Читать книгу Die Faxen Dicke - Reiner Hänsch - Страница 8
25.12. Zweiter Tach: Well done
Оглавление„Ts, ts, ts“, macht der Vorwurfsvogel. Er sitzt direkt vor meinem Fenster auf der Rückenlehne einer abgewetzten Sonnenliege und sieht mich frech und erwartungsvoll an. Ich weiß nicht, wie lange er mir schon Vorwürfe macht, bis ich endlich wach geworden bin, und ich weiß auch nicht warum, aber jetzt hat er es endlich geschafft, mich aus dem finsteren Totenreich der Langstreckenurlauber zurückzuholen. Ich sehe ihn ebenso interessiert an wie er mich. Er sieht prächtig aus, eigentlich besser als ich, ist recht groß, hat schwarzes Gefieder, das um die Beine herum weiß ist und an den Wangen fetzige, gelbe Streifen hat. Ich habe noch nicht einmal weißes Gefieder an den Beinen.
Um ihn besser zu sehen, muss ich gegen die Sonne anblinzeln. Ja, die Sonne. Es muss die Sonne sein, von der wir so lange geträumt haben. Die tropische, warme, glücklich machende Sonne. Sie blitzt durch das dichte, grüne Blätterwerk, das uns am Abend zuvor noch so unheimlich und abweisend vorkam, so als wollte der mächtige Urwald uns lästige, widerliche Eindringlinge wieder angeekelt ausspucken oder gar verschlingen. Diese Sonne entwickelt selbst durch die zerkratzten und ungeputzten Scheiben der kleinen Fenster unserer Hütte eine enorme Kraft.
Das Paradies? Haben wir es wirklich gefunden?
Max hustet im Schlaf. Er liegt in einem Bett, das quer zu unserem Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand unserer Behausung steht. Es ist eng, winzig und schäbig hier.
Wo sind wir? Strafgefangenenlager oder tropisches Obdachlosenasyl? Der optimistische Reisekatalog hat diese Behausung als SupHiBung, Superior Hillside Bungalow, angepriesen. Hört sich doch weitaus besser an, als es aussieht.
Max’ Husten hört sich jetzt allerdings schon fast so an wie das Bellen eines Seehundes, und das ist gefährlich. Wir kennen diese bösartige Art von Husten nur zu gut von hunderten durchwachten Nächten mit heißen und kalten Umschlägen, Tröpfchen, Zäpfchen, Säftchen und Wärmfläschchen. Oh, nein, bitte nicht. Bitte, nicht jetzt, wo wir doch im Paradies sind. Dieser Husten gehört ins Sauerland.
Steffi sitzt augenblicklich aufrecht im Bett. Den frechlauten Vorwurfsvogel hat sie nicht gehört, aber ihr Kind kann sie hören, wenn es am anderen Ende der Welt hustet. Sie fühlt ihn husten. Das war schon immer so. Während ich meistens aufwendig geweckt werden musste, wenn Max in seiner früheren Kindheit solche Hustenanfälle bekam, und mir dafür oft schwere Vorhaltungen machen lassen musste, war Vogelmama Steffi immer sofort da, wenn ihr Junges sie brauchte. Er ist eben immer noch ein Teil von ihr, weil er ja mal in ihr drin war. Das Ei. Ein großes Wunder. Mein Anteil an diesem Wunder ist da wohl eher zu vernachlässigen.
Steffi springt auf und der Vorwurfsvogel verschwindet ärgerlich krächzend.
„Der arme Kerl“, sagt sie. „Jetzt kriegt er auch noch diese Pest. Ausgerechnet jetzt. Warum sag ich denn immer, er soll den obersten Knopf zumachen, wenn er rausgeht, warum sag ich denn immer, er soll mit nassen Haaren überhaupt nicht rausgehen, warum sag ich das denn alles, wenn mir sowieso keiner zuhört?“
„Ach, wird schon wieder“, sage ich, aber das ist nicht unbedingt das Richtige.
„Wird schon wieder, wird schon wieder! Was Besseres fällt dir dazu auch nie ein“, schimpft sie weiter, und ich weiß, dass ich jetzt besser erst mal eine Weile die Klappe halte. Wenn sie in diesem Zustand ist, sollte ich lieber gar keine eigene Meinung haben. Das könnte sehr gefährlich werden. Für mich, für uns, für alle. Das kann für einen Außenstehenden schon mal so aussehen, als sei der Weiterbestand der ganzen Familie Knippschild, jetzt Nipsi, in Gefahr, was natürlich niemals so ist.
Steffi wühlt auch schon wütend in ihrer mitgebrachten Apothekentasche, die allein schon fast einen der riesigen Schrankkoffer füllt, und sucht das geeignete Gegengift für diesen verdammten Urlaubsversauer.
„Mist, ich hab doch an alles gedacht, aber den hab ich doch glatt vergessen. Der dämliche Prospan-Saft steht bestimmt noch auf der Kommode im Bad. Wenn man nicht an alles denkt!“
Steffi müsste jetzt eigentlich noch sagen: „Und du denkst sowieso an nichts“, aber das sagt sie dann nicht.
Sie blickt aus dem Fenster und sieht die Sonne. Und da wird sie still und verwandelt sich augenblicklich in ein staunendes, hübsches, kleines Mädchen. Ach, ich liebe sie doch sehr. Sie sieht die Sonne, nach der wir uns schon so lange gesehnt haben, die den finsteren, alles verschlingenden Dschungel vor dem Fenster in einen prachtvollen, tropischen Garten verwandelt hat.
„Ja, schön, nä“, sage ich, während ich sie so beobachte und lächle zufrieden und ziemlich blödsinnig dahin.
„Ja, schöön.“
Max bellt wieder und wacht auf.
„Cool“, sagt er statt „Guten Morgen“, als er aus dem Fenster blickt und bellt gleich noch mal. Wir verziehen die Gesichter und zucken bei jedem Huster rhythmisch zusammen.
Max bekommt erst mal irgendeinen Saft und eine Pille, und dann sieht sich die Familie Nipsi erstmalig in ihrem neuen Asyl um, das sie ja gestern Nacht überhaupt nicht wahrgenommen hat. Und man muss schon voller Anerkennung sagen: Es sieht absolut erbärmlich aus. Klein, eng, windschief mit enormem Renovierungsstau, einem rostigen, gefährlich eiernden und ächzenden Ventilator unter der Decke und vielen, vielen Ritzen in den dünnen Bretter- und Bambuswänden, durch die man sogar ein wenig von der gewaltigen Dschungelpracht sehen kann.
Ein Gecko klebt unter der Decke und schüttelt seinen Kopf. Nein, ich glaube, es sieht nur so aus. In Wirklichkeit bewegt er sich überhaupt nicht und wartet auf Fliegen. Auf uns hat er sicher nicht gewartet.
„Sah im Prospekt auch ganz anders aus“, sagt Steffi wieder und ihre Enttäuschung ist unüberhörbar. Sie hat aber durchaus recht. So haben wir es uns nicht unbedingt vorgestellt, das „Paradise Rock Resort“ aus dem Katalog „Traumziele der Erde“ auf der Trauminsel Ko Samui. So nicht.
O-Kli, o-Minib, o-TV … kein „Comfort“, kein „Senator“, kein „Deluxe“ und kein „Suite“. Bloß ein „Superior“, nach dem wir aber später noch suchen wollen.
„Wie viele Sterne hat denn der Schuppen?“, frage ich meine liebe Frau, weil ich’s einfach nur mal so wissen will.
„Keine Sterne“, antwortet sie bedrückt.
„Wie, gar keine Sterne?“
Das kann doch nicht sein. Selbst die allerübelste Absteige hat in den Katalogen immerhin noch fünf bis sechs Sterne, allerdings in der Landeskategorie, wie es immer so schön heißt, damit auch hinterher keiner den schwarzen Peter bekommt, wenn jemand vergeblich die Sterne gesucht hat.
„Drei Töffte-Sonnen“, sagt Steffi ganz traurig, als fühle sie sich allein verantwortlich für dieses Fiasko.
„Drei Töffte-Sonnen, Donnerwetter! Das hört sich doch gut an“, versprühe ich gut gelaunt etwas Optimismus, der aber leider sofort versickert.
Aus dem Wasserhahn tropft eine braune Brühe, die kaum eine Viertelstunde braucht, um wenigstens so klar zu werden, dass man sich trauen kann, einen Finger oder – für ganz Waghalsige – sogar die ganze Hand drunterzuhalten. Rüdiger Nehberg, der große Survival-Guru, hätte sich sicher auch noch das Gesicht da-mit gewaschen, die Zähne geputzt und hinterher noch einen köstlichen Tee damit aufgesetzt. Wir tun es erst mal nicht. Wir sind noch nicht so weit.
Ich werde gleich mal an der Lobby so richtig Wind machen. Nicht mit uns, Leute! So nicht. Da muss ein anderer Bungalow her. Wir wollen einen SupZiDuTeKliMe. Mindestens. Wenn nicht gar „Senator“ oder „Deluxe“ mit Minibar, TVSat, mit ALLEM!
„NICHT auf die Zahnbürste!“, bremst Steffi im letzten Moment unseren kränklichen, schwächelnden Max aus, der sich ganz artig die Zähne putzen will.
„Nicht auf die Zahnbürste! Hier ist extra Mineralwasser dafür“, ruft sie und reicht ihm eine der Plastikflaschen, die wohl freundlicherweise eigens für diesen Zweck bereitstehen.
„Mmh.“ Missmutig und achselzuckend lässt Max es über seine Zahnbürste laufen und putzt nachlässig und ohne Kraft und rechten Eifer seine Zähne.
„Fröhliche Weihnachten!“, rufe ich effektvoll meinen Leuten zu, als sie gemeinsam aus dem Bad kommen, und weise geheimnisvoll mit den Armen rudernd und etwas albern winkend auf die Päckchen, die ich in Windeseile auf dem Bett ausgebreitet und einigermaßen weihnachtlich zu drapieren versucht habe.
„Bescheeerung!“
„Ach du Scheiße“, sagt Steffi. Das finde ich jetzt nicht sehr weihnachtlich und ich sehe sie dafür auch einigermaßen vorwurfsvoll an.
„Weihnachten. Hab ich total vergessen.“
„Geil“, sagt Max, der Weihnachten zwar auch vergessen hat, aber das wichtigste Geschenk schon längst an seiner Form ausgemacht und brutal aufgerissen hat.
„Geil, ein Advance SP!“
Damit meint er die neueste Version eines Game Boys, von der er schon lange sehr dringend schwärmt. Die anderen winzigen Päckchen enthalten vier dazu passende Editionen, wie man die Software dafür nennt, und er ist glücklich. Volltreffer.
„Und das ist für dich“, säusele ich und halte Steffi ein kleines, ehemals im fernen Leckede-Hintersten liebevoll eingepacktes, aber nach fast zehntausend Kilometern Transport hoffnungslos zerknittertes Päckchen hin.
„Ich hab nix für dich!“, empört sie sich, „ich will nix“, und weist mein Päckchen entschlossen zurück.
„Ach, Steffi, ist doch nur ’ne Kleinigkeit, mach doch kein Geschiss draus“, spiele ich die ganze Sache runter, obwohl ich es doch ein klein wenig genieße, diesmal ein Geschenk für sie zu haben, wo sie offenbar keins für mich hat, denn meistens ist es andersherum. Ich drücke ihr das Päckchen gönnerhaft in die Hand. Sie nimmt es peinlich lächelnd an und öffnet es ganz vorsichtig und umsichtig.
„Ooooch, schööön, Oooohrringe!“
„Ja, schön, nä.“
Sie gefallen ihr also. Na bitte. So einfach ist das. Kurz nachgedacht und – schwupp – das richtige Geschenk ausgewählt.
„Aber ich hab doch gar keine Löcher“, meint sie dann ganz schüchtern und auch ehrlich bedauernd, dass sie mir jetzt doch noch das tolle Geschenk vermasseln muss.
„KEINE LÖCHER?“
Ich kann es gar nicht glauben und sehe sofort erst mal nach. Stimmt. Sie hat keine Löcher in den Ohrläppchen. Ja, hat denn nicht jede Frau Löcher in den Ohren? Mmh, meine jedenfalls nicht, und ich kann mich jetzt auch sehr dunkel erinnern, dass sie mir mal erzählt hat, dass es zu Entzündungen gekommen sei und dass sie dann die Sache mit den Löchern lieber gelassen hat. Es gäbe ja schließlich auch hübsche Clips.
„Naja … aber sie gefallen dir, ja?“
„Ja, seeehr schööön“, sagt sie höflich, und dann ist das Thema Geschenke und Weihnachten erst mal durch. Ist mir auch ganz lieb so. Tja, Clips. Naja.
„Zehn vor zehn“, stoße ich dann erschrocken mit Blick auf meine Uhr hervor und wühle schon panisch in meinen Taschen auf der Suche nach den Bläckfäss-Kuhponns.
„Wo hab ich die verdammten Zettel nur hingesteckt?“
Unser Leben scheint nur noch von Zetteln bestimmt zu sein.
Und wir brauchen sie ja unbedingt, um heute, am ersten Morgen im Paradies, nicht zu verhungern. Das hatte man uns ja noch eingeschärft. Da, ich habe sie. Ganz unten in den tiefsten, bisher unerforschten Tiefen der Tausend-Taschen-Hose.
So nenne ich meine geliebte grünbraune Expeditionshose, die ich so gerne trage, weil alles reinpasst, was man braucht oder auch nicht unbedingt braucht, aber erst mal lieber noch aufheben will. Manchmal dauert es bis zu einem halben Jahr, bis verschiedene sorgfältig, ausgewählte, aufgehobene seltene und unwiederbringliche Erinnerungsstücke wie Tankquittungen, Strafzettel oder Notizzettel mit wichtigen Adressen und Telefonnummern als zusammengeklumpte Papiermasse wieder auftauchen, weil meine Steffi natürlich nie die Taschen durchforstet, bevor sie meine Sachen brutal in die Waschmaschine stopft. Ts, ts, ts.
Die Bläckfäss-Kuhponns sind jedenfalls noch nicht zerfasert oder irgendwie beschädigt, nur leicht zerknittert, und das ist auch gut so, denn schließlich sind sie überlebenswichtig. Rüdiger Nehberg hat sicher keine.
Nur bis „tännäclock ey ämm“ gäbe es Frühstück. Auch das hat man uns gestern Abend noch eindringlich ins Koma geflüstert und außerdem steht es auch auf den Coupons drauf.
Jaja, Urlaub ist nicht einfach so rumhängen. Es gibt feste und eindeutige, ernsthafte Spielregeln, an die man sich auch halten muss. Wer mogelt, fliegt raus! Schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Der reibungslose Ablauf des durchorganisierten Urlaubsvergnügens muss einwandfrei gewährleistet sein, und wie ich das Räderwerk des Pauschalurlaubs kennengelernt habe, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass man auch hier im Paradies keine Gnade kennt.
Also hüllen wir uns, soweit noch nicht geschehen, in weitere sommerliche Kleidungsstücke wie kurze Hose, T-Shirt und leichte Bluse.
Ach, ist das schön, endlich mal die Jacken, Unterhemden, Schals, Pullover, Wollmützen, Mäntel, Thermojacken, Moonboots … also praktisch die gesamte Antarktis-Ausrüstung und vor allem die Schirme und Gummistiefel weglassen zu können! Und so eilen wir befreit aus der knarzenden Tür unserer Armenhütte in die sonnige, tropische Freiheit.
Ist das schön hier! Alles grün und dazwischen niedliche, halb zusammengebrochene Hütten wie unsere, aus denen sich wieder ganz andere Menschen aus ganz anderen Teilen der Welt quälen und ebenfalls ohne braunes Wasser im Gesicht den Tag begrüßen wollen und offensichtlich in Richtung Frühstücks-Arena hasten. Wahrscheinlich habe ich recht und das Frühstückszeitfenster schließt exakt um zehn Uhr. Ey ämm.
„Morng!“, ruft uns jemand aus der Nachbarhütte zu. Wir drehen uns erschrocken um und sehen Herrn Lotze-oder-so freundlich übers ganze Gesicht grinsen. In der rechten Hand eine dicke qualmende Zigarre.
„Na, wie isses? Chut cheschlaf’n? Schön hoite, woll?“
Etwas irritiert antworte ich: „Morgen! Gut. Ja … und ja.“
„Iss dat nich häärlich hia? Äntlich aus’m usseligen Doitschland raus, woll?“, sagt unser Nachbar und nuckelt an seiner dicken Zigarre.
‚Woll‘, sagt der? Ich wette, er kommt ungefähr da her, wo wir
auch herkommen.
„Un so schön waam, woll!“
Noch mal ‚woll‘. Ich winke irritiert, aber einigermaßen freundlich zurück.
„Pädder, getz mach den scheiß Stumpen aus! Wir müssen los!“, höre ich da noch hinten aus der Lotze-Baracke.
„Wo sind meine Schuhe?“, fragt Max und bellt noch mal, dass wir wieder rhythmisch mitzucken. Es tut uns jedes Mal selber weh und wir sehen uns mitleidend, aber auch genervt an. Zum einen natürlich wegen des verdammten Hustens, zum anderen aber wegen der Frage. Max weiß wirklich nie, wo seine Sachen liegen, und es scheint ihm auch egal zu sein. Seine Mutter wird ihm schon alles bringen. Ich sei angeblich genauso, er hätte das von mir. Aber das ist nur Steffis unverbindliche Meinung.
„Geh ohne Schuhe“, antworte ich ihm fröhlich und aufmunternd und fühle mich schon wie der ausgemachte Naturbursche, der entschlossen ist, endlich zum wahren, einfachen Leben zurückzufinden.
„Einfach so!“
Rüdiger Nehberg.
„Baarfuuß?“, fragt er mit blankem Entsetzen in den Augen.
„Ja, das geht hier. Barfuß. Natur, verstehst du? Wie Robin Kruse. Schon mal gehört?“
Ich weiß, dass er eigentlich Crusoe und Robinson heißt, aber Kruse hießen mal unsere Nachbarn, und die haben ihren Sohn Robin genannt. Das fand ich mutig.
Wir schaffen es nur bis etwa hundert Meter vor das Frühstücksgebiet – man kann es schon sehen – als Max in einen Nagel tritt, der im Paradies eigentlich gar nicht vorkommen sollte.
„Aua, aua“, jammert er, hüpft auf einem Bein und hält den vernagelten Fuß mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Au, verdammt, tut das weh, tut das weh.“
Ich bin kurz davor ’Stell dich nicht so an!’ zu sagen, aber ein Blick von Steffi genügt, diesen Ratschlag noch mal gründlich zu überdenken. Also wird im Handumdrehen daraus ein mürrisches „Lass mal sehen!“
Ich sehe mir fachkundig die Bescherung an und komme zu der halbwegs fundierten Meinung, dass es nur halb so schlimm sei. Der Nagel steckt ja noch nicht mal im Fuß drin. Er hat ja nur eine kleine, rote Delle hinterlassen, die in der Mitte einen winzigen Blutstropfen bildet. Wirklich winzig. Ich doziere aber trotzdem wissenschaftlich-pseudomedizinisch und absolut klugscheißerisch wie immer, dass man aber erst mal abwarten müsse, ob sich daraus eventuell eine Blutvergiftung ergeben würde. Ich kann’s eben nicht lassen. Das sähe man ja ganz einfach, indem die Vene (oder ist es die Ader?), die zum Herzen führt, nach einer Weile rot wird. Dann wäre es immer noch Zeit, etwas zu unternehmen.
„Blutvergiftung?“ – Steffi ist außer sich. Ich hätte dieses böse Wort einfach nicht benutzen sollen, es könnte mich um das heutige Frühstück gebracht haben. „‚Blutvergiftung‘, sagst du? Weißt du, was das heißt? Der Junge stirbt!“
„Jaaa, sicher … also, nein! Nein! … Es ist ja keine Blutvergiftung, es blutet ja noch nicht einmal“, versuche ich, das Unheil abzuwenden und das Frühstück zu retten. „Es ist auf jeden Fall KEINE BLUTVERGIFTUNG, Steffi, bitte, glaub mir.“
„Ach was, aber du hast ja gerade selbst gesagt, das kann man erst sehen, wenn die Vene zum Herzen rot wird. Willst du etwa so lange warten und Brötchen essen?“, schnauzt Steffi mich an und ist jetzt richtig wütend geworden. Ich bezweifle außerdem, dass es hier Brötchen geben wird, sage darüber aber erst mal nichts.
„Wir gehen jetzt zurück zu unserem Bungalow und ich wasche das auf jeden Fall aus, bevor ich in mein Brötchen beiße“, sagt sie mit einer Bestimmtheit, der man lieber nicht widersprechen sollte. Und dass sie unsere verfallene Baracke jetzt schon offiziell Bungalow nennt, finde ich richtig süß. Superior Hillside Bungalow, um genau zu sein.
„Nimm aber das Mineralwasser dafür“, gebe ich ihr noch als gut gemeinten Tipp mit auf den Weg, bin aber jetzt natürlich in einen ausgewachsenen Gewissenskonflikt geraten. Einfach und egoistisch den Weg zum nahen Frühstücksgelände antreten und meine Familie dem Schicksal überlassen, das kann ich ja nun auch nicht bringen. Was mache ich?
„Ach, es tut schon nicht mehr weh“, sagt da glücklicherweise der hungrige Max und steht auch schon wieder vorsichtig auf bei-den Füßen. „Lass uns lieber frühstücken gehn. Is schon wieder gut, ehrlich“
Steffi sieht ihn kritisch und zweifelnd an, aber vielleicht ist es auch bei ihr der Hunger, der sie magenknurrend einlenken lässt, nicht aber, ohne zu sagen: „Gut, dann machen wir’s eben am Tisch MIT MINERALWASSER!“
Und dann stiefeln wir los. Max humpelt ein wenig.
Es ist fünf Minuten nach zehn. Wir sind wohl die Letzten. Alle sind schon da, alle Tische besetzt, und die Bayern lächeln uns in Siegerpose zu. Erster! Sie haben sich den schönsten Platz auf dem hölzernen Deck gesucht, ganz vorne neben einer krummen Palme mit Blick auf das Meer.
Das Meer! Wir können es sehen und riechen. Oh, ist das schön. Herrlich blau und weit liegt es vor und etwas unter uns und noch etwa zwei-, dreihundert Meter entfernt. Aber es ist da und glitzert in der tropischen Sonne Ko Samuis, unseres Paradieses für die nächsten zwei Wochen. Die dicke schwarze Regenwolke, die sich von hinten energisch und bedrohlich ins Bild schiebt, ignorieren wir erst mal einfach. Die ist ja noch so weit weg.
„Melli Klissmä! Hau ah ju, Sir Missa Nipsi. Gutt molning, Madam Missi Nipsi. Hello Boy, wott jo nehm? Jo Bläckfäss-Kuhponns, pliess“, schiebt sich einer der Bediensteten sprechend und von rechts in das traumhafte Bild. Ich stutze noch einen kleinen Moment über „Melli Klissmä“, aber dann ist es mir auch schon klar, wir haben ja heute Weihnachten.
„Merry Christmas!“, antworte ich also fröhlich und reiche ihm lächelnd, aber etwas nervös, da wir die Zeit um fünf Minuten verpasst haben, den Coupon. Wenn das mal keinen Ärger gibt!
Aber er weist uns nur noch mal höflich darauf hin, dass es nur bis „tännäclock ey ämm Bläckfäss“ gäbe, dann gibt er uns den letzten noch freien Tisch – direkt neben der Toilette – ohne Sicht, ohne Palme, ohne Hoffnung. Verlierer.
Die Bayern grinsen hämisch. Na, wartet, denke ich. Morgen sind wir früher da. Die Sauerländer kommen noch!
Steffi sieht sich die fast tödliche Verletzung von Max jetzt genauestens an, gibt dann aber zögerlich Ruhe, weil wirklich nichts mehr zu sehen ist. Und von einer roten Spur des Todes bis zum Herzen schon gar nicht. Sie prüft das aber alle zwei bis drei Minuten mit einem sorgfältigen Blick auf den Fuß nach.
„Wott ju wont, Sir“, verneigt sich der nette, junge thailändische Mann, der eine Art folkloristische, landesübliche Tracht zu tragen scheint, die aber schon leicht zerschlissen, farb- und freudlos und teilweise auch in Fetzen an ihm herunterhängt und ihre besten Tage schon lange hinter sich hat. Er ist sehr freundlich und reicht mir bedenkenlos eine zerfledderte, laminierte Speisekarte, die sicher schon Generationen von Touris nachdenklich und interessiert auf der Suche nach der richtigen Essensentscheidung in ihren sonnenölverschmierten Händen gewendet, geknetet und bearbeitet haben müssen und deren Preise alle mit kleinen Schildchen überklebt und sicherlich speziell für uns saftig erhöht worden sind. Aber wir sind ja Pauschalis
Bläckfäss inkluussiff.
„Wott ju häv?“, frage ich zurück, schon recht gewandt, wie ich meine, mit der neuen Thai-Englisch-Sprache umgehend.
„Koffie, tii, tooss, sklämbel ägg, boil ägg, flei ägg, orän dschuu.“
Das hört sich doch nach einer gewaltigen Auswahl an, und ich nicke ihm wohlwollend und anerkennend zu. Meine liebe Steffi frage ich allerdings etwas nörgelig: „Gibt’s kein Buffet hier?“ Steffi zuckt mit den Achseln. Dann frage ich eben den freundlichen, jungen Mann: „No buffet?“
„No baffej“, bestätigt er mir freundlich lächelnd, schüttelt eifrig den Kopf und wartet höflich und weiterhin lächelnd auf unsere Entscheidungen betreffs der etwas eierspeisenlastigen Frühstückskarte. Ich entscheide mich spontan und locker für „flei ägg“, also Fried Eggs, jaja, ich habe schon verstanden, „Koffie“ und „Orän Dschuu“. Steffi nimmt fatalistisch ergeben das gleiche plus Mineralwasser und Max nur Tooss und Marmelade.
„Mmh, kein Buffet, schade, kein Käse, keine Wurst und leider auch keine typischen thailändischen kleinen Schweinereien“, bemerke ich nur so nebenbei, und das ist auch wirklich schon alles.
Aber Steffi fühlt sich durch diese so dahingesagten, nichts Böses wollenden Worte dermaßen angegriffen, dass sie aufgebracht kontert: „Ach, und dafür willst du MICH jetzt wohl verantwortlich machen? Weil ICH den Prospekt nicht sorgfältig genug studiert habe, was DU natürlich gemacht hättest. Das willst du doch damit sagen, oder etwa nicht?“
„Aber Steffi, ich meine doch nur ‚schade‘. Mehr nicht. Ist doch egal. Das Beste ist doch: Wir haben uns und sind gesund.“
Das sagen wir immer, wenn was wirklich Schlimmes passiert ist und man froh sein darf, überhaupt noch am Leben zu sein.
Ist also eher falsch.
Steffi ist den Tränen nahe und schluckt schwer. Max holt seinen neuen Game Boy Advance SP heraus und vertieft sich in ein unglaubliches Hundespiel, bei dem man junge Hunde aufziehen, füttern und trainieren muss. Es ist so realistisch, dass sie sogar auf Teppiche pinkeln oder auf den Rasen kacken. Sagenhaft.
„Wir hätten alles ganz anders machen müssen, ich weiß“, schluchzt sie, „aber es musste ja alles so schnell gehen und da hab ich gedacht …“
„Ist doch alles gut, Steffi, ich find’s prima hier, wir haben doch alles, was wir brauchen, man gibt uns zu essen und ist freundlich zu uns und besonders teuer ist es auch nicht, obwohl wir uns etwas mehr schon hätten leisten können. Zum Beispiel ein tolles Frühstücksbuffet.“
Das war’s.
Sie bricht regelrecht zusammen, schluchzt laut los und ist nicht mehr aufzuhalten. Das Ehepaar Leichenhalle sieht interessiert zu uns herüber und steckt die Köpfe zusammen, und auch die anderen Gäste scheinen eine aufregende, abwechslungsreiche Szene zu erwarten. Ehestreit im Urlaub ist ein besonders beliebtes Betätigungsfeld für gerade angekommene Neu-Touris, und wird von allen immer wieder gern als willkommene Abwechslung im langweiligen Urlaubsalltag angenommen. Der Stress der Anreise steckt noch in allen Knochen und das unerwartete Freizeitloch, das sich plötzlich vor einem auftut, ist so groß und tief, dass es einem Angst macht, und da öffnen sich schon mal die Ventile.
Es ist augenblicklich still und sogar die Wiener Caféhausmusik, die die ganze Szenerie bisher geradezu gespenstisch untermalt hat, verstummt. Die folkloristischen Bedienungen halten erschrocken inne mit dem freundlichen Ausschank von Koffie oder Tii und dem Ausliefern der drei verschiedenen Zubereitungsarten von Ägg.
Steffi verschwindet in der Toilette, von daher ist unser Platz strategisch durchaus günstig gewählt, und ich lächle den Leuten freundlich zu und warte sehnsüchtig auf Steffis Rückkehr und meine Flei Ägg.
Eins ist jetzt schon klar: Wir sind in einer ganz üblen Absteige gelandet. Darüber kann auch die Freundlichkeit des bemühten Folklore-Personals nicht hinwegtäuschen. Das „Paradise Rock Resort“ liegt in den letzten Zügen und man nimmt noch mit, was so an bekloppten Touristen angespült wird.
Was soll’s, wir sind jetzt hier und machen Urlaub. Jetzt erst recht!
Das Frühstücksareal selbst ist eine gefährlich wippende, knarrende, nach drei Seiten offene Holzebene, die dem Deck eines abgewrackten Bananenfrachters gleicht. Es ist alles zerschunden und zerrieben von Millionen von Touristen, die hier schon seit Jahrhunderten durchgeschleust worden sind und sich auf diesen Brettern von Koffie, Flei Ägg und Orän Dschuu ernährt haben, beziehungsweise knapp dem Hungertod entgangen sind, denn wirklich genießen kann man weder den Koffie noch die Flei Ägg. Der Kaffee ist eine üble, braunschwarze Brühe, die dem Aussehen nach eher dem ähnelt, was aus unserem Wasserhahn kommt. Es gibt nur eine vage Erinnerung an das aromatische Heißgetränk aus Südamerika, wenn man vorsichtig daran riecht. Den Rest überdeckt, wenigstens auf unserem Platz, der Gestank aus der Toilette. Die Flei Ägg sind unten verbrannt und das Gelbe ist hart. Schlimmer kann man Spiegeleier nicht versauen. Und der Toast ist eben einfach Toast, nicht einmal langweilig genug, um verdient zu haben, hier überhaupt erwähnt zu werden. Marmelade gibt’s auch. Die Lasche der Verpackung bekommt man aber nur mit den Zähnen auf.
Das ist also Urlaub? Na gut. Man muss sich eben dran gewöhnen. Aber: Ich habe bis jetzt noch ein nicht einziges Mal an meine Zeitung im Sauerland gedacht. Ob’s die wohl noch gibt? Für mich jedenfalls die nächsten zwei Wochen nicht. Aber Ulli oder Don Camillo muss ich später trotzdem unbedingt anrufen. Vielleicht brauchen sie mich ja doch. Es könnte ja doch was passiert sein – endlich mal. Ach ja, das Handy ohne Ladegerät …
Ich ziehe es vorsichtig aus meiner Tausend-Taschen-Hose und registriere noch vier Ladebalken. Könnte also noch eine Weile funktionieren. Schaltens wir’s also lieber erst mal aus.
Dann nippe ich an meiner braunen Brühe, schnibbele ein wenig am Toast herum und nutze die sinnlose Zeit des Wartens – mit Max kann man jetzt nicht reden, sein Hund hat gerade auf den Teppich gekackt –, um mir ein Bild von unseren Mitgefangenen zu machen. Schließlich ist es nicht unwichtig zu wissen, mit welchen Menschen man gemeinsam die Zeit der Verbannung verbringen wird, und ob es schon jetzt Anzeichen für mögliche spätere Spannungen und Auseinandersetzungen mit anderen Inhaftierten geben könnte.
Es gilt schon jetzt im Vorfeld, klug zu bewerten, wem man lieber aus dem Weg gehen soll und mit wem man sich möglicherweise zusammentun kann, um hier im tropischen Straflager Verbündete zu haben, mit denen man vielleicht sogar Ausbruchspläne in die Tat umsetzen kann. Papillon – Steve McQueen, Dustin Hoffman.
Direkt am Nebentisch vegetiert eine Familie vor sich hin, die sämtlich zusammengesackt vor den Herrlichkeiten des Frühstücks hockt und still und verzweifelt alles in sich hineinmampft. Das männliche Leittier dieser Gruppe taucht, tief auf seinen haarigen Arm gestützt, fast mit dem Gesicht ins Rührei und schlürft es laut und unappetitlich in sich hinein. Er hängt so tief über der Eimasse, dass man weder sein Gesicht erkennen noch die geschickte Schaufelbewegung der rechten Hand bewundern kann. Jeff Goldblum – Die Fliege, denke ich, der gerade nach dem misslungenen Selbstversuch mit seinem neugewachsenen Insektenrüssel eine Suppe schlürft. Bäh. Ich widme ihm meine ganze Verachtung.
Der Tisch auf der anderen Seite ist belebt von einem munteren Völkchen aus dem Norden. Zweifellos. Alle blond, recht groß und mit scharfkantigen Gesichtern versehen. Das Leben im Norden scheint wahrlich nicht einfach zu sein, aber man macht das Beste daraus. Gelegentliche herüberflatternde Wortfetzen wie „Oukohänstalasyönytlyijykynähämäläinen“ oder so was Ähnliches stützen meine nordische Theorie. Ich tippe auf Norwegisch, Finnisch, Läppisch … Keine Ahnung.
Ihr etwa vier- bis fünfjähriger, blonder Sohn, der in einem vollständigen Superman-Outfit am Frühstück teilnimmt, wird an-dauernd und lautstark mit „Osgary!“ ermahnt, weil er eben nur Mist baut. Soeben hat er seinem Vater, der irgendwie abwesend wirkt und nicht am Leben der Familie teilzunehmen scheint, beide Toasts geklaut, um sie an die rund um uns herum lauernden Vorwurfsvögel zu verfüttern. Der Mann hat es aber in seinem Kummer nicht bemerkt, wundert sich jetzt nur traurig über das heute wohl etwas mager ausgefallene Frühstück. Neidisch blickt er auf die vollen Teller seiner läppischen Restfamilie.
Er ist scheinbar ein Mann, der sich Fragen stellt. Wie er zu dieser Familie gekommen ist, oder wie er in dieses Land gekommen ist. Möglicherweise ist er ein Professor, der an einem nicht lösbaren Problem verzweifelt, das er seit Jahren mit sich herumschleppt. Ein Virenforscher vielleicht, der mit dem Gedanken spielt, mit dem tödlichen Virus doch endlich einen Selbstversuch zu wagen, auch wenn er es mit dem eigenen Leben oder schrecklichen Entstellungen bezahlen muss, um endlich das dunkle Geheimnis lösen zu können. Ein unheimlicher Mann. Ich beschließe, ihn „Dr. Mabuse“ zu nennen.
Dann gibt’s da noch eine überaus laute sechsköpfige Primatenfamilie, die von einem gefährlichen Silberrücken beherrscht wird. Der Silberrücken, ein grauhaariger, groß- und grobgewachsener Mann von enormem Umfang, lacht ständig laut und rücksichtslos, offensichtlich über seine eigenen Brüller, und seine Familie lacht mit. Sie müssen wohl. Nach außen hin aber sind sie ein kreischender, fröhlicher Haufen, der mir jetzt schon gewaltig auf den Keks geht. Louis scheint der Silberrücken zu heißen. Jedenfalls nennt ihn seine Frau so. Also, King Louie. Alles klar.
Ganz hinten sehe ich unseren neuen Nachbarn mit seiner Frau. Das Ehepaar Lotze-oder-so .Sie sind auch eben erst angekommen. Trödler! Er winkt uns freundlich zu, während Frau Lotze traumatisiert auf ihr Spiegelei stiert, ohne es zu essen.
Da kommt Steffi aus der Toilette zurück und hat sich wohl einigermaßen gefangen. Sie sieht mich an, ist gestärkt und wieder hergestellt. Woraus man in einer stinkenden Toilette so viel Kraft schöpfen kann, ist mir zwar nicht klar, aber es hat offensichtlich funktioniert. Die Spuren ihrer bitteren Tränen sind beseitigt. Hat sie womöglich das gefährliche Wasser für ihr Gesicht benutzt? Kommt es hier aus allen Wasserhähnen? Ist sie schon so weit? Rüdiger Nehberg?
„Steffi“, sage ich und drücke ihre schönen, schmalen Hände, die ich so sehr mag, ach, eigentlich mag ich ja alles an ihr. Sie ist so perfekt, das wird mir erst jetzt mal wieder so richtig klar, auch ohne Löcher in den Ohren. „Ich wär auch drauf reingefallen, bestimmt.“
Sie lacht leise und sagt: „Okay, dann lass uns jetzt den verdammten Urlaub genießen. Ich mein’s ernst.“
„Okay, ich auch!“
Den ersten richtigen, bei vollem Bewusstsein erlebten Tag im Paradies wollen wir ganz langsam angehen lassen. Und nachdem wir Max mehrmals gefragt haben, wie es ihm denn so gehe, und er jedes Mal „alles cool“ gesagt hat, obwohl er immer noch etwas Temperatur hat und laut bellt, beschließen wir, es ihm zwar nicht zu glauben, aber es trotzdem erst mal zu versuchen.
„Ich muss noch mal schnell zur Rezeption“, sage ich unverfänglich und so wie ganz nebenbei, aber Steffi schaut mich skeptisch an.
„Was willst’n da?“
„Ach, äh … nur mal so informieren“, sage ich noch und bin auch schon weg. „Drei Minuten!“, rufe ich noch. Ich will sie ja schließlich überraschen mit einem tollen neuen Luxusbungalow mit Minibar und allem. Na, die werden staunen.
Leider, erklärt man mir in der Rezeption freundlich lächelnd, seien alle Bungalows belegt. Tausch nicht möglich. Und warum auch? Alle Bungalows seien ja schließlich gleich. Ja, aber es gäbe doch „Senator“ und „Deluxe“ und so, bringe ich entrüstet vor.
„No, no, all the same.“
Aha. Ein Ladegerät für mein Handymodell gäbe es auch nicht und man hätte auch keine Ahnung, wo man so etwas bekommen könnte.
Nicht. Aah so. Na gut. Dann eben nicht.
Aber man hätte ja schließlich hier in der Rezeption ein tadel- los funktionierendes Hoteltelefon.
Ja. Er zeigt mir, wo es hängt, und ich sehe einen veralteten Münzfernsprecher. Und auf die Frage, warum denn in unseren Bruchbuden kein Telefon wäre, zuckt er nur mit den Schultern und lächelt.
Man kann diesen freundlichen Menschen ja nicht so richtig böse sein.
„Also, dann lasst uns doch mal sehen, wie es hier so ist“, rufe ich meinen beiden fröhlich zu, als ich unverrichteter Dinge wieder zurück auf dem Frühstücksdeck bin, und klatsche albern und unternehmungslustig dabei in die Hände.
Erst mal so rumgucken, denke ich. Von mir aus auch blöd. Egal. Wir sind im Urlaub. Alle und alles kennenlernen, sich orientieren. Wo bin ich, wer bin ich, wo komme ich her, wo will ich hin, und was will ich hier überhaupt?
„Strand!“, ruft Max und er hat verdammt recht.
Natürlich. Genau. Erst mal zum Strand. Wenn der Strand gut ist, dann ist alles andere nur noch halb so schlimm. Dann erträgt man sogar Essen mit erheblichem Optimierungsbedarf und tödlich-braunes Leitungswasser. Also traben wir erwartungsfroh los – immer den fröhlichen „Beach“-Schildern nach.
Sie führen uns zunächst einmal runter zur belebten Straße, die man dann leider erst mal überqueren muss. Das ist nicht ganz so romantisch, wie es der Katalog laut Steffis Aussagen verkündete.
Im Prospekt stand „direkt am traumhaften Strand von Chaweng Beach“ und auf jeden Fall nichts von irren Geschwindigkeitsrekorden, die wahnsinnige Selbstmörder auf dieser Piste zu brechen versuchen. Das Traumhotel liegt aber, wie es der Name ja auch schon diskret andeutet, etwas oberhalb auf einem Felsen, den man aber nicht sieht, weil er von diesem Dschungelgrün total überwuchert ist. Egal. Wir haben Zeit und Urlaub, und schon nach einer angemessenen Weile haben wir auch raus, wie schnell die sich teilweise schleudernd und mit quietschenden Reifen annähernden Fahrzeuge in gefährlicher Distanz zu uns sind, und wenn die Lücke uns groß genug erscheint, dann wollen wir es wagen, erst mal einen von uns probeweise durch diese Hölle zu schicken.
Leider sind die braunen Stauseen der letzten Nacht noch längst nicht weggetrocknet, und so müssen wir immer wieder den gewaltigen, großartigen thailändischen Wasserspielen ausweichen, die die vorbeirasenden Fahrzeuge auslösen, und die Überquerung verschieben, auch wenn der Zeitpunkt verkehrstechnisch gerade sehr günstig scheint. Ich melde mich natürlich als mutiger, erster freiwilliger Kandidat dieses Himmelfahrtskommandos, und suche meine Lücke.
Und als ich lebend, einigermaßen trocken und somit zumindest äußerlich unbeschadet auf der anderen Seite ankomme, und glücklich winke, macht es meine Familie mir mutig nach.
Ich weiß nicht, ob es gerade die Rush-Hour oder die Normalität ist, einfach ist es jedenfalls nicht. Aber wir haben unser erstes Abenteuer bestanden, und der Strand ist schon zu sehen. Gleich wird das Urlaubsfeeling aber schlagartig und mit voller Wucht einsetzen, da sind wir uns jetzt ganz sicher. Und so streben wir in großer, freudiger Erwartung dem weißen, leuchtenden Sand entgegen. Die Hitze dieses Morgens ist schon beachtlich.
Nun gut, es müssen nur noch ein paar wenige Hindernisse umgangen werden, wie ein Haufen alter Bretter – „Achte auf die Nägel, Max!“ – und zwei oder drei Schrottmopeds, die hier, sicherlich unabsichtlicherweise, vergessen worden sind, aber dann sind wir auch schon da. Schuhe aus und den Sand fühlen.
Max und ich sind ja sowieso schon barfuß, was bei der Straßenüberquerung nicht unbedingt von Vorteil war, man ist so einfach nicht schnell genug, und Steffi wollte schon wieder umkehren, um aus unserem Superior Hillside Bungalow erst mal die geeignete Expeditionsausrüstung zu beschaffen. Aber mit „Ach was, jetzt lass uns erst mal gucken gehen. Sind ja nur ’n paar Meter“ kann ich die knurrende Steffi dann doch noch überreden, was sie allerdings hinterher als einen großen Fehler bezeichnen wird.
Strand. Ja, das ist es doch.
Ach, ist das herrlich. Natur, Palmen, Kokosnüsse, Bacardi, alles eben. Es sind halt nur viele, viele Menschen hier, die man auf den Bacardi-Filmen nie sieht, weil sie wahrscheinlich alle hinter die Kamera gejagt wurden, aber das ist ja hier auch das richtige Leben. Das ist eben Urlaub.
Tja, was fehlt jetzt noch zum absoluten Glücklichsein? Eine Liege. Na klar. Sonst geht’s ja nicht. Aber die Liegen, die wir sehen, sind leider alle belegt. Und wenn sie nicht mit echten Menschen tatsächlich und im richtigen Sinne des Wortes be-legt sind, dann sind sie stellvertretend für die wahrscheinlich erst später eintreffenden dazugehörigen Menschen durch die braunen Frottee-Handtücher unseres Hotels be-legt. „Paradise Rock Resort“ ist kunstvoll und in edel geschwungenen Lettern auf die Handtücher gestickt, die uns sagen: „Ätsch, zu spät. Das wäre Ihre Liege gewesen!“
Ach, brauchen wir eine blöde Liege? Soll unser Urlaubsvergnügen von zwei Metern parallel vernagelten Holzlatten auf vier wackeligen Beinen abhängen? Nein, wir brauchen keine Liege. Lächerlich. Wir doch nicht.
Neidisch schielt Steffi zu all den bereits gebräunten und relaxten, geschmeidigen Körpern hinüber, die mit Buch, gar nichts oder Kaltgetränk wie selbstverständlich mit ihrer Liege verschmelzen und schadenfroh zu uns Neuen herübersehen. Dass das Ehepaar Leichenhalle auch schon bräsig in der Sonne brät, brauche ich nicht zu erwähnen. Naja, also eigentlich brät nur sie in der Sonne. Der Gatte Schorsch wird noch ein wenig herumgeschickt, um dies und das herbeizuschaffen
„Egal“, sage ich, „legen wir uns in den Sand. Was brauchen wir eine verdammte Liege? Hatten Adam und Eva eine Liege, oder Robin Kruse?“
Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich so auf den Naturtrip komme – Rüdiger Nehberg –, aber ich sehe keinen anderen Ausweg, als ganz weit runter bis in die Anfänge der Menschheit zu gehen, um mir dieses bis jetzt so erbärmliche Urlaubsdasein irgendwie schönzureden.
„Liegen sind doch was für Weicheier“, sage ich, etwas zu laut vielleicht, weil es mir einige böse, unverständige Blicke einbringt, werfe mich einfach der Länge nach in den Sand und wälze mich auch noch eifrig darin herum, als würde es mir Spaß machen.
„Eine blöde Erfindung der durch Jahrtausende hindurch verweichlichten Menschen. SCHEISS LIEGE BRAUCHT KEIN MENSCH!“, brülle ich jetzt über den ganzen Strand mit seinen schockierten Bewohnern.
Max und Steffi sehen mich fassungslos an und können es nicht glauben, dass ich mich da wie ein BSE-kranker Bulle im Sand suhle, wenden sich angewidert ab und trotten zielsicher und findig der kleinen Holzbude entgegen, die den Namen unseres paradiesischen Resorts trägt. Dort gibt es diverse Getränke, Sportgeräte, Plastik-Kajaks zum Selberpaddeln – und braune Handtücher. An den Ecken schon etwas ausgefranst.
Als meine Familie sich dann auf ihren braunen Paradies-Lappen in angemessener Entfernung von mir niederlässt – nicht ohne vorher wenigstens einige der angeschwemmten Plastikrohre und Autoreifen außer Sichtweite zu tragen –, stehe ich beleidigt wieder auf und fühle mich wie ein paniertes Schnitzel kurz vor der Pfanne. Feinster Sand in allen Poren.
Vielleicht ist das einfache Strandleben doch nichts für mich. Vielleicht brauche ich doch etwas zwischen mir und dem fremden, menschenfeindlichen Element Sand. Ich schlurfe also möglichst lässig hinüber zu der Bude, die ich immer interessanter finde und begutachte erst mal ganz unverbindlich das Angebot der Außenbarfiliale unseres tollen Hotels.
„Wott ju want, Sir?“
„Mmmmmmmh.“
Ich entscheide mich nach langer, reiflicher Überlegung, gründlichem Abwägen verschiedener Faktoren und einem kurzen, verstohlenen Blick auf meine Familie und meine Armbanduhr für ein einfaches Bier. Der Blick auf die Uhr, nur so, um zu sehen, ob es für ein wenig Alkohol schon spät genug ist. Ist es natürlich nicht.
Ja. Ein Bier soll es sein. Ein einfaches Bier. Keine aufwendigen, schnöseligen Drinks mit albernen Fruchtverzierungen und lächerlich gebogenen, bunten Trinkhalmen mit Papierrosetten und Zitronenscheibchen mit Nationalflagge, oder so was. Nein, nein, nur ein Bier. „Singha“ heißt das hier, wird einfach direkt in der braunen Flasche serviert und auch direkt daraus getrunken, und es schmeckt herrlich.
Dafür ist es erstaunlich preiswert. Es kostet nur ganze sechzig Baht. Das ist hier die offizielle Währung, und es wächst so ein dumpfes Gefühl in mir, gestern doch etwas Entscheidendes falsch gemacht zu haben, als es um die Verteilung der Trinkgelder ging.
Ein Baht, das ist ja nur … nein, das ist zu wenig, das kann man gar nicht ausrechnen, aber hundert Baht, das sind in etwa – irgendwo in meiner Tausend-Taschen-Hose habe ich doch diesen Zettel versenkt, auf dem ich alles schon mal ausgerechnet habe – ach, da ist er ja schon. Also, hundert Baht, das sind so in etwa zwei Euro fünfzig, also sechzig Baht dann etwa ein Euro fünfzig. Dann ist das Bier zwar doch nicht ganz so preiswert, wie ich erst dachte, aber es geht ja noch.
Aber tausend Baht, und das sind ja diese schwach grünlichen Scheine, die ich gestern dem Toyota-Fontänen-Fahrer und auch dem hoteleigenen Kofferträger im Halbschlaf lässig überreicht habe, das sind ja dann ungefähr fünfundzwanzig Euro! Das ist selbst für einen mitteleuropäischen Kofferträger ein mehr als angemessenes Salär und wahrscheinlich mehr als ein Wochengehalt für einen hier arbeitenden Einheimischen in derselben Berufssparte.
Naja, gut, ich will das mal schnell wieder vergessen und meiner Familie auch erst mal nichts über meine eben erst entdeckte Freigiebigkeit sagen, aber ich sollte in Zukunft vielleicht etwas besser aufpassen!
Ach ja, das ist schön. Ich konzentriere mich jetzt wieder ganz auf mein kühles Bier. Damit sind vom ersten Schluck an die Gesetze der Zivilisation ganz einfach außer Kraft gesetzt.
Es ist Viertel nach elf vormittags, es ist heiß, ich sitze im Schatten neben einer schiefen Palme irgendwo ganz weit weg und trinke Bier, ohne mich seltsam dabei zu fühlen oder gar Schuldgefühle zu haben. Alle trinken Bier. Alle Männer jedenfalls.
Wurde ich soeben noch von allen als „der bekloppte Neue“ beargwöhnt und eher ungern geduldet als zum Beispiel freundlich begrüßt, so ändert sich das, was die Urlaubs-Männer angeht, schlagartig mit dem ersten Singha. Man prostet mir fröhlich zu und nimmt mich mit offenen Armen in die Gemeinschaft der anonymen Urlaubs-Alkoholiker auf. Auch der tätowierte Herr in Sichtweite mit dem wunderschönen Wildrosengesteck auf der breiten Brust und der gefährlich zischenden Schlange auf dem muskulösen Oberarm, die aus offensichtlich einer anderen Schaffensperiode des Tätowierkünstlers zu stammen scheint, prostet mir aufmunternd zu.
„Well done!“, sagt er und bestärkt mich damit in meiner Entscheidung für ausgerechnet dieses offensichtlich hier sehr beliebte Kaltgetränk. Ich fühle mich gut, eigentlich sogar schon großartig, sehe mich interessiert um und beobachte das bunte Treiben auf und neben den Liegen.
Da stakst der lange Lotze-oder-so heran.
„Darwich Ihnen Chesällschaft laist’n?“, fragt er höflich, und als ich etwas unentschieden, aber dennoch freundlich nicke, setzt er sich neben mich und bestellt sich mit einem Wink zur Hotelbarholzbarackenbude ebenfalls ein Bier.
„Au’ kaine Liege, wonnich?“, fragt er mich bedauernd.
Ich zucke mit den Schultern und sage: „Was soll’s? Ich brauch keine.“
„Ich aunich, un maine Frau is in unsere Bretterbude verschwund’n. Is dat hia nich ’n fuachbares Barack’nlager, hönn’ Se ma? Ham’ Se au’ vierzehn Tage ohne Bewährung? Ha, ha, ha!“
„Jou, zwei Wochen!“, proste ich ihm zu, und wir lachen beide herzlich. Ist doch ’n ganz sympathischer Kerl, dieser Lotze-oder-so. Wo der wohl genau herkommt?
„Prost, ich bin der Pädder aus A''endorn!“, sagt er. A''endorn ohne „t“. „Nachnamen sin ja egal.“
Und ich weiß ja schon, dass er Lotze heißt.
Aus Attendorn, also. Wusste ich’s doch. Sauerland. Ich antworte wahrheitsgemäß mit „Alex“ – Nachnamen sin ja egal – „aus Leckede-Hintersten“.
„Wat? Dat gibbs donnich!“, brüllt er da und dann lassen wir es gluckern.
Zwei Sauerländer im Paradies! Das gibt’s ja nun wirklich nicht.
Tja, Leckede-Hintersten. Wie bin ich da bloß hingekommen? Vorher Köln. Die schöne Stadt am Rhein ist zwar auch nicht gerade die Mega-City, aber es ist schon deutlich mehr Bewegung dort.
In den acht Kölner Jahren war ich Redakteur beim Kölschen Rundblick. Und beim intensiven Rundblicken habe ich neben ’ner ganzen Menge berichtenswerter Dinge auch meine Steffi entdeckt. Meine liebe, tolle, schöne Frau Steffi. Die hat beim Kölschen Rundblick versucht, in der Buchhaltung alles richtig zu machen und ich musste plötzlich oft bei ihr vorbei. Sehr oft. Übertrieben viele Spesenbelege, unzählige Benzinquittungen und bunte Taxirechnungen habe ich ihr dargebracht, wie manche Vogelmänner ihren angebeteten Vogelweibchen farbige, schillernde geklaute Dinge anschleppen, um sie zu beeindrucken. Steffi war beeindruckt und dann haben wir endlich geheiratet, Vogelhochzeit, und ich musste los und voller Vorfreude Wolle für unser Nest suchen.
Naja, als dann unser Küken Max seine Eierschale durchbrach, hat sich das fröhliche Leben der beiden lustigen Vögel Alex und Steffi Knippschild radikal geändert.
Für so einen kleinen Kerl muss man kräftig ranschleppen, leiden und auch Zeit haben, wenn er nun schon mal da ist. Und Max war da. Und wie! Nächte ohne Schlaf, Tage ohne Saft und Kraft. Oft haben wir ihn schreiend aus dem Bettchen genommen – also, geschrien hat er –, schön warm eingepackt und behutsam ins Auto getragen, um dann mit ihm Richtung Holland zu fahren. Holland musste nicht unbedingt sein. Holland interessierte unseren Max eigentlich überhaupt noch nicht. Aber das Motorengeräusch war ein ganz großer Zauber. Max ist immer sofort eingeschlafen, sobald der erste Zündfunke die Kolben in Bewegung setzte. Der Verbrennungsmotor ist eine wunderbare Erfindung.
So eine Tour Richtung Holland dauerte dann schon mal eine oder auch eineinhalb bis zwei Stunden und fand eben mitten in der Nacht statt, wenn die ganze Welt schläft und für die Wachen-den alle Probleme groß und deutlich werden. Und unser Problem war der flotte Dreier, zu dem unsere kleine Schicksalsgemeinschaft ja nun herangewachsen war. Wir waren noch nicht so richtig glücklich. Und das wollten wir unbedingt sein, wir lustigen Knippschildvögel.
Steffi hatte ihren Buchhaltungsjob in der Welt der Neuigkeiten inzwischen aufgegeben, weil sie sich ja um unsere ganz persönliche Neuigkeit, den Knirps, kümmern musste. Und ich steckte immer noch voll drin. Voll.
Bin aber auch selber schuld! Ich knie mich eben immer bis zum Hals rein. Egal in was. Ich kann nicht anders. Aber wenn wir irgendwann nach unserem Beziehungsstatus gefragt worden wären, dann hätten wir eigentlich ein Kreuzchen bei „getrennt lebend“ machen müssen. Das konnte nicht lange gut gehen.
Wenn ich schwer genervt und schwer spät aus der noch brodelnden Redaktion kam wie das Ding aus einer anderen Welt mit aufregenden Berichten aus dem Leben da draußen, dann bekam ich im Austausch die neuesten Windelberichte zu hören. Doch ich wollte beim Thema „wunde Popos“ nicht so recht anbeißen und Muttervogel Steffi interessierte sich nicht für meine korrupten Kommunalpolitiker, die schamlos abkassierten, wenn ihr Jungvogel Dünnschiss hatte und keine Würmer mehr fraß.
Und so beschlossen wir auf einer dieser längeren Holland-Nachtfahrten, etwas zu ändern. Möglichst schnell. Jedenfalls, bevor Max in die Schule kommen sollte.
Und so gingen wir schon bald ins Sauerland.
Da komme ich auch eigentlich her. Ich bin da geboren. Und eines Tages erzählte mir ein alter, zurückgebliebener Freund von dem freien Posten als Redaktionsleiter, also quasi CHEF, dieses kleinen Käseblattes, das ich noch aus meiner Kindheit kannte und auch da schon heftig verachtet hatte. Als ich dann Steffi davon berichtete, waren wir beide nach einer Weile ganz sicher, dass das der schönste Job der Welt sei. Käseblatt hin oder her.
Und ich hab den Job bekommen.
Der Verdienst sollte nicht gerade üppig sein, doch dafür schien es das zu geben, was wir dringend brauchten: Zeit. Jede Menge Zeit für uns, für unsere kleine, junge Vogelfamilie. Und ich könnte außerdem wieder weiter an meinem Buch schreiben, dass schon seit Jahren sehnsüchtig auf neue Kapitel wartet.
Und dann das Sauerland selbst. Ein schönes Fleckchen Erde, wenn man an den Misthaufen vorbeiguckt. Ich kenne es ja gut. Tausend Berge, tausend Täler, jede Menge Natur, weit weg von der bösen Stadt … ja, ja, das wollten wir machen. Und so kauften wir ein altes Fachwerkgehöft in Leckede-Hintersten.
Ja, ja, is nich Köln.
„Ooch, ist das schön!“, hauchte Steffi mit fiebrigen Wangen, als wir es zum ersten Mal im Immoscout entdeckten. Bilderbuch. Einfach toll. Als der erregte Makler es uns dann schweißgebadet präsentierte, erklärte sich auch schnell der relativ günstige Preis durch feuchte Wände und morsche Balken … naja, man kann nicht alles haben. Aber darum kümmerte sich händereibend das ortsansässige Bauunternehmen Biggemann und nach ein paar langen Wochen und einem gewaltigen Stapel Rechnungen konnten wir dann tatsächlich unsere paar Möbel zwischen das alte Ständerwerk stellen – und anfangen zu leben.
Natürlich habe ich auch die Arbeit beim anfänglich verachteten Sauerlandbeobachter richtig ernstgenommen. Das kann man wohl auch erwarten.
Der Pädder aus Attendorn holt eine Zigarre aus einem schön ziselierten silbernen Etui und entzündet sie ritualisch. Und dann unterhalten wir uns prima über dies und das – aber nicht über unsere Jobs. Auf keinen Fall. Nein, das gehört hier nicht hin. Ich will auch nicht wissen, was der Pädder so macht und der Pädder wohl auch nicht, was ich mache.
„Ich hol nomma Bier, woll“, sagt Pädder dann und strebt auf die Strandbude zu. Ich halte zwischendurch ein paarmal nach meiner Familie Ausschau.
Verdammt, ich habe ja immer noch nicht angerufen! Meine Güte, was macht dieser Urlaub bloß aus mir? Hastig ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Es hat noch drei Balken.
Ich wähle die Nummer von Ulli, es klingelt ein paarmal … ich warte … aber da fällt mir ein, dass ja heute Weihnachten ist. Naja, da kann ich ja eigentlich nicht stören. Außerdem ist die Redaktion ja auch gar nicht besetzt. Und außerdem (!) ist es jetzt im Sauerland erst Viertel nach fünf morgens. Ach, du lieber Himmel. Schnell drücke ich die rote Taste und lege das Handy kopfschüttelnd weg. Immer noch drei Balken.
Am Strand kann ich Steffi entdecken. Sie ist offensichtlich auf ihrem braunen Paradies-Frottee eingeschlafen, und Max sitzt mit dem Game Boy im dunklen Schatten einer hohen Mauer, die den Bereich des Paradise-Hotelstrandes gegen das unsichere Gelände abgrenzt, auf dem einige echte Eingeborenenhütten mit echten Eingeborenen stehen, die man vom Hotelstrand lieber nicht sehen soll. Alles hat seine Ordnung und Pädder ist mit dem neuem Bier zurück.
Ich trinke eigentlich nie Bier und schon gar nicht um Viertel vor zwölf vormittags, sondern meistens roten Wein, aber den auch erst, wenn es draußen schon dunkel ist. Aber heute trinke ich halt im Hellen mal Bier für sechzig Baht. Es ist ja schließlich ein besonderer Tag. Der erste richtige Urlaubstag, und da ist alles möglich.
Pädder, also Peter heißt er ja sicher, erzählt mir, dass seine Frau diese „schäbbige Baracke hia“ gebucht hätte. Und er sich „eing’klich auch wat Bässeres laist’n“ könnte: „Abba man muss de Kohle ja nich zum Fenster rausschmeißen. Immer schön au’m Teppich bleiben, woll!“
Aber jetzt wäre er nun mal hier und es würde ihm sogar irgendwie gefallen. Hauptsache mal Urlaub. Er wäre ganz zufrieden. Außerdem wäre er hier, um sich mit dem ganzen „Wällness-Quatsch ma so richtich zu befass’n, woll“. Und da hätten die in Thailand ja richtig Ahnung von.
Wellness. Och nä.
Pädder und ich beobachten interessiert und angewidert zugleich einen dicklichen, älteren Herrn, der sich gerade von einer, vielleicht seiner, jungen Thai-Frau von oben bis unten mit Sonnenöl einreiben lässt und es offensichtlich sehr genießt. Sonnenöl, hahaha, das haben wir ganz vergessen, mit an den Strand zu nehmen. Wie lustig. Wir haben ja alles vergessen oder gar nicht erst mitgenommen, weil wir ja nur mal eben so gucken wollten, wie’s am Strand so ist.
Und so ist es: Pädder und ich trinken gemütlich unsere Biere, und die schwarze Wolke, die vor einer Stunde noch weit hinten und ganz ungefährlich über einer anderen kleinen Nebeninsel schwebte, nähert sich mit jetzt schon messbarer Geschwindigkeit. Die Sonne verschwindet beleidigt und die ersten Ausläufer der Wolke sondern schon mal drohend einige noch vorsichtige Tropfen ab, was aber die meisten der anderen gerade noch lässig faulenzenden Strandbewohner veranlasst, augenblicklich aufzuspringen, ihre Habseligkeiten in panischer Eile zusammenzuraffen und den Strand ohne ein Wort des Grußes fluchtartig zu verlassen.
„Waichaier“, sagt Pädder und wir nehmen beide noch einen ordentlichen Schluck Singha.
Habe ich schon fünf Bier getrunken?
Plötzlich steht Steffi vor uns, hat noch ganz verschlafene Augen und irgendwas an ihr erinnert mich an eine fast verglühte Raumkapsel beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Es dampft regelrecht, wenn die dicken Regentropfen auf ihre Lobster-like-gerötete Haut platschen, und ich meine auch, es zischen zu hören. Pädder sieht sie mit offenem Mund an.
„Tach zusammen!“, sagt Steffi und: „Is was?“
„Das ist Pädder“, sage ich, ohne die Augen von ihr zu nehmen, mit einem Wink auf meinen neuen, Zigarren rauchenden Freund, aber der interessiert Steffi nicht sonderlich. „Pädder kommt aus Att’ndorn. Kannssu das glaub’n?“
„Wo ist Max?“, fragt sie stattdessen besorgt, ich deute nur stumm, kraft- und fassungslos in Richtung Mauer, und er kommt auch just in diesem Moment angerannt und flucht.
„Scheiß Regen, schon wieder!“, sagt er, als er uns erreicht, sich zu uns unter das kleine Holzdach gesellt und sich wieder in seinen Game Boy vertieft. Er nimmt um sich herum wenig bis nichts wahr.
„Ihr trinkt Bier?“, fragt Steffi, als hätte sie kein, oder zumindest nicht genügend Verständnis für unsere kleine private Feier aus Anlass des ersten Urlaubstages hier vor der Holzhütte der Paradies-Filiale. Wir sehen uns unsicher und schuldbewusst an und Pädder sagt: „Singha! Chanz lecker. Wolln se au ains?“ Dann steht er auf und verbeugt sich leicht und ziemlich altmodisch zu Steffi hin.
„Pädder.“
Auf den fragenden Blick von Steffi hin verbessert er seine nachlässige Aussprache: „Peetäär.“
„Aha“, meint Steffi nur, verrät aber ihren eigenen Namen noch nicht.
Da zuckt ein Blitz in Weltuntergangsgröße über den bereits verdunkelten Strand, und es donnert, dass uns all unsere Sünden einfallen. Ich nehme schnell noch einen letzten Schluck Singha, verabschiede mich von Pädder, der jetzt auch seine Baracke aufsuchen will, und dann rennen wir durch das Unwetter zurück zur Straße, die man gar nicht mehr findet, weil sie sich inzwischen in einen riesigen See verwandelt hat, dessen brodelndes, braunes Wasser uns fast bis zur Hüfte geht. Wir durchschwimmen ihn todesmutig und flüchten völlig durchnässt und erschöpft in die Sicherheit unserer Superior-Hillside-Urlaubsbude.
Erst da wird die ganze Katastrophe des spontanen, auf mein Drängen so ganz ohne Planung und Vorbereitung begonnenen Urlaubsvormittages sichtbar. Max zittert am ganzen Körper, er friert und ihm ist schlecht, außerdem bellt er noch immer wie ein Seehund und hat Temperatur. Steffi schickt ihn sofort ins Bett, wühlt jetzt schon wieder wütend in ihrer Apothekentasche und scheint auch irgend was Fieses gefunden zu haben, das sie ihm unter heftiger Gegenwehr eintrichtert, während sie mir giftige Blicke und ganz üble Schwingungen sendet.
Sie selbst bekommt ihren schweren Schock erst etwas später, als sie sich im halbblinden Spiegel unserer Hütte selbst kaum wiedererkennt. Ich kann meine vorsorgliche Blockade der Toilette leider nicht mehr aufrechterhalten und es so leider auch nicht mehr verhindern, dass sie ins Bad kommt und sich spiegeln will.
„HA!“ Ihr Schrei übertönt sogar das erbarmungslose Prasseln des Dschungelregens.
„WIE SEHE ICH DENN AUS?“, brüllt sie, und Max wird wieder wach und bellt.
Ich wusste ja schon, wie sie aussieht. Ihr Gesicht ist schon leicht geschwollen und so shrimpsrot und heiß, dass es praktisch kocht. Es haben sich zwar noch keine Brandblasen gebildet, aber in der nächsten Viertelstunde in der erbarmungslosen Hitze des traumhaften Chaweng Beach wären sie sicherlich erschienen. Ich bin schuld.
Ich wäre verantwortlich gewesen für die leibliche Unversehrtheit meiner Familie. Ich hätte Steffi in den Schatten zerren oder einem der Liegeninhaber den Sonnenschirm entreißen müssen, um ihn über meiner armen Frau aufzustellen, oder ich hätte sie wenigstens aufwecken müssen. Unseren armen Sohn hätte ich schon heute Morgen in ein Hospital bringen müssen, auch ohne Frühstück, die besten Ärzte der Insel zu einer Begutachtung seines Zustandes und einer Besprechung über die wirksamste Heilmethode der Seehundkrankheit zusammenrufen müssen und ihn, mit den besten Medikamenten versorgt, in einer Privatklinik unterbringen oder ihn mit dem ADAC-Hubschrauber nach Deutschland ausfliegen lassen müssen.
Aber nein, ich trinke lieber Bier mit neuen Freunden und freue mich des Lebens. Ich gebe mich einer so trügerischen, flüchtigen Freude hin und setze damit unser aller Leben aufs Spiel. Max, erst elf Jahre mit bleibenden Lungenschäden, Steffi für immer entstellt.
Diesmal wühle ich selbst unaufgefordert in der Apothekentasche und finde nach einer Weile auch die Brandsalbe, die ich ihr schweigend und schwer bereuend hinhalte.
Sie würde nie wieder einen Schritt vor die Tür setzen, sagt sie und legt sich ebenfalls vorsichtig, um die verbrannte Haut nicht zu reizen, ins Bett. Sie sagt kein Wort mehr, dreht sich zur Wand und stöhnt. Max schläft wieder ein und Steffi etwa eine halbe Stunde später. Meine Familie ist vernichtet. Es riecht nach verbranntem Fleisch und mir ist schlecht. Der Rest des Tages fällt einfach aus.
Bis jetzt ist der Urlaub voll daneben.
Von der Nachbarterrasse höre ich Pädder Lotze mit seinem Handy schimpfen. Ich bekomme nur Wortfetzen wie „Tuppes“, „Döskopp“ und sogar „Heiopeis“ mit. Scheint sich wohl um was Ernstes zu handeln.
Irgendwann überfällt auch mich eine bleierne Müdigkeit. Ich falle in einen unruhigen Schlaf und träume von einer gewaltigen Minibar voller Singha-Bier, zu der ich aber den Schlüssel verloren habe, weil alle Taschen meiner Tausend-Taschen-Hose riesige Löcher haben, durch die ich in einen dunklen, schwarzen Abgrund sehen kann, aus dem mich eine eklige Schlange anzischt und „Well done“ sagt. Und ich habe total vergessen, im Sauerland anzurufen.