon sie auf der Sellamatt auf einen Kaffee verzichtet hatte, spürte sie jetzt einen Druck auf der Blase. Weit und breit war niemand zu sehen; sie würde sich hinter einem der Büsche etwas weiter vorne auf der abschüssigen Seite des Weges erleichtern. Liza hatte ihre Hose bereits geöffnet, als sie einige Meter hinter sich etwas Grosses, Langes, Dunkles am Boden liegen sah. Ein Tier!, blitzte es ganz kurz in ihren Gedanken auf. Nein. Sie wusste sofort, dass das nicht stimmte. Es war ein Mensch, der da lag. Vorsichtig trat sie näher. Es war eine grosse Frau. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht auf dem Boden, kurze graue Haare, ein kräftiger Nacken, die Beine seltsam verkrümmt, dunkle Jeans, dunkle Sportjacke, Wanderschuhe. Tautropfen auf dem ganzen Körper. In Sekundenbruchteilen nahm sie all diese Eindrücke wahr. Was jetzt? Wie in Trance blieb sie eine Weile stehen und griff dann langsam zum Mobiltelefon, um die Polizei zu verständigen.

Michael Schönewald von der Kantonspolizei Wattwil nahm den Anruf im Auto entgegen: «Wo? Auf dem Klangweg oberhalb von Unterwasser? Bleiben Sie bitte da, wir kommen so rasch wie möglich.»

Er war mit seiner Kollegin Marion Canzoni unterwegs auf Patrouille Richtung Obertoggenburg. «Bei diesem Wetter ist es direkt ein Glück für uns, dass da oben eine Leiche liegt. Das ist das erste Mal in diesem wunderbaren Altweibersommer, dass ich in die Höhe komme.»

Marion pflichtete ihm bei: «Geht mir genau so. Eine weibliche Leiche sei es, hat die Frau am Telefon gesagt. Sie hat ziemlich schockiert getönt. Zum Glück muss sie nicht allzu lange warten.».

Als sie bei der Glockenbühne eintrafen, war Erika Althaus, die Ärztin aus Wildhaus, bereits vor Ort. Sie führte ihre Hausarztpraxis seit zwanzig Jahren; die Polizisten hatten auch schon mit ihr zu tun gehabt. Man kannte sich im oberen Toggenburg.

«Die Frau hat einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, mehr kann ich nicht dazu sagen. Ihr müsst den Amtsarzt und die Kriminaltechnik anfordern», begrüsste sie die beiden.

Dr. Althaus war eine stille, unscheinbare Frau, gelegentlich etwas barsch, aber nicht unsympathisch. «Ich bin bereits in Unterwasser gewesen, als mich Frau Huber angerufen hat.» Sie warf einen mitfühlenden Blick auf Liza, die bleich und ratlos neben ihr stand. Trotz der warmen Sonne war es Liza kalt und sie trat von einem Bein aufs andere. Warum sie nach dem Anruf bei der Polizei auch die Ärztin benachrichtigt hatte, hätte sie nicht mehr sagen können. Vermutlich hatte sie gehofft, dass der Frau noch zu helfen sei.

«Haben Sie uns angerufen?», wandte sich Canzoni an sie. «Ich bin Marion Canzoni, von der Kantonspolizei Wattwil und das ist mein Kollege Michael Schönewald. Danke, dass Sie gewartet haben.»

Sie reichte ihr die Hand. Die junge Polizistin hatte blonde, lange Haare und ein offenes, freundliches Gesicht. Sie lächelte ihr mitfühlend zu. Während Liza ihre Personalien angeben und erzählen musste, wie sie die Leiche gefunden hatte, informierte ihr Kollege die Kriminalpolizei, die Kriminaltechnik und den Amtsarzt.

Frau Althaus verabschiedete sich: «Ich kann hier nichts mehr ausrichten, und unten wartet noch viel Arbeit auf mich. Tschüss miteinander.» Sie reichte Liza die Hand, nickte den beiden Polizisten zu und machte sich auf den Rückweg.

