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Das zweite Abenteuer Wie ‘ne Omma!

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„Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, sagt meine liebe Frau Steffi, sieht mich mit ihrem skeptischen Schiefblick an, dem eigentlich nichts durchgeht und der alles begreifen will. Ich ahne aber schon, dass sie eben doch sehr genau weiß, was sie ja angeblich nicht weiß.

Jetzt zuppelt sie an mir rum.

Steffi zuppelt öfter mal an mir rum. Meistens an meinen Sachen, weil irgendwas nicht so sitzt, wie es sitzen sollte, oder wie sie sich ein bestimmtes Kleidungsstück an mir vorgestellt hatte.

„Mmh“, sagt sie dann meistens und wirkt immer etwas unzufrieden, tritt einen Schritt zurück, um meine Wirkung so im Ganzen zu beurteilen und im schlimmsten Fall schüttelt sie den Kopf. Da sitzt mal der Hemdkragen schief, über meinem kleinen Bauch spannt es ein wenig und die „Mach-einen-Knopf-mehr-zu-Emp­fehlung“ kommt auch schon mal öfter. Nein, nein, nicht, dass Sie denken, ich hab das Hemd bis zum Bauchnabel offen und zwischen einer urwaldigen Brustbehaarung auch noch eine schwere Goldkette am Baumeln. Nein, nein. Ich hab’s nur gerne etwas freier um den Hals herum. Wenigstens zwei Knöppe auf.

Na, ist auch nicht so wichtig jetzt.

Denn heute zuppelt sie wieder mal an meinen Haaren herum. Das passiert so alle paar Wochen, oder auch wenn ich sie mal gewaschen habe. Das habe ich heute und dann weiß ich ja selbst, dass ich nicht mehr wie ein menschliches Wesen aussehe.

Dieses ganze Haarpracht-Volumen und die verdammte Fülle, so, wie es uns ja auf den Shampoo-Flaschen versprochen wird! Alles ist so schrecklich locker und aufgebauscht, kein Zusammenhalt mehr in dem ganzen Gewölle, mein Kopf ist auf einmal viel größer und runder … ach, es sieht einfach unmöglich aus. Da muss dann erst mal wieder Fett in die Haare, damit man da auch gestalterisch wirken kann. Nivea geht eigentlich ganz gut.

Ja, direkt nach einer Haarwäsche sehe ich aus wie ein Alpaka oder Richard Wagner, wie ein … ein aufgeplusterter prähistorischer Vogel oder wie …. wie …

„Wie ‘ne Omma! Du siehst aus wie ‘ne Omma!“, sagt Steffi. Ja, genau. Das meinte ich wohl.

Das sagt sie oft, wenn sie sich nicht mehr so ganz sicher zu sein scheint, ob ich auch noch immer der bin, der ich mal war, oder der ich gerne sein möchte. Omma aber auf keinen Fall.

Ja, ich hab die Haare gern etwas länger, auch wenn oben schon eher so das Dünne, sogar das beängstigend Dünne, vorherrscht. Aber „wie ‘ne Omma“, nä, das ist schon hart. Dann werde auch ich nachdenklich.

Wo ich doch bis gerade eben noch dachte, es sei trotz Haarwäsche eigentlich alles noch in bester Ordnung mit mir. Hab schließlich ordentlich nach­gefettet. Der Blick in den Spiegel gab mir auch recht. Dachte ich. Siehst doch noch ganz gut aus, alter Knacker. Für dein Alter gar nicht mal so übel obenrum.

Aber nein, … scheinbar eben nicht. Wie ‘ne Omma!

Man muss aber auch wissen, dass mir das Gezuppel und die skeptisch besorgten Blicke meiner Frau nun wirklich überhaupt nichts ausmachen. Also, nicht viel. Nein, nein, das darf sie schon. Ich bin ihr eigentlich sogar dankbar, dass sie quasi als letzte Qualitäts-Prüfung vor der offenen Haustür noch mal draufguckt, bevor sie mich dann seufzend auf die Straße entlässt.

Ja, alles kriegt man natürlich nicht hin bei mir, irgendwas ist ja immer. Aber wer weiß denn, was meine un-kontrol­lierte Erscheinung da draußen auslösen könnte.

„Du musst zum Frisör!“, sagt sie. Aha. Da haben wir’s also. „Hab dir schon ‘n Termin gemacht.“

So. Von wegen „ich weiß nicht, ich weiß nicht“. Sie wusste es schon die ganze Zeit - und ich ja eigentlich auch. Es ist also mal wieder soweit.

Obwohl das eigentlich gar nicht nötig ist. Ich kann mir meine Haare auch selber schneiden. Ich hab mir da inzwischen eine sehr ausgefeilte Technik antrainiert, so Rupfen und Schneiden gleich­zeitig und die Schere im Schnitt immer Richtung Haarwurzel bewegen … nein, das führt zu weit, das hier zu erläutern. Und bitte nicht selber ausprobieren. Do not try this at home! Aber es klappt … wenn man es kann. Ich finde, dass es hinterher immer sehr natürlich aussieht. Steffi findet das nicht. Sie meint, es sieht wie abgefressen aus, oder, als seien mir wieder eine Menge Haare ausgefallen. Naja.

Der Frisör also. Eigentlich würde ich lieber zur ‘ner Darmspiegelung gehen.

Aber gut, dann muss ich mich eben dem gelockten Meister und seinen brutalen Gespielinnen mal wieder stellen.

„Und ich hab auch gesagt, sie sollen dir ‘n paar Strähnchen machen.“

Na, das ist ja wohl … jetzt bestellt Steffi schon für mich die Behandlung.

„Du hast das direkt in Auftrag gegeben? Das gibt’s ja wohl nicht! Und ehrlich, Steffi … Strähnchen!“

„Ja, wird alles so grau bei dir.“

Ja, und? Ich bin sechsundvierzig.

„Und die Augenbrauen, lass dir auch die Augenbrauen machen, ja? Dunkler. Aber nicht zu viel, dass man‘s sieht, nur so ein bisschen, dass man nicht sieht, ….“

Jaja.

Vielleicht will sie auch gleich mitkommen, um die totale Runderneuerung persönlich zu überwachen.

„Ach, weißt du was, Alex, ich komm einfach mit und …“

„Nä!“, falle ich ihr direkt ins vorlaute Wort, bevor dieser schlimme Satz noch weitergehen kann, und so bestimmt, wie es überhaupt nur geht, sage ich: „Das fehlt ja noch. Auf KEINEN Fall!“

„Na gut, morgen um zehn“, sagt sie dann noch etwas sparsam. „Ich bin dann auch im Örtchen einkaufen und könnte dich hinterher abholen.“

Na gut, abholen geht. Aber sie scheint etwas enttäuscht, dass sie meine morgige Menschwerdung nicht live miterleben darf.

*

Pünktlich um zehn bin ich also in der Kampstraße in Leckede und betrete den Frisörladen von Herrn Kaiser, den er natürlich logischerweise Kaiserschnitt genannt hat. Ist ja klar. Hätt‘ ich auch gemacht.

„Ah, der Herr Knippschild, wie gehdet dir denn?“, fragt Meister Kaiser persönlich mit etwas öliger Stimme und in seiner ganz eige­nen Frisörsprache. „Sie“ und „Du“ gleichzeitig. Das können nur Frisöre oder Supermarktkassiererinnen.

Der Geruch in seinem Sa­lon könnte ein gutes Gemisch für Anästhesisten sein. Alle Wohlgerüche dieser Welt vereint in einer einzigen chemischen Keule.

Dann entreißt er mir meine Jacke, so, wie ein Zauberer das Tuch über dem Zylinder mit dem Kaninchen wegziehen würde, dass man gar nichts merkt und gießt sie in einer geschmeidigen Bewegung über einen verchromten Kleiderbügel. Toller Trick. Er wendet sich mir dann zunächst lächelnd zu, doch seine Miene verfinstert sich beim Anblick meines natürlichen Kopfschmucks schwer und sehr plötzlich. Natürlich hat er sofort gemerkt, dass ich mir die Matte gelegentlich selbst stutze, und das geht ja wohl gar nicht. Wie kann denn jemand seine berufliche Qualifizierung und seine fachliche Kompetenz einfach umgehen?

„Hou, da muss aber wieder mal wat gemacht werden, oh, oh, oh“, jammert er wie ein Klempner beim Anblick einer verrotteten Wasserleitungsmuffe, als er mir mit seinen meisterlichen Fingern ins künstlich nach­gefettete und etwas stockige Haar greift und prompt in einer kleinen Verknotung hängenbleibt.

„Oh, oh, oh!“

Ich erinnere mich an die Frage vom Anfang nach meinem Befinden und sage jetzt: „Mir geht’s gut, Herr Kaiser, und dir?“ Etwas trotzig und verschnupft vielleicht, denn ich bin das einfach nicht gewohnt, diese wahnsinnig tolle Atmosphäre beim Coiffeur meines Vertrauens.

Naja, und eigentlich vertraue ich ihm ja nicht. Keiner dieser Stimmungskanonen vertraue ich. Nein, nein, es herrscht eher tiefes Miss­trauen gegenüber Menschen, die mir in den Haaren herumgrabbeln und hinterhältig lächelnd mit einer Schere in der Hand herumklappern, auf eine günstige Gelegenheit warten und es dir dann sowieso so machen, wie sie es sich selber vorstellen. Sie wollen sich auf deinem Kopf selbst verwirklichen. Man muss da höllisch aufpassen.

Ja, dieses Misstrauen rührt noch aus meiner Kindheit her, als mein Papa mich mit zu Frisör Rapp genommen, gezwungen, geschleppt, gezerrt hat. Papa saß dann immer in dem linken Frisuren-Gebär­stuhl und ich rechts daneben.

„Wat kricht der Junge?“, fragte Eugen Rapp dann meinen Papa, nicht etwa mich – ich war einfach noch nicht alt genug, zu entscheiden, was frisurentechnisch gut für mich war – und mein Papa antwortete dann mit einem kurzen Seitenblick auf mich mit „Kurzer Fassong, wie immer, Eugen!“

Ach, du Lieber. Kurzer Fassong hieß alles, was hinterher wie Recht und Ordnung aussah, und es gab wohl keine genaueren Anga­ben für die Ausführung eines solchen Schnittbefehls. Die Interpretationsbreite war groß und Eugen Rapp hatte praktisch freie Hand. Die er auch nutzte.

Er scherte also erst mal von unten nach oben mit ständig wachsender Begeisterung mit seinem Elektromäher den Nacken kahl und dann die Seiten.

Nein, nicht noch höher! Bitte nicht!

Aus, vorbei, zu spät, das Ohr war schon frei. Völlig frei, da waren keine schützenden Haare mehr in der unmittelbaren Nähe. Es lag da ungeschützt und viel größer als vorher an den kalkweißen, jetzt oberhalb ganz stoppeligen Breitseiten meines Kopfes.

Dem spärlichen Rest obendrauf besorgte es Eugen Rapp dann mit der flinken Schere, die er wie ein wahrlicher Meister klappern lassen konnte, dass einem angst und bange wurde. Zack, zack, zappzerapp. Rapp. Daher wahrscheinlich auch der kurz und bündige Name. Oder umgekehrt. Mit diesem Namen wird man Frisör.

Er ließ also oben freundlicherweise immer etwas Haar übrig, das er dann mit einem scharfen Seitenscheitel veredelte. Furchtbar. Ich könnte damit in jedem Nazifilm mitspielen.

Heute ist diese unsägliche Frisur doch tatsächlich wieder in. Kurzer Fasson. Heißt auch noch immer so. Sehen Sie sich die jungen Männer von heute an! Das ist Eugen Rapps Vermächtnis. Es ist mir unbegreiflich, wie man freiwillig mit solchen Frisuren rumlaufen kann.

„Wen hattt‘n we denn heute für dich, Herr Knippschild?“, fragt Meister Kaiser jetzt und blättert in seinem Auftragsbuch.

„Aaach, de Kimbärli. Kimbärli, dä Härr Knippschild is da!“, nölt er dann nach hinten in den Laden und Kimbärli nähert sich etwas unsicher, leicht schlurfig, aber trotzdem so schnell, wie es geht und schief lächelnd, passend zu ihrer asymmetrischen Frisur. Sie weist mir den Weg zur Beschneidungsstelle und ich lasse mich mürrisch nickend nieder.

Die Reihe der Behandlungsstühle steht ziemlich nahe am gro­ßen Schaufenster zum Bürgersteig hin, was mich schon immer etwas nervös gemacht hat in Herrn Kaisers Laden.

Ich weiß ja so in etwa, was für eine schmachvolle, erniedrigende Verunstaltung mir bevorsteht, und da will man natürlich nicht von Fremden, oder sogar Nachbarn, Bekannten oder guten Freunden, die zufällig vorbeikommen, entdeckt werden. Vielleicht hat sich der Termin meiner heutigen Beschneidung ja auch herumgesprochen und man hat sich zu größeren Gruppen vor dem Riesenfenster vom „Kaiserschnitt“ verabredet.

„Morgen um zehn kricht der Knippschild de Fransen ab. Bisse dabei?“

Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Die anderen Kunden, alles Frauen, scheint diese Öffentlichkeit aber nicht zu stören.

Links von mir ist eine ältere Dame in Behandlung, die wohl gerade gemeinsam mit ihrer persönlichen Stylingberaterin beschlossen hat, wieder ganz jung zu werden. Sie ist in heftiger, aber begeisterter Diskussion mit einer von Meister Kaisers Schergen über ein gewagtes Feuerrot und abrasierte Seiten statt der ewigen blöden Dauerwelle.

„Mein‘ Se, dat wär wat für mich? Ich bin zweiensibbzich!“

„Aaach, da sinse donnich zu alt für, Frau Heisterkamp! Ihr Mann wird begeistert sein.“

Na, das glaube ich eher weniger, wenn ich mir die Frau so ansehe und mir mit einiger Phantasie ausmale, wie es hinterher aussehen könnte, aber ich denke auch, der alte Feuerdrache wird dann sicher noch mal richtig durchstarten. Zur Not dann eben auch ohne ihren Mann.

Den Platz rechts von mir bestuhlt eine Matrone, die fett und quaddelig auf das große Wunder wartet, das ihr von einer der anderen Meistergehilfinnen gerade versprochen wird. Sie ist, wenn man den Ausführungen der Frau Frisörin folgt, gewissermaßen kurz davor, ein neues Leben zu beginnen.

„Hier wat länger, da bisken wat kürzer, und dann dat Ganze mit so ’ne bläuliche Tönung. Wat meinse, wattat aaausmacht!“

Also, da würde ich jetzt mal gleich abwinken. Meiner Meinung nach würde es nicht viel ausmachen und jeder Handgriff wäre bei der da rausgeschmissenes Geld. Die Frisur ist das Letzte, was ich da ändern würde.

Naja, mich fragt ja keiner.

Tach, die Damen! Einmal rechts, einmal links genickt. Ich bin der Neue und ich bin bereit. Aber keiner nimmt Notiz von mir. Auch gut. Es kann also losgehen. Die Spiele sind eröffnet. Vor dem Schaufenster noch keine nennenswerte Menschenansammlung.

Das gnadenlose Neonlicht lässt mich in dem großen Spiegel schon jetzt wie eine lebende Leiche oder wie ein ganz kranker, armer Mann aussehen und ich will eigentlich gar nicht mehr hin­gucken. Ich muss aber, weil ich natürlich wachsam sein will. Ich darf nicht alles mir mir machen lassen.

„Wat machen we denn heute?“, fragt Kimbärli, als hätte sie Langeweile, und beugt sich wieder ganz schräg zu mir hin wie eine besorgte Pflegerin, die einem sterbenden Menschen das Ableben so bequem wie möglich machen will. Noch ein‘ letzt‘n Wunsch? Wollnse noch eine rauchen?

„Tjoo“, sage ich gedehnt, um ein wenig Zeit zu schinden. Jedes Wort ist jetzt wichtig, alles könnte falsch verstanden werden und hin­terher sieht man aus wie Hulle, zahlt ein Vermögen und muss trotzdem raus auf die Straße zu den schadenfrohen Gaffern, die einen dann wie eine rasierte Sau lachend und grölend durchs Dorf treiben.

„Bisschen kürzer … aber nur ‘n bisschen, ganz wenig, eigentlich gar nichts, ich find die Länge nämlich ganz gut … also …vielleicht nur hier …“

Dabei packe ich mir selbst reichlich unsicher und wenig hilfreich für Fachkraft Kimbärli in meinen Schopf. Immer etwas länger lassen. Ja, daran ist auch Eugen Rapp schuld.

„Kennen Sie Buffalo Bill?“, frage ich Kimbärli dann, weil uns das helfen könnte, aber sie scheint nicht zu verstehen.

„Wild Bill Hickock?“

Nein, auch nicht.

„Wäre auch etwas zu lang“, ergänze ich noch, um meine Vorstellungen zu präzisieren, aber die Herren scheinen ihr gar nicht bekannt zu sein.

„General Custer?“

Nein, kennt sie auch nicht, wie ich an ihrem leeren Gesicht ablesen kann.

„Naja, schade, wissen Sie, Kimberley, die hatten die Haare immer hinten etwas länger, wie ich das auch ganz gut finde. Nicht ganz so lang vielleicht, aber so in der Richtung, verstehen Sie?“

Nein, das versteht sie nicht. Sie greift stattdessen zu einer Zeitschrift, blättert nervös und hektisch darin herum und zeigt mir dann ganz stolz ein Bild von Johnny Depp als Jack Sparrow und jetzt sehe ich sie leicht verstört an.

„Dat könnte doch vielleicht bei Ihn‘n …“, meint sie, aber sie merkt schon, dass das nicht der Art von Veränderung entspricht, die ich und auch Steffi sich von diesem Tag versprochen haben.

„Nä?“

Dann zeigt mir noch ein Bild von Bruce Willis, auch schön, aber ohne verwertbare Reaktion meinerseits, und dann legt sie seufzend aber immer noch tapfer lächelnd die Illustrierte wieder weg.

„Winnetou“, sage ich noch schnell, aber diesen Witz will sie nicht verstehen.

Meine asymmetrische Kimbärli merkt schon, dass mit mir in Sachen Beratung nicht viel anzufangen ist und sagt dann ermutigend und mit einer Hand abwinkend: „Ach, dat krieng we schon, Herr Knippschild. Lassen se mich ma machen.“

Genau das will ich eigentlich vermeiden, dass sie da möglicherweise ihre eigenen Geschmacksvorstellungen und ihre Sicht der Dinge oder sogar ihre Weltanschauung in meiner Frisur umsetzt. Buffalo Bill und General Custer kennt sie gar nicht und der glatzköpfige Bruce Willis hat mich schon etwas nervös gemacht.

Wo soll das hinführen? Wo ist da die Schnittmenge?

Ich sehe mir auch noch mal etwas besorgt ihr eigenes schiefes Gebil­de von Frisur an, von der ein spitzer Zipfel immer wieder in ihrem Mundwinkel hängt. Ihr Nacken ist ganz kahlrasiert, die linke Seite auch und ich versuche mir gerade vorzustellen, dass auch ich derart verunstaltet diesen Ort verlassen könnte, wenn ich ihr freie Hand lasse. Auf keinen Fall.

Sie betätigt dann erst mal tief Luft holend, voller Energie und neugeschöpftem Lebensmut ein Fußpedal, um den Stuhl etwas tiefer zu legen und auch etwas nach hinten, damit ich ihr ganz nah und völlig ausgeliefert bin. Und dann schwenkt sie mit einer oft eingeübten, schwungvollen großen Bewegung dieses schwarze Graf Dracula-Cape über mich, dass es einen kurzen Moment dunkel wird und ich mich frage, ob ich nicht vielleicht im Schutze dieser Dunkelheit einfach abwarten kann, bis alles vorüber ist.

Doch schon hat die Welt mich wieder und ihr freundliches, einfaches, aber hoffnungsfrohes Gesicht erscheint direkt vor mir und sie zurrt das schwarze Gewand an meinem Hals fest zu, nach­dem sie noch etwas Krepppapier in den Kragen gestopft hat. Das weiße Krepp lappt vorne heraus und ich bin plötzlich auf meiner eigenen Beerdigung. Halleluja, ich bin der Pfarrer.

„Isset gut so?“, fragt sie dann und erwartet gar nicht, dass ich das Gegenteil behaupte.

Naja, gut ist was anderes. Aber ich widerspreche nicht, sondern murmele nur unverständlich herum und erwarte gespannt ihren nächsten Angriff.

Sie stellt sich dann hinter mich und es sieht so aus, als habe sie einen groben Plan. Ihr Kopf ist jetzt auf fast gleicher Höhe mit meinem hinter mir und es entsteht so ein paralleler Blick in den Neonlichtspiegel. Bereit für ein Pärchenfoto. Zwei verschworene Seelen, die etwas besonders Finsteres aushecken.

Dann zuppelt auch sie an meinen Haaren herum, zieht die Stirn kraus und hält den Kopf schief, um einen anderen Blickwinkel oder ein paar Ideen zu bekommen. Ziemlich lange. So, als wolle sie gleich kopfschüttelnd sagen Da kannze nix mehr machen. Tut mir leid, Herr Knippschild. Alles vermurkst.

‘Ja gut!‘, würde ich dann sagen, aufstehen, mich bedanken, schnell wieder gehen und den Rest meines Lebens genießen. Unheilbar entlassen. Aber sie zuppelt noch ein wenig weiter und sagt dann: „Okay, da machen wir hier ‘n bisken wat wech und dann könn‘ we da wat stufen und hier wat Struktur und da wat Volumen, hier könnt ich wat slicen … lassense mich ma machen.“

Also doch. Machen lassen.

Mir ist nicht ganz wohl. Eigentlich wollte ich ja während der gesamten Prozedur ganz entspannt mein Buch lesen, das ich mir mitgebracht habe, und dann nach ein, zwei spannenden Kapiteln aufblicken und mich positiv überraschen lassen. Aber daraus wird wohl nichts werden. Ich darf nicht unaufmerksam werden. Keine Sekunde.

„Ja, un Strähnchen, oder, Herr Knippschild?“

Steffis Macht reicht also tatsächlich bis in diesen Stuhl. Ich bin nur noch zu einem Stöhnen und einen fast nicht sichtbaren Kopfnicken fähig. Hilflos ausgeliefert und einer unsicheren Zukunft entgegen gehend. Sitzend.

Ja gut, Strähnchen. Von mir aus. Ist alles so grau! Los jetzt, Kimbärli, wir wollen es hinter uns bringen.

Doch damit ist ja noch nicht alles geklärt. Ich werde keine Sekunde geschont, denn da steht schon die nächste Entscheidung für mein späteres Leben an. Kimbärli hält mir jetzt eine Pappe mit unzähligen fröhlichen farbigen Löckchen vor die Nase.

Was soll das denn jetzt?

„Ich fänd dat ja schön für Sie“, sagt sie nur und dreht eine der Löckchen spielerisch um ihre lila genagelten Finger.

„Wie? Schön? Was meinen Sie denn?“

„Na, für de Strähnchen!“

„Das ist ja rot!“, entgegne ich entsetzt.

„Neeiiin, dat is‘ Dark Copper“, entrüstet sie sich.

Das ist rot. Nein.

„Un wie isset damit?“

Wieder spielt sie verführerisch mit einer der Löckchen. Diesmal schimmert das künstliche Haar geradezu bläulich. Wie bei ‘ner Omma! Ich sehe sie angewidert an und wir entscheiden uns dann nach einer ganzen Weile und etwas hartnäckiger Diskussion und einiger immer kraftloser werdender Beratungsversuche ihrerseits für ein Dark Brown, also fast schwarz. Auch wenn man es nicht glaubt, aber so waren meine Haare früher mal.

„Gut, dann nehm’ we ehm dat“, sagt meine arme Kimbärli fast schon enttäuscht und irgendwie beleidigt. Sie hätte sicher zu gerne mal was gewagt mit mir. Vielleicht erscheine ich ihr als der geeignete Proband für eine Feldstudie neuer Farbexperimente mit dem Haupthaar. Vielleicht hätte ich Teil einer psychologischen Studie werden können. Wie reagieren unvorbereitete, ganz nor­male Menschen, wenn ein Mann mit blauem längerem Haar in Leckede an der Wursttheke bei Edeka ein Viertel Fleischwurst kauft. Könnte interessant sein. Aber nein, nein, daraus wird nix, Kimbärli! Braun. Ich muss das Ruder in der Hand behalten.

„Milara-Joline, machse mir ma die Drei-Null klar?“, kräht sie dann nach weiter hinten in den Laden und ich hoffe, Milara-Jo­line hat ver­standen.

„Wollnse ‘n Kaffee, Herr Knippschild?“, fragt Kimbärli jetzt und beugt sich wieder so Pflegerinnen-like zu mir runter. Fast mitleidig.

„Och jo“, sage ich ganz dankbar für die kleine Gefechtspause, während die Drei-Null klargemacht wird.

„Latte, Cappu oder Exprässo?“

Exprässo!

„Einfach nur Kaffee, bitte!“

Sie nickt, schmeißt die exklusive Kapselmaschine an und fährt dann erst mal einen mächtigen schwarzen Werkstattwagen heran, der mit allerlei Haarwerkzeugen wie Kämmen, Bürsten, Pinseln, Scheren, Drehmomentschlüssel, Handschellen und Daumenschrauben vollgestopft ist und versperrt mir damit endgültig den Fluchtweg.

Dann kommen der Kaffee und die Drei-Null gleichzeitig. In beiden Tiegeln sehe ich zähe schwarze Pampe und mir wird etwas unwohl.

„Zucker?“ Ja unbedingt.

„Sooo, ärs ma bisken schneiden un dann machen we de Strähnchen, woll“, beschließt Kimbärli und dann kämmt sie mir erst mal eine richtige Frisur.

Sie zieht ihren Kamm von oben bis unten durch meine Haare, fummelt die paar Nester raus, die sich nach der Nachfettung gebildet haben und macht mir einen Seitenscheitel. Bäh. Ich hasse Scheitel. Plötzlich bin ich wieder der kleine verschüchterte Junge in Eugen Rapps Gewalt.

Die Haare hängen jetzt glatt und strähnig rechts und links an mei­nem Kopf herunter, dass ich aussehe wie ein geisteskranker Frauen­mörder, und das könnte ich ja vielleicht auch werden. Das Neonlicht macht den unheimlichen Rest. Ras­putin trifft es auch ganz gut, weil ich ja auch etwas Bart habe und den schwarzen Priestertalar trage.

Nicht eine Sekunde würde ich dieses Bild von mir freiwillig so stehen lassen. Aber hier ist ja nichts freiwillig. Ich bin machtlos. Ich will protestieren, doch ich weiß ja auch, dass das noch nicht Kimbärlis Idee für meine neue Superfrisur ist, sondern nur eine Zwischenstation zu meinem neuen Leben im hochaktuellen Look. Sie will ja jetzt schließlich erst mal schneiden und die Strähnchen machen, und dafür braucht sie glattes Haar. Verstehe.

Auf dem Bürgersteig immer noch kein Menschauflauf. Es interessiert sich anscheinend keiner für Rasputins Hinrichtung.

Aber wie das aussieht! Schlimm. Ich kann nicht mehr hinsehen und beschließe jetzt doch, mir lieber das Buch zu nehmen und mich darin zu vertiefen, so, als ob mir das alles ganz egal wäre und ja auch ganz normal, dass ich so entstellt erst mal die nächste Phase bis zur endgültigen Menschwerdung überstehen muss. „Sieht erst mal alles ganz scheiße aus, aber hinterher …“, hat auch Helmut, unser Klempner, gesagt, der letztens die Badewanne rausgestemmt hat, um die Lei­tungen zu erneuern und das Bad neu zu kacheln.

Die Frau im linken Nachbargestühl sieht mich jetzt mit offenem Mund an. Sie versucht noch nicht einmal, so zu tun, als wäre nichts. Sowas hat sie dann wohl auch noch nicht gesehen.

Ja, ich weiß, dass Rasputin eine enorme Wirkung auf Frauen hatte. Und das spüre ich jetzt auch. Doch sie hat Angst, ich sehe es. Sie will weg, und sie ist ja auch fast fertig. Doch im Moment ist sie immer noch gefangen unter einer mächtigen tief summenden Trockenhaube und kann also nicht flüchten. Auch nicht, als ich mich zu ihr hindrehe und kurz aber effektvoll die Zähne fletsche. Hab ich bei Hannibal Lector abgeguckt.

„Warnse schon in Urlaub?“, fragt Kimbärli jetzt und fängt an zu schnippeln.

Ach, du meine Güte, jetzt will sie auch noch Konversation machen. Dabei muss ich gerade jetzt höllisch aufpassen und mich konzentrieren. Es geht um jeden Millimeter. Ich meine, auf der einen Seite finde ich es natürlich nett, dass sie auch mit einem, der wie ich zurzeit am Rande der Menschlichkeit dahinvegetiert, reden will. Dass sie mich nicht ausgrenzt, wie ich es mit diesem Aussehen eigentlich verdient hätte. Obwohl sie selbst ja dafür verantwortlich ist. Aber ich will doch jetzt nicht … also sage ich „Nö“ und vertiefe mich dann störrisch in mein Buch.

„Bisken höher, den Kopp, bitte!“ Ja, ja.

Oder will sie mich nur ablenken, damit ich nicht merke, wie viel sie von meinem Gerne-etwas-länger-Haar ziemlich brutal und in Höchstgeschwindigkeit absemmelt? Zu meinen Füßen sehe ich schon so einige zentimeterlange angegraute Schnipsel liegen. Ich kann im Moment in dieser ungewissen Frisurenlage und in dieser Zwischenstation nicht beurteilen, ob es eventuell zu viel ist, und ich beschließe sicherheitshalber, kurz etwas zu sagen. Denn „ab ist ab“. Das weiß man ja.

„Hören Sie, Kimberley, das soll aber nicht zu kurz, nä, Sie haben mich doch verstanden, oder? Etwas länger, bitte, auch im Nacken auf keinen Fall so kurz … gerne etwas wellig und ruhig ein bisschen zuppelig