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Will ich …?

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Will ich auf die Kirche einschlagen? Nein. Will ich sie schönreden? Nein. Will ich ihren Niedergang noch einmal genüsslich beschreiben? Nein. Will ich über ihre Fehler hinwegsehen? Nein. Will ich ihr die Rückkehr zu altem Glanz versprechen? Auf keinen Fall.

Für die Kirche gilt heute ein janusköpfiger Satz. Auf der einen Seite steht: Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor. Auf der anderen Seite steht: Die Kirche ist so notwendig wie nie zuvor.

Wie ist das gemeint?

Die Kirche hat ihren Zusammenbruch ja schon fast hinter sich: Alles Gewohnte und als sicher Geglaubte zerfällt vor ihren Augen. Wer geht schon noch in die Kirche? Wer glaubt noch an ihre Botschaft? Wer liest noch in der Bibel? Wer lässt sich noch von ihr maßregeln? Hat sie eine Zukunft oder ist sie schon Vergangenheit? Viele Menschen, die Empfindsamen vor allem, erwarten heute einen Zivilisationsbruch, der die Weltgesellschaft, die wir kennen, auf den Kopf stellt. Die Coronakrise war und ist ein Vorgeschmack dessen, was wir zu erwarten haben. Ob der Bruch nun als Klimakatastrophe oder als Zerfall von Staaten kommt, ob den Menschen das Wasser ausgeht oder das Essen: Leid und Schmerz werden wachsen, sie sind ja schon da. Da taucht die Frage auf: Wird der Planet ein globales Hospiz brauchen? Wird die Kirche imstande sein, den Millionen und Abermillionen, die in den vor uns liegenden Jahrzehnten mit Flucht, Not und Tod konfrontiert sein werden, Trost und – soweit es ihre schwachen Kräfte erlauben – Zuwendung zu schenken?

Corona ist der Vorgeschmack auf das, was Nachdenkliche seit Jahren erwarten. Sichtbar werden die Umrisse eines in Trümmer geschlagenen Planeten. Nur eine Zahl, die für viele Zahlen steht: In den letzten vierzig Jahren sind in Europa 300 Millionen Brutpaare von Singvögeln verschwunden. Das heißt: 57 Prozent der Vogelpopulation ist ausradiert.1 Die Zahl spricht nicht nur von der Zerstörung der Schöpfung, sie spricht zugleich von der Vernichtung der Lebensbedingungen, die der homo sapiens braucht. „Ach wie verzweifelt sind jetzt die Menschen, die einst in so dichtem Grün lebten! Wo sind Bienen und Käfer, Schmetterlinge und Ameisen? Das bunte Vogelvolk? Tränen laufen den Menschen übers Gesicht, während sie vergeblich nach dem Schatten der Bäume suchen, nach dem Duft von Gras und dem sanften Rieseln der lebensspenden Bäche. Der Hochmut der Menschen hat die Erde zerstört, sie sind sich selbst zum Widersacher geworden.“ Ursula Baatz, österreichische Philosophin, hat die Klagelieder des Jeremias so für uns heute berührend weitergedichtet. Die Kirche steckt in einer Falle: Sie meint, sie müsse immer gleich von Hoffnung reden. Gebetsmühlenartig wird die ‚frohe Botschaft‘ über jede finstere Analyse gestülpt. Die ‚frohe Botschaft‘ verkommt zum Happy End, wenn die Kirchenmenschen es nicht wagen, die dramatische Bedrohung der Schöpfung und des Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Vor Ostern kommt Karfreitag. Der bedenkenlose Purzelbaum ins Positive, den Priester und Pfarrerinnen gern schlagen, nimmt der frohen Botschaft den Ernst und die Kraft. Die Propaganda des Positiven erlöst nicht, sondern nagelt uns ans Kreuz des Aberglaubens. Es ist das strahlende Geschenk der christlichen Botschaft, dass sie von Hoffnung und Erlösung reden kann. Bevor wir über Hoffnung reden können, muss indessen der Schmerz ertragen werden, der die Welt durchzieht.

Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor, weil sie mitschwimmt im Strom der Weltvernichtung. Die Kirche ist gleichzeitig so notwendig wie nie zuvor, weil die Menschen auf der verzweifelten Suche nach Trost sind, weil sie Zuflucht, Wärme, Heimat, Gemeinschaft, Rettung ersehnen wie nie zuvor.

