Читать книгу Pizarro - Reimar Paul - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL 1 „Legenden brauchen keine Noten“
Weserstadion, 18. Mai 2019, kurz vor halb vier. Am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison tritt der SV Werder gegen RB Leipzig an. Bei einem Sieg können sich die Bremer noch für die Europa League qualifizieren, sofern 1899 Hoffenheim und der VfL Wolfsburg ihre gleichzeitig ausgetragenen Partien verlieren.
Das Stadion ist natürlich komplett ausverkauft, die Stimmung bestens, die Sonne scheint bei 23 Grad. Vor wenigen Minuten ist Kapitän Max Kruse nach drei Jahren im Werder-Trikot verabschiedet worden, mit Blumen, freundlichem Applaus und auch ein paar Pfiffen. Kruse, bester Torschütze und Vorlagengeber der laufenden Spielzeit und Mannschaftskapitän, wird von den meisten Fans geschätzt, aber nicht unbedingt geliebt. Der von ihm mit betriebene, sich über Wochen hinziehende Vertragspoker hat ihn Sympathien gekostet.
Kurz vor dem Anpfiff, gerade ist die Startaufstellung der Gastgeber bekanntgegeben worden, unterbricht der Stadionsprecher mit einer „frohen Botschaft unserer Nummer 4“ das Programm auf der Videowand. Es erscheint dort das Gesicht von Claudio Pizarro. „Wir werden noch ein Jahr weiter machen“, verkündet er, doch das ist in dem einsetzenden Jubel schon gar nicht mehr richtig zu verstehen. Zuschauer liegen sich in den Armen, viele fangen an zu singen. „Pi-za-rro oho, Pi-za-rro ohohoho!“ Ein Gänsehautmoment mit Ansage, perfekt kalkuliert und inszeniert von den Werder-Verantwortlichen. Und nicht so schnell zu vergessen für diejenigen, die dabei waren.
Die Mannschaft will von all dem übrigens nichts mitgekriegt haben. Als die Videobotschaft läuft, hält Coach Florian Kohfeldt gerade seine Kabinenansprache. Auch Pizarro lauscht den Worten des Trainers. „Ich habe gar nicht mitbekommen, was draußen im Stadion passiert ist“, sagt er nach dem Spiel. „Ich wusste auch gar nicht, dass meine Videobotschaft gezeigt wurde.“
Dass Claudio, eine viertel Stunde zuvor für Yuya Osako eingewechselt, in der 88. Minute den Siegtreffer zum 2:1 erzielt, veredelt den denkwürdigen Tag. Auch wenn der VfL Wolfsburg sein Heimspiel hoch gewinnt und Werder somit knapp die Qualifikation für das internationale Geschäft verpasst, hat „Pizza“ in seinem fast biblischen Fußballeralter von 40 Jahren und 227 Tagen den Bremern einen äußerst emotionalen Abschied aus ihrer besten Saison der vergangenen neun Jahre beschert. Mit riesigem Abstand wählen die Leser des „Weser-Kurier“ Claudio hinterher zum „Man of the Match“.
Quasi nebenbei hat Pizarro neue persönliche Rekorde aufgestellt und alte verbessert – den des ältesten Torschützen der Bundesligageschichte bereits zum dritten Mal in dieser Saison. Gleichzeitig ist er nun der älteste Spieler, der jemals für Werder in der Bundesliga gespielt hat. Und er kommt jetzt auf 151 Einwechslungen, niemand ist so oft in ein Bundesligaspiel geworfen worden. In der Wertung der torhungrigsten Einwechselspieler schließt Pizarro zu dem Freiburger und ehemaligen Bremer Stürmer Nils Petersen auf. Beide haben 21 Treffer auf ihrem Konto.
Die beiden letzten bekannten Fotos des Tages von ihm zeigen Claudio Pizarro in zivil. Die erste ist ein Selfie mit einem Porschefahrer, dessen Fahrzeug er beim Ausparken vor dem Weserstadion gestreift hat. Auf dem zweiten Bild ist „Pizza“ inmitten einer Gruppe von Polizisten zu sehen, die den Blechschaden aufnehmen. Auch in dieser Situation macht Claudio eine gute Figur.
So clever platziert sie auch war: Richtig überraschend kommt die Nachricht, dass der wohl beliebteste Werderspieler aller Zeiten und „Kapitän der Herzen“ noch einmal ein Jahr dran hängt, gleichwohl nicht. Die Zeichen für eine neuerliche Vertragsverlängerung haben sich in den vergangenen Tagen zur Fast-Gewissheit verdichtet – nicht zuletzt durch die Anwesenheit von Claudio Pizarro Senior und Berater Carlos Delgado in Bremen.
Am Freitagnachmittag, einen Tag vor dem Spiel, ist Delgado gut gelaunt aus der Werder-Geschäftsstelle spaziert. Den auf der Lauger liegenden Journalisten erklärt er, sich dort mit Manager Frank Baumann getroffen und unterhalten zu haben. Zu einem neuen Kontrakt seines Schützlings sagt er zwar nichts, er weist lieber darauf hin, dass er mit Pizarros Vater seit 20 Jahren immer zum letzten Saisonspiel von Claudio reise. Die anwesenden Reporter lächeln wissend.
Nach dem Spiel gegen Leipzig kommentiert Kohfeldt die Vertragsverlängerung mit dem Publikumsliebling. „Claudio hat nicht die Erwartung für nächstes Jahr, dass er 20 Spiele von Anfang an macht“, sagt der Trainer. Dass Pizarro einen neuen Kontrakt bekomme, sei allerdings „auch keine Romantik“: „Es war die Überlegung, ob er auch im nächsten Jahr, so wie gegen Leipzig, Impulse in unser Spiel bringen kann. Auf dem Platz, aber auch neben dem Platz.“
Frank Baumann assistiert dem Coach. „Wir haben zwar noch viele andere vorne, trotzdem kann Claudio noch in vielen Momenten den Unterschied ausmachen und ein Spiel in eine Richtung lenken“, wird der Werder-Manager, der selber noch zusammen mit Pizarro in einem Team gespielt hat, vom Portal „Deichstube“ zitiert. „Unabhängig davon, dass er in der Kabine, auf dem Trainingsplatz und insgesamt natürlich eine Wichtigkeit für die Spieler und für die Mannschaft hat.“
Claudio sei immer optimistisch und zuversichtlich, es sei wichtig, Typen an Bord zu haben, „die etwas erreichen wollen, egal ob sie 25 sind oder 40“. Auf die Frage nach der Laufzeit des Vertrages für Pizarro scherzt Baumann: „Wir wollten vier Jahre, Claudio sagte, er wolle erst einmal nur drei.“
„Pizza“ selbst kümmert sich zunächst um seine neue – alte – Rückennummer. Er schnappt sich die 14. Denn mit dieser Zahl auf dem Trikot hat er von 2001 bis 2007 und dann noch einmal von 2012 bis 2014 seine größten sportlichen Erfolge beim FC Bayern München gefeiert. Er trug sie auch während seines weitgehend missratenen Premier League-Abenteuers beim FC Chelsea in der Saison 2007/08 und noch einmal von 2015 bis 2017 bei Werder.
In Bremen wird Claudio weithin mit der 14 identifiziert – als „CP14“. In den sogenannten sozialen Medien ist er als „claupiza14“ unterwegs. Als Pizarro ein Jahr zuvor zum fünften Mal an die Weser zurückkehrte, musste er mit der Nummer 4 vorlieb nehmen. Die 14 war da schon an Ole Käuper vergeben. Inzwischen ist der Mittelfeldspieler und Nachwuchsmann an den Drittligisten Carl Zeiss Jena verliehen worden.
Einen Tag nach dem Ligaabschluss gegen Leipzig und der offiziellen Bekanntgabe der Vertragsverlängerung tritt Werder zu einem Freundschaftsspiel beim Landesligisten SC Blau-Weiß 94 Papenburg an. Obwohl er in der Partie gar nicht mitkickt, dreht sich natürlich alles um Pizarro. Hunderte Fans feiern ihn mit Sprechchören, wollen ein Autogramm und ein Foto, Reporter bitten um ein kurzes Statement.
Claudio äußert sich nach dem Spiel, das Werder mit 4:1 gewinnt. „Ich glaube, das wird mein letztes Jahr“, sagt er. Und dann, nach einer kurzen Pause: „Das sage ich jedenfalls jetzt. Ich will meine Karriere in guter Verfassung beenden, ohne Verletzungen.“ „Forever young“, wie es Aufkleber mit Pizarros Konterfei auf zahlreichen Bremer Laternenpfählen und Ampelmasten verkünden, ist der Stürmer eben auch nicht. Im Oktober wird er seinen 41. Geburtstag feiern.
Was am 19. Mai noch etwas vage klingt, bekräftigt Claudio zwei Monate später. Am 19. Juli 2019, nach dem Vormittagstraining, betritt er, gut gelaunt und frisch geduscht, den Medienraum im Weserstadion – die Arena wird künftig wohninvest Weserstadion heißen, denn Werder hat den Stadionnamen an den Immobilienkonzern Wohninvest Holding GmbH aus dem baden-württembergischen Fellbach verkauft. „Das ist mein letztes Jahr, ganz sicher“, sagt „Pizza“. „Das habe ich mit allen Leuten so besprochen. Ich fühle mich ganz gut, aber es ist genug.“
Ein paar Tore werde er auch in der neuen Saison schießen, kündigt Pizarro dann noch an. Ein paar, was heißt denn das genau? „Das ist schwierig zu sagen, denn ich werde nicht jedes Spiel machen.“ Er gehe davon aus, ähnlich viele Einsätze zu bekommen wie in der vergangenen Spielzeit. Da stand Claudio in 30 Pflichtspielen auf dem Platz, meistens kam er als Einwechselspieler, erzielte dabei sieben Tore und bereitete zwei weitere vor.
Ein paar Tore also auch in der neuen Saison. Die beginnt für den SV Werder am Abend des 10. August mit dem Pokalspiel gegen Atlas Delmenhorst. Das Stadion ist wieder ausverkauft, alle freuen sich, dass es endlich wieder losgeht. Verlierer wird es – den allseits erwarteten klaren Werdersieg vorausgesetzt – in dieser Partie nicht geben. Die meisten Spieler und Fans aus dem nur 15 Kilometer entfernten Delmenhorst sind schließlich selber Werderfans.
In der 65. Minute, Werder führt 4:1, wird Claudio für Yuya Osako eingewechselt. Kaum auf dem Platz, steht er schon im Mittelpunkt. In der 68. Minute setzt sich Niclas Füllkrug auf der linken Seite durch. Er passt scharf in die Mitte zum mitgelaufenen Pizarro, der fährt sein rechtes Bein aus und drückt den Ball ins Tor. Noch einmal sechs Minuten später bekommt „Pizza“ die Kugel an der Strafraumgrenze. Ein kurzes Dribbling, eine Drehung, ein strammer Rechtsschuss flach neben den Pfosten. Ein tolles Tor, 6:1, das ist auch der Endstand.
Das Stadion steht Kopf. „Pi-za-rro oho, Pi-za-rro ohohoho!“ Die Sprechchöre, versichern später Ohrenzeugen, sind in der halben Stadt zu hören. „Ich kann nur jede Woche das gleiche Loblied auf ihn singen“, sagt Trainer Kohfeldt. „Es ist niemals ein Geschenk an Claudio, wenn ich ihn einwechsle, sondern immer das Resultat seiner Arbeit und seines Wertes für uns.“
Natürlich hat „Pizza“ einen weiteren Rekord aufgestellt: Er ist nun ältester Doppeltorschütze der DFB-Pokalgeschichte. Der „Weser-Kurier“, der nach jedem Werder-Spiel die Leistungen der eingesetzten Bremer Spieler mit kurzen Kommentaren und Schulnoten bewertet, schwingt sich, offensichtlich ganz berauscht von Claudios Gala-Auftritt, zu einer journalistischen Glanzleistung auf. Hinter Pizarros Namen steht: „Kam, sah und traf. Doppelt. Legenden brauche keine Noten.“
Legenden bekommen aber Auszeichnungen. Am Abend des 20. September wird Pizarro für seine „besonderen und herausragenden Leistungen im deutschen Profifußball“ mit dem „Ehrenpreis der DFL“ gewürdigt. Mit „Pizza“ ehrt die Deutsche Fußball Liga erstmals einen noch aktiven Spieler – er ist mit 473 Einsätzen und 197 Toren unter allen ausländischen Spielern der Bundesliga-Geschichte führend und mit 40 Jahren und 227 Tagen schon jetzt ihr ältester Torschütze. Den Preis erhalten außerdem Lothar Matthäus, Wolfgang Overath und Otto Rehagel.
„Schon als er 1999 aus Peru zu uns kam, war er ein unglaublich kompletter Spieler“, sagt der langjährige Werder-Trainer Thomas Schaaf in seiner Laudatio. „Mit toller Technik, schlitzohrig in jeder Situation des Spiels. Und seine Integration ging von ihm aus – nicht nur auf dem Platz. Zudem ist Claudio ein totaler Teamplayer und Menschenfänger im positiven Sinne, allein schon durch sein Lächeln und sein optimistisches Auftreten.“
Großen Optimismus verbreitet „Pizza“ auch in seinem Saisontipp für das „Werder-Magazin“. Auf die Frage, wo Werder am Ende der Bundesliga-Saisosn 2019/20 landet, antworten Claudio und Josh Sargent als einzige Spieler: Auf Platz 1. Dabei hat die Spielzeit gar nicht gut begonnen. In den ersten beiden Partien gegen Fortuna Düsseldorf und die TSG Hoffenheim, in denen eine fette Punktebeute eingeplant war, setzte es Niederlagen. Pizarro wurde in beiden Spielen eingewechselt, konnte aber keine Akzente setzen.