Liza hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, wie lange sie da gestanden und Fragen beantwortet hatte. Irgendwann hörte sie das Dröhnen des Helikopters, und bald ging es bei der Glockenbühne zu wie in einem Bienenhaus. Die unmittelbare Umgebung war abgesperrt worden; Fotokameras blitzten, die Leute von der Spurensicherung krochen auf dem Boden herum, der Amtsarzt und ein Leichenführer beugten sich über die tote Frau.

«Sie sind Liza Huber? Walter Widmer, Ermittler der Kriminalpolizei St. Gallen.»

Ein freundlicher Mann war auf sie zugetreten, reichte ihr die Hand und führte sie aus dem abgesperrten Gebiet. Liza musterte den Polizisten unauffällig. Sie schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig. Er war mittelgross, untersetzt und leicht rundlich, wirkte aber kräftig. Ein runder Kopf, nur noch wenige, angegraute kurze Haare, ausdrucksvolle graugrüne Augen, sanfter Blick, schloss sie ihre innere Begutachtung ab.

Liza musste nochmals genau erzählen, wie sie die Leiche gefunden hatte, was ihr ein bisschen peinlich war. Dann wollte Widmer wissen, was sie so früh auf dem Klangweg zu suchen hatte, wo sie wohne, warum sie überhaupt im Toggenburg war. Als Beruf hatte sie «Primarlehrerin» angegeben; sie hatte einmal drei Jahre lang unterrichtet. Mit der Berufsangabe «Detektivin» ging sie zurückhaltend um, da sie bei den meisten Leuten falsche Vorstellungen weckte und die Polizei in der Regel voreingenommen reagierte.

Schliesslich sagte Widmer: «Das genügt vorerst, danke. Könnten Sie vielleicht morgen in Wattwil auf die Polizeistation kommen, um das Protokoll zu unterschreiben? Brauchen Sie psychologische Unterstützung? Die Sache scheint Sie sehr mitgenommen zu haben.» Er musterte Liza leicht besorgt; ihre von Natur aus blasse, beinahe durchsichtige Haut war weiss, der Blick ihrer dunklen Augen starr. Sie war ungefähr in seinem Alter, beinahe so gross wie er, vollschlank, rotes, leicht angegrautes, aber immer noch schönes Haar, kurzgeschnitten. Sie war keine Schönheit, aber die Frau gefiel ihm.

«Nein danke, es geht schon. Ich brauche jetzt nur einen Kaffee», antwortete Liza hastig.

Widmer blickte sich um. Die Leiche lag bereits auf einer Bahre und wurde soeben in den Helikopter eingeladen. Die Kriminaltechniker konnten ihre Arbeit ohne ihn machen. «Ich begleite Frau Huber zur Bergstation Iltios», informierte er seine Kollegen und zu Liza meinte er aufmunternd: «Dann wollen wir mal.» Ohne sie zu fragen, nahm er ihren Arm und führte sie von ihrem grausigen Fund weg Richtung Iltios.

Ueli war am Donnerstagabend auf dem Weg in die «Brauerei» in Nesslau, als sein Mobiltelefon klingelte. «Du, Ueli, die ‹Brauerei› ist heute geschlossen. Sie haben eine geschlossene Gesellschaft, eine Geburtstagsfeier, glaube ich. Wollen wir uns im ‹Grütli› treffen?»

«Oje, schade! Ich habe mich schon auf das feine Bier gefreut. Ok, das ‹Grütli› tut’s zur Not auch. Bis gleich, bin schon unterwegs.»

Es war Roman Gasser, einer der beiden Lehrer in Nesslau, mit denen er sich seit einigen Monaten einmal in der Woche auf ein Bier traf. Er hatte die zwei kennengelernt, als sie mit ihren Klassen bei einer Wanderung seine Weide überquert hatten. Dann waren sie sich einige Male zufällig über den Weg gelaufen und hatten bald beschlossen, sich regelmässig zu sehen. Die Mentalität der Bauern hier im Toggenburg hatte sich zwar seit seiner Kindheit verändert; die meisten waren offen, hilfsbereit und freundlich. Damals war sie jedoch einer der Gründe gewesen, weshalb er sich entschieden hatte, sein Heimattal zu verlassen und nach Zürich zu ziehen. Warum er hierher zurückgekehrt war, um einen Bauernhof zu übernehmen, war ihm selber nicht ganz klar. Denn ausser am Wochenende, wenn immer wieder einmal jemand aus seinem Freundeskreis in Zürich zu ihm auf Besuch kam, war Ueli an den meisten Abenden allein. Und mit seinem Bruder und dessen Familie, die in Wattwil wohnten, verband ihn wenig. Deshalb freute er sich, wenn er neue Leute kennenlernte, mit denen er über Dinge sprechen konnte, die ihn wirklich interessierten und berührten.

Er betrat das «Grütli», wo Roman Gasser bereits an einem Tisch sass. Die Beiz war recht voll, der Lärmpegel entsprechend hoch. Am Nebentisch, anscheinend dem Stammtisch, sassen Albin Hauser, der alte Bauer, der ihm vor vier Jahren seinen Hof verkauft hatte und zwei weitere ältere Männer, die Ueli vom Sehen kannte. Er nickte kurz in ihre Richtung und setzte sich zu Roman an den Tisch. «Wo bleibt denn Elis?», wunderte er sich.

«Der sollte jeden Moment da sein», gab ihm Roman zur Antwort.

«Wisst ihr’s schon? Auf dem Klangweg oben beim Iltios wurde heute Morgen eine Tote gefunden, ermordet, soviel ich gehört habe.» Die kräftige Männerstimme kam vom Stammtisch und gehörte Hans Rohner, einem Bauern, dessen Gestalt trotz seines vorgerückten Alters immer noch aufrecht und kraftvoll wirkte.

Roman und Ueli drehten sich zum Nebentisch um.

«Weiss man schon, wer es ist?» Diese Frage kam von Fritz Egli.

«Eine ältere Frau, hat’s geheissen. Den Namen haben die von der Polizei bis jetzt nicht herausgegeben», antwortete Hans Rohner.

«Dann wurde sie, äh, nicht … ihr wisst schon.» Fritz Egli linste halb lüstern, halb verschämt in die Runde. Er war ein verschlagen und arglistig wirkender, ungefähr siebzigjähriger Bauer, klein, dürr, mit einem wirren grauen Haarschopf.

Ueli war er äusserst unsympathisch, und er wandte den Blick angewidert von ihm ab. Sein Bier wurde serviert und er begann sich mit Roman zu unterhalten, doch beide waren nicht ganz bei der Sache. Der Leichenfund, über den allem Anschein nach auch an anderen Tischen gesprochen wurde, und die zunehmende Lautstärke am Stammtisch, an den sich mittlerweile zwei weitere Männer gesetzt hatten, lenkten sie ab. Eine Weile lauschten sie der Unterhaltung.

Als Egli zum Bier eine Runde Schnaps bestellte, wurde es wieder leiser. Die Stimmung war leicht angespannt, verhalten aggressiv. Wie meistens an solchen Stammtischen, dachte Ueli, der sich zunehmend unwohl fühlte. Während er noch überlegte, wie er sich mit Anstand verabschieden könnte, trat Elis Osmani in die Wirtsstube.

«Wisst ihr’s schon, deine Nachbarin, Ueli, die Marie Riefener, wurde auf dem Klangweg tot aufgefunden. Sie scheint ermordet worden zu sein. Jemand hat sie erschlagen.» Bleich und fassungslos liess sich Elis auf einen Stuhl sinken.

«Was, Marie, das kann doch nicht sein! Ich habe am Dienstagnachmittag noch mit ihr Kaffee getrunken!» Ueli war aschfahl.

Mit einem Mal war es still im ganzen Lokal. Alle schauten zu ihnen, vereinzelt waren mitfühlende Blicke auszumachen, doch bald nahmen die meisten ihre Unterhaltung wieder auf.

«Die tat doch immer von oben herab, wollte alle herumbefehlen, und eine Lesbe war sie auch.» Fritz Eglis hohe Fistelstimme war deutlich zu vernehmen. Er war offensichtlich angetrunken.

«Hör auf! Das gehört sich nicht, die Frau ist tot, lass sie in Frieden.» Hans Rohner schien noch nüchtern zu sein. Das Stimmengewirr wurde wieder lauter.

Ueli sass wie gelähmt am Tisch, schüttelte immer wieder den Kopf. Elis legte dem Freund den Arm um die Schultern.

«Du hast sie doch auch gekannt, Albin?», wandte sich Hans Rohner an seinen griesgrämigen Kumpel, der bis jetzt geschwiegen hatte.

«Komm, wir gehen.» Roman fand es höchste Zeit, dass Ueli hinauskam. Nachdem er bezahlt hatte, standen die drei auf.

«Ja, und du hast sie auch nicht gemocht. Kein gutes Haar hast du an der gelassen!» Das war wieder Eglis hohe Fistelstimme.

«Die Riefener haben viele nicht gemocht. Wenn man sie deswegen umgebracht hätte, wäre sie schon oft gestorben.» Albin Hausers Worte begleiteten sie auf dem Weg nach draussen, wo Ueli gierig die frische Abendluft in sich hineinsog.

Am Freitagmorgen war Liza im Auto unterwegs nach Wattwil. Ihre Ferienstimmung war merklich gedämpft. Sie schwankte zwischen sofort abreisen und die Fährte der ermordeten Frau aufnehmen wollen. Die Tote liess ihr keine Ruhe, also war es wohl besser, wenn sie ihrer Neugierde nachgab und versuchte, auf der Polizeistation so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Da sie dem sympathischen Polizisten bisher verschwiegen hatte, dass sie in Zürich als Detektivin arbeitete, würde sie das heute wohl nachholen müssen.

Ihr Detektivbüro war zu ihrem Erstaunen die ersten paar Jahre recht gut gelaufen, doch in letzter Zeit hatte sich die Auftragslage verschlechtert, und Liza war froh, dass sie dank einer kleinen Erbschaft etwas Geld hatte, auf das sie wenn nötig zurückgreifen konnte. Vielleicht war es damals keine so gute Idee gewesen, sich auf weibliche Klientel zu spezialisieren. Doch nach ihrer Scheidung war sie nicht nur auf ihren Exmann Oskar, sondern auf Männer im Allgemeinen nicht gut zu sprechen gewesen. Erst seit ungefähr einem Jahr hatte sich das beinahe unmerklich geändert, und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ab und zu einen Mann vermisste. Sie stellte ihr Auto auf den Parkplatz vor der Gemeindeverwaltung Wattwil und betrat die Polizeistation.

«Da sind Sie ja, Frau Huber, bitte kommen Sie herein», wurde sie von Walter Widmer begrüsst. Sein freundlicher Blick strahlte eine Ruhe aus, die sich auf Liza übertrug. Er schien alle Zeit der Welt zu haben. «Hier ist das Protokoll. Was noch fehlt, ist Ihre Wohnadresse in Zürich und die Adresse der Schule, wo Sie zurzeit tätig sind.» Nachdem er ihr einen Stuhl angeboten hatte, setzte er sich wieder an den Computer. «Also, Ihre Adresse bitte…»

«Heimatstrasse 27, 8008 Zürich», antwortete Liza.

«Und an welcher Schule unterrichten Sie?»

«Ich arbeite schon lange nicht mehr als Primarlehrerin», gestand sie etwas verlegen. «Momentan bin ich selbständig, ich habe eine Detektivagentur im gleichen Haus, in dem ich wohne …» Sie zögerte: «Und früher habe ich zehn Jahre bei der Stadtpolizei Zürich gearbeitet. Darf ich Sie fragen, wie die ermordete Frau heisst? Ich muss zugeben, die Tote lässt mir keine Ruhe mehr, nachdem ich quasi über sie gestolpert bin», brach es aus ihr heraus. Sofort ärgerte sie sich über ihr Vorpreschen.

Widmer musterte sie verblüfft. «Aha, eine ehemalige Kollegin! Und erst noch eine äusserst vielseitige! Sie wollen demnach Ihre restlichen Ferientage nutzen, um möglichst viel über diesen Mordfall in Erfahrung zu bringen! Hmm, ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist. Und Sie wissen, dass ich Ihnen keinerlei Auskunft geben darf. Tut mir leid. Den Namen der Toten werden Sie schnell genug selber herausfinden.» Er stand auf, um sie zu verabschieden und registrierte ein wenig belustigt die verschiedenen Gefühle, die sich in Liza Hubers Gesicht spiegelten. Sie kämpfte sichtlich gegen ihre Neugier, für die sie sich gleichzeitig zu schämen schien.

Auf dem Rückweg beschloss Liza, auf eigene Faust einige Nachforschungen anzustellen; sie konnte einfach nicht anders. Dieser Widmer sollte doch wissen, dass es nicht Sensationslust war, die sie antrieb, sondern berufliches Interesse. Es war wie eine Art Fieber, sie musste unbedingt herausfinden, was geschehen war. Ohne diese berufliche Neugier könnte sie ihren Job gar nicht machen. Als Erstes musste sie wissen, wie die Frau hiess und wo sie wohnte. Sie fuhr nach Nesslau zurück und parkierte ihr Auto vor dem Coop. Beim Einkaufen erfuhr man immer wieder Neuigkeiten. Schon bei den Gemüseregalen traf sie auf eine junge Frau, der sie auf ihren Spaziergängen bereits mehrmals begegnet war. Zum Glück ist es auf dem Land üblich, sich zu grüssen, dachte Liza und nickte ihr freundlich zu.

Diese unterbrach ihr Gespräch mit einer älteren Dame und rief aufgeregt: «Haben Sie es schon gehört? Auf dem Klangweg ist eine Frau ermordet worden! Marie Riefener.»

«Ja, ich weiss, ich habe sie gestern Morgen gefunden.» Im Nu war Liza von mehreren Leuten umringt, denen sie brühwarm erzählen musste, was sie erlebt hatte. «Weiss jemand von Ihnen, wo diese Marie Riefener gewohnt hat?»

«Bei uns oben, in Ennetbühl. Sie hat da ein Ferienhaus. Sie und ihre Freundin sind beinahe jeden Donnerstag hierhergekommen und meistens bis am Sonntagabend geblieben. Ich habe sie gesehen, wenn sie an unserem Haus vorbeigefahren sind.» Die Antwort kam von einer rundlichen kleinen Frau mit einem fröhlichen Gesicht. «Das Haus steht neben dem Bauernhof von Ueli Strässle, unserem Biobauern.»

Obwohl sie gutmütig lachte, glaubte Liza ihr anzusehen, dass sie nicht allzu viel von ihm hielt. Sie liess sich den Weg zu Strässles Bauernhof beschreiben und schaute dann demonstrativ auf ihre Uhr. «Oh je, ich muss weiter!» Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich und erledigte rasch ihre Einkäufe.

Da habe ich aber wirklich Glück gehabt, dachte Liza, als sie nach Ennetbühl fuhr. So glatt läuft es bei meinen Ermittlungen nicht oft. Da, das musste Riefeners Ferienhaus sein, und etwa 150 Meter weiter hinten war der Bauernhof. Gleich daneben stand ein älteres Wohnhaus mit wahrscheinlich drei Wohnungen. Liza steuerte entschlossen auf den Bauernhof zu, parkierte ihr Auto auf dem Kiesplatz und stieg aus. Noch bevor sie sich eine gute Begründung für ihren Besuch ausdenken konnte, trat ein Mann aus der Haustür.

Liza staunte nicht schlecht: Der Mann, der auf sie zukam und sie freundlich begrüsste, war äusserst attraktiv und sympathisch. Das wird wohl kaum der Bauer sein, ging es ihr durch den Kopf, und sie schalt sich sogleich für ihre Vorurteile. «Guten Morgen, ich bin Liza Huber. Ich … Sie wissen sicher, dass Ihre Nachbarin Marie Riefener gestorben ist. Ich habe sie gefunden, gestern, auf dem Klangweg.»

«Ja … Ueli Strässle», er schüttelte ihre Hand. «Ich bin informiert und auch bereits von der Polizei befragt worden. Kommen Sie herein, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?» Ohne ihre Antwort abzuwarten ging er mit langen Schritten ins Haus zurück. «Ich habe oft mit Marie Kaffee getrunken, erst am letzten Dienstagnachmittag noch. Sie war grad von Zürich gekommen, ausnahmsweise ohne ihre Freundin Karin. Dass jemand sie umgebracht hat, ist unfassbar für mich. Ich mochte sie sehr und freute mich immer, wenn die beiden da waren. Marie war an Kunst und Musik interessiert, weltoffen und hatte meist gute Laune, eine wirkliche Bereicherung in meinem Alltag.»

«Führen Sie den Bauernhof hier?» Liza war immer noch erstaunt.

«Ja, seit vier Jahren. Ich halte Milchschafe und produziere biologische Schafmilchprodukte. Das ist aber nicht mein Erstberuf; früher arbeitete ich als Grafiker in Zürich, in der Werbung.» Strässle lächelte und fuhr fort: «Es scheint mir ewig her, wie in einem früheren Leben.» Er schwieg gedankenverloren. «Marie wird mir fehlen. Mit ihr und Karin konnte ich über alles sprechen.» Fassungslosigkeit und Erschütterung machten sich auf seinen Zügen breit und mit einem Mal wirkte er um Jahre gealtert.

«Es tut mir leid. Aber ich kann es einfach nicht fassen.» Ratlos schaute er Liza an und schien erst jetzt zu merken, dass er mit einer wildfremden Person sprach.

«Ja, ein plötzlicher Tod, und noch dazu ein Mord, ist immer ein Schock. Auch mir ging es gestern so, obwohl ich Marie Riefener gar nicht gekannt hatte.» Liza zögerte. Sie wusste nicht recht, was sie den Mann noch fragen sollte und ob sie ihn noch weiterbefragen durfte; der Tod seiner Nachbarin schien ihm sehr zu Herzen zu gehen.

«War sie … war Marie schlimm verletzt?»

«Nein, sie hatte einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, das sah man, es war fast kein Blut zu sehen. Ich denke, sie war sofort tot. Sie lag hinter einigen Büschen am Abhang bei der Klangwegstation Nummer 6, der Glockenbühne.»

«Das war Maries Lieblingsposten. Sie läutete immer die Glocken, wenn sie dort vorbeikam, sie behauptete, sie könne eine Berggeistmelodie spielen.» Strässle rang um Fassung.

Lizas Gewissen regte sich. Warum konnte sie den armen Mann nicht in Ruhe lassen! «Herr Strässle, wissen Sie, ob Frau Riefener Feinde hatte im Toggenburg? Könnte es sein, dass sie Neider hatte? Immerhin war sie so wohlhabend, dass sie sich ein Ferienhaus leisten konnte.»

Die Ablenkung schien ihm gut zu tun. «Wenn Sie wissen wollen, ob mir jemand in den Sinn kommt, der Marie umgebracht haben könnte… Nein, ich kenne niemanden, dem ich eine solche Tat zutrauen würde. Sie war meistens die zweite Wochenhälfte hier. Die übrige Zeit lebte sie in Zürich. Vielleicht stammt der Mörder aus ihrem Bekanntenkreis in Zürich.»

«Was für ein Verhältnis hatte sie zu den anderen Nachbarn hier in Ennetbühl?»

«Ja», Strässle überlegte einen Moment: «Ich möchte niemanden anschwärzen, aber… Beate Richle, die in dem Haus da wohnt» – er zeigte mit der Hand aus dem Fenster auf das etwas heruntergekommene ältere Mietshaus –, «die hat sich mit Marie gar nicht gut verstanden. Die beiden Frauen konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Aber Beate ist harmlos, ein bisschen durchgeknallt. Sie hätte auch nicht die Kraft … Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde Marie hinter den Büschen versteckt. Also musste sie jemand dort hingeschleppt haben. Sie ist eine grosse, schwere Frau, hat sehr gern gegessen und getrunken. Sie hat das Leben genossen. Wenigstens das.» Wehmütig blickte er aus dem Fenster. «Also, Beate hätte schlicht nicht die Kraft, Marie irgendwohin zu bewegen, da bin ich mir sicher.»

Liza war da nicht so sicher. Wenn es sein musste, konnte beinahe jeder Mensch ungeahnte Kräfte entwickeln. Sie wollte als Nächstes mit Beate Richle sprechen.

«Und dann…, gestern Abend war ich ausnahmsweise im ‹Grütli›. Die Bauern am Stammtisch haben nicht gerade freundlich von Marie gesprochen. Es gibt durchaus Leute hier oben, die sie nicht mochten.»

«Können Sie mir die Namen dieser Bauern geben? Ich möchte der Sache ein bisschen nachgehen.»

«Ich kenne nur den Albin, der hat mir den Hof hier verkauft. Der hat nicht viel gesagt, ist einer der schweigsamen Sorte. Er heisst Albin Hauser und wohnt in Nesslau, wo genau, weiss ich nicht. Die beiden anderen Männer kenne ich nicht. Da müssten Sie Elis Osmani und Roman Gasser fragen. Ich kann Ihnen ihre Adressen geben.»

«Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben und auch für den Kaffee.» Liza stand auf.

«Nichts zu danken. Ich kann mich ohnehin nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Meine Energie reicht gerade knapp, die Tiere zu füttern, alles andere muss warten.» Traurig reichte er ihr die Hand: «Sie dürfen gerne wiederkommen, wenn Sie noch mehr wissen wollen.» Ueli Strässle schien von seinem Kummer dermassen absorbiert zu sein, dass er sich gar nicht zu wundern schien, weshalb ihm Liza all diese Fragen stellte. Sie hoffte, dass es den anderen, die sie noch zu fragen beabsichtigte, ebenso erginge.

In Gedanken versunken überquerte Liza den Kiesplatz und studierte die verwitterten Namensschilder am Nachbarhaus. Es hatte drei, zwei waren angeschrieben. Sie läutete beim untersten, einer Frieda Kunz. Nach langem Warten hörte sie langsame, schlurfende Schritte. Eine alte Frau öffnete die Türe.

«Guten Tag, Frau Kunz? Ich bin Liza Huber. Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin Marie Riefener stellen? Sie wissen sicher, dass sie gestorben ist.»

«Ich hab’s gehört, ja. Ihre Kollegen waren doch bereits da. Was wollen Sie denn noch wissen?» Die alte Frau wirkte müde und etwas desorientiert.

Liza beschloss, sie im Glauben zu lassen, dass sie von der Polizei sei. Das konnte nicht schaden. «Wie gut haben Sie Frau Riefener gekannt?»

«Wir haben uns gegrüsst, mehr nicht. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen. Ich komm ja kaum noch aus dem Haus.»

«Wissen Sie, ob sie mit jemandem hier befreundet war?» Liza liess nicht locker.

«Nein, tut mir leid. Ich weiss nichts. Auf Wiedersehen.» Frau Kunz schloss die Türe.

Liza entzifferte das mittlere Türschild: Margrith Schaller. Wo wohnte denn diese Beate, von der Ueli Strässle gesprochen hatte? War die nicht angeschrieben? Sie läutete bei Frau Schaller.

«Die wohnt nicht mehr hier, die ist im Pflegeheim.»

Liza fuhr herum.

Eine kleine magere Frau, einige Jahre jünger als sie, mit stechend blickenden schwarzen Augen, kam auf sie zu.

«Habe ich Sie erschreckt?» Etwas, was man als Genugtuung interpretieren könnte, breitete sich auf ihren spitzen Zügen aus, ihr Blick war unverändert starr.

Die scheint auf Drogen zu sein, war Lizas erster Gedanke, und der zweite: Das muss Beate Richle sein. Sie trug grellgelbe Hosen und eine blaue Bluse. Sie wirkte leicht schmuddelig und verwahrlost. «Guten Tag, Frau Richle. Ich bin Liza Huber. Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin Marie Riefener stellen? Sie wissen sicher, dass sie gestorben ist.» Liza machte entschlossen einen Schritt auf die Frau zu.

«Ja, ich weiss, dass Marie tot ist! Das ist mir egal. Ich konnte diese Frau nicht ausstehen. Eine Lesbe und gleichzeitig mannsgeil, das will ich mir lieber nicht vorstellen. Sie trug ihre Nase sehr hoch. Ihre Freundin, die Karin, ist ein bisschen netter und freundlicher! Aber die Riefener, nein, um die tut’s mir nicht leid.» Nachdem Beate Richle diese Sätze scheinbar emotionslos ausgespuckt hatte, schwieg sie und musterte gespannt Lizas Gesicht. Liza war für den Moment um eine Antwort verlegen. Die Frau ist tatsächlich nicht ganz dicht, dachte sie. Trotzdem fragte sie: «Warum konnten Sie Frau Riefener nicht ausstehen? Können Sie sich vorstellen, warum sie umgebracht wurde? Wissen Sie noch von anderen Leuten, die Frau Riefener nicht mochten?»

«Ja, wie schon gesagt, sie war hochnäsig, benahm sich hier im Dorf wie eine Königin ihren Untertanen gegenüber. Und dann hat sie immer mit dem gutaussehenden Bauern nebenan, dem Ueli, geschäkert. Dabei hatte sie doch eine Freundin.»

«Aber deswegen bringt man doch niemanden um», Liza hoffte immer noch auf handfestere Informationen.

«Jaa, so gut kannte ich die Frau ja auch nicht.» Beate Richle schwieg verwirrt.

«Darf ich Sie fragen, wo Sie am Donnerstagnachmittag waren?» Ich kenne den genauen Todeszeitpunkt ja gar nicht, schoss es Liza durch den Kopf. Den muss ich so rasch wie möglich in Erfahrung bringen.

«Wo sollte ich schon gewesen sein. Hier zu Hause, natürlich. Ich arbeite nicht, habe IV. Ich mache Spaziergänge, und sonst bin ich meistens zu Hause. Ich möchte wieder einen Hund, der alte ist vor ein paar Monaten gestorben.»

«Das tut mir leid. Waren Sie gestern Nachmittag allein oder hatten Sie Besuch?»

«Ich war allein, habe mit meiner Tante telefoniert und den Ueli von drüben gegrüsst, als er vom Stall gekommen ist», erzählte Frau Richle bereitwillig.

«Wissen Sie noch, wann das ungefähr war, als Sie mit Ihrem Nachbarn gesprochen haben?»

«Das wird gegen fünf Uhr gewesen sein, denke ich. Jetzt muss ich ins Haus, ich muss dringend auf die Toilette.» Sie nickte Liza kurz zu, lief rasch an ihr vorbei und verschwand im Haus.

Mit dieser Frau stimmt in der Tat etwas nicht, sinnierte Liza, während sie nochmals zum Bauernhof zurückging.

«Ja, das stimmt. Ich habe Beate gegrüsst, als ich vom Stall gekommen bin, es war kurz vor fünf, glaube ich», antwortete Strässle nach kurzem Überlegen. «Um welche Zeit ist Marie umgebracht worden?»

«Das weiss ich leider nicht», räumte Liza ein.

«Sie haben Marie gefunden, haben Sie gesagt. Weshalb interessieren Sie sich eigentlich für diese tragische Geschichte?» Zum ersten Mal blitzte so etwas wie Neugierde in seinem Gesicht auf. Er schien Liza erst jetzt bewusst wahrzunehmen und musterte sie von Kopf bis Fuss mit wachsendem Interesse, was sie leicht verlegen machte. «Was machen Sie eigentlich hier im Toggenburg?»

Tod auf dem Klangweg

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