Vielleicht wird die Stunde der Kirche schlagen, wenn die Welt zum globalen Hospiz geworden ist. Da liegt eine sterbende Schöpfung. Da seufzt eine leidende Menschheit. Wird die Kirche bereit sein zu einer bedingungslosen hospizlichen Zuwendung, die den Menschen den „Vorrang von Schmerzlinderung vor Heilung, die Maximierung persönlicher Kontakte, urteilsfreie Akzeptanz und umfassende Ausbildung für Hospizpersonal“ bereitstellt?2 Das hat Vorläufer: Franz von Assisi, der sich den Aussätzigen zuwandte; Elisabeth von Marburg, die ihre fürstlichen Gewänder ablegte und in einem Flickenkleid mit den Elenden lebte. Das werden die Vorbilder sein, dann, wenn Trost Mangelware sein wird. Es wird nicht der Augenblick des Triumphs sein. Aber der Schrei, der den barmherzigen Samariter herbeiruft, wird laut und lauter zu hören sein. Ja, dann könnte die Stunde der Kirche schlagen – aber die Kirche könnte die Stunde versäumen. Wird die Zukunft in Krisengebieten von marodierenden Trupps mit Kalaschnikow bestimmt sein oder wird der Erdkreis den Sanftmütigen gehören? Werden die Warlords die Leitfiguren oder jene ‚kleinen Brüder‘, die in konvivialen Gemeinschaften versuchen, Orte versöhnten Miteinanders zu schaffen? Taizé oder Drohnenmörder? Nonnen, die in Griechenland eine verfallene Kirche restaurieren und Obst anbauen, oder Kindersoldaten, die zum Werkzeug gewissenloser Schlächter werden? Wir müssen mit allem rechnen.

Wenn künftige Generationen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen, werden sie wahrscheinlich von der Zeit des großen Wandels sprechen, so hat es Joanna Macy gesagt. Joanna Macy ist eine 91 Jahre alte Kalifornierin. Es gehe – so Macy – um den Übergang von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer Gesellschaft, die das Leben langfristig erhält. Dazu sind, sagt sie, Aktionen, Initiativen, Blockaden notwendig, aber eben zugleich und vor allem ein Bewusstseinswandel. „Wachstum um jeden Preis“ ist einer der zentralen Glaubenssätze unserer Zeit, aber dieser Satz zerfällt vor unseren Augen zu Staub. Die Zukunft mag dunkel vor uns liegen, aber Ungewissheit, Stress, Verlorenheit gehören zu dieser Geschichte des tiefgreifenden Wandels.3 Ist die Welt ein Schlachtfeld? Ist sie eine Falle? Oder könnte sie eine Geliebte sein? Fragen, die Joanna Macy stellt. Die Kirche hat eine Zukunft, wenn sie diesen Wandel begleitet. Wenn sie ihn mit vorantreibt. Die Versuchung liegt darin, dass die Kirche sich zum Steuermann dieses Wandels erklärt und sich so der Illusion eines neuen Aufwindes und neuen Glanzes hingibt, der sie wieder nach oben trägt. So nicht. Ich kenne einen Priester, der in der Halle eines großen Betriebes als Packer arbeitet. Sonst nichts. Er ist da, an der Seite des neuen Prekariats. Keine Mission, kein hierarchischer oder theologischer Glanz begleitet ihn. Er ist einfach da. Und packt. Und packt wie die anderen. Unerkannte Kirche. Verborgene Kirche. Ivan Illich hat es schon vor Jahrzehnten formuliert: „Wir müssen dazu fähig sein, uns von bestimmten alten Bildern zu befreien, die uns glauben machen, dass die Kirche so sichtbar sein müsste wie ein Staat oder eine politische Institution.“4 In gewisser Weise geht diese zusammenbrechende, nur noch sich dahinschleppende Machtkirche uns allen und dem Schicksal der Weltgesellschaft voraus. Jonathan Franzen, der US-amerikanische Schriftsteller, hat gesagt: „Die Klimaaktivisten sollten aufhören, sich etwas vorzumachen.“5 Er hält den Kampf gegen den Klimawandel für schon verloren. Sind Weltgesellschaft und Weltkirche etwa in der gleichen Lage? Ein einziger Schlag, denkt man manchmal, und es ist vorbei mit der Kirche: Alles stürzt ein. Wird dann die Kirche endlich dem Gekreuzigten ähnlich, den sie in der Vergangenheit vergoldet hat, den sie mit Diamanten gekrönt hat, um das blutige Schlachtfest, das die Kreuzigung darstellt, vergessen zu lassen? Es wird die Stunde der Verhöhnung der Kirche kommen – wenn sie nicht schon da ist. Die Stunde der Demütigung, die die mächtige, die reiche, die herrschsüchtige Kirche in die Knie zwingt und vielleicht, ja vielleicht wird ihr jemand etwas auf das Haupt drücken, was an eine Dornenkrone erinnert. Eine leidende und mitleidende Kirche wird das sein, die sich dem Schrecken der Inkarnation, der Fleischwerdung nicht mehr entzieht – und damit selbst zum Abbild des Gekreuzigten wird. So kann sie dann die tröstende, die mitweinende Kirche werden, die sie immer hatte sein sollen. Eine Kirche, die aus dem Licht heraustritt, die stattdessen ins Dunkle stolpert. Über ihr schweben die Worte Paul Celans, die sie zögerlich nachsprechen kann:

Wir lagen schon tief in der Macchia,

als du endlich herankrochst.

Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln

zu dir:

Es herrschte Lichtzwang.

Es sei dies ein Gedicht kurz vor dem Verstummen, hat Paul Celan selbst gesagt. Die Kirche der Zukunft wird den Lichtzwang hinter sich lassen. Sie wird eine Kirche im Dunkeln sein. Glanzlos, stumm. Die Kirche der Zukunft wird eine sprachlose Kirche sein, gestützt von einer Theologie, der es die Sprache verschlagen hat. Sie wird anknüpfen an das, was einmal ‚apophatische‘ Theologie hieß. Apophatisch (‚absagend‘) – das ist nichts anderes als eine Theologie ohne besserwisserische Sätze. Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus sind sich darin einig, dass das Göttliche als letzter, eigentlicher Urgrund aller Dinge „völlig unnennbar, unbeschreibbar und unerkennbar“ ist.6 Wir wissen von Gott mehr, was er nicht ist als was er ist – so hat es der große, der heilige Thomas von Aquin gesagt.7

So wird sie sein oder sie wird nicht sein. Abschied heißt das von Pfarrern mit Pensionsberechtigung, Abschied von apostolischen Botschaftern, die bei Regierungen akkreditiert sind. Abschied von goldenen Kreuzen und bunten Gewändern. Es ist ein Abschied, der schmerzliche Trennungen einschließt. Denn es ist auch ein Abschied von christlichen Traditionen und von großen Teilen ihrer Erzählung. Von ihren Texten, von ihren Bildern, von ihren Melodien. Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies? Nie gehört. Arche Noah – ist das ein Zoo? Weil die Menschen den babylonischen Turm längst gebaut haben, werden sie auch die Geschichte vom Turmbau zu Babel vergessen wollen. Und die Psalmen, die die Mönche ein Leben lang mit sich umhertrugen. Wo sind sie? Vielleicht könnte ein Klagepsalm heute so lauten:

„Tatsache ist,

dass die Menschheit den einzigen Planeten, den sie hat, durch ihre profitorientierte Produktionsweise zerstört und dieser in naher Zukunft unbewohnbar wird.

Tatsache ist,

dass unter den Machteliten, Geheimdiensten und Militärs weltweit keinerlei Zweifel hieran besteht und diese sich bereits darauf vorbereiten, ihr Überleben gegen das der 99 Prozent zu verteidigen.

Tatsache ist,

dass der Kampf um die wenigen Tickets auf der neuen Arche längst begonnen hat und daher gilt, was der Pulitzer-Preisträger Chris Hedges auf den Punkt brachte, als er schrieb: ‚Den Planeten zu retten heißt, die herrschenden Eliten zu stürzen.‘“

Tatsache ist,

dass die Kirche nicht wirklich begreift, dass sie nicht so weitermachen kann wie bisher. Dass die Bindung an die bürgerliche Mitte der Gesellschaft, aus der ihre institutionelle Stärke kam, zerbrochen ist. Dass es jetzt gilt, sich radikal auf die Seite der Schwachen zu stellen und damit ihre Botschaft für sich und mit anderen auferstehen zu lassen.8

Die Landesschülervertretung in Rheinland-Pfalz fordert im November 2019 die Abschaffung des Religionsunterrichtes und will dafür die Landesverfassung ändern.9 Sie dürfte die Speerspitze eines Trends sein. Und sie spricht aus, was ist: Schule findet heute nicht mehr in einem christlichen Milieu statt. Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, Menschen, denen die Kirche völlig gleichgültig ist, sie sind das neue Milieu, in dem sich Kirche verblüfft und erschrocken vorfindet. Damit verschwindet vieles, vielleicht alles, was die Kultur der letzten 2000 Jahre bei uns fermentiert hat. Wie soll die Geschichte des Abendlands eigentlich von den Menschen noch verstanden werden, wenn sich an die biblische Schöpfungsgeschichte keiner mehr erinnert? Die Offenbarung des Johannes am Schluss der Bibel spricht von dem Drachen mit sieben Häuptern und zehn Hörnern. Er ist in zahllosen europäischen Fresken verewigt. Es weiß ja schon kaum noch einer von dieser Schrift, der Offenbarung des Johannes, die das Neue Testament abschließt. Vor dem Drachen, den Johannes beschreibt, stehen wir heute schon so ratlos wie vor steinzeitlichen spanischen Felsbildern. Von den Moses-Geschichten, der das Volk Israel durch das Rote Meer führt, bis zu den leidenschaftlichen Briefen des Apostels Paulus – sie sind nicht mehr Gegenstand der Auseinandersetzung, weil sie ganz einfach vergessen sind. Was irritiert, das ist die schmerzfreie Entsorgungsmentalität – als habe man es mit einer Müllfrage zu tun. Die Menschen, die aus einer christlichen Kultur kommen, stehen jetzt schon vor den Bildern des Pariser Louvre, der florentinischen Uffizien oder der Münchner Pinakothek wie chinesische Touristen: interessiert, aber kenntnislos. Das, was europäisch-christliche Kultur ausgemacht hat, fällt gerade einem Flächenbrand zum Opfer. Es bleiben rauchende Trümmer. Was wird darauf Neues wachsen? Wird Neues darauf wachsen?

Der Niedergang der Kirchen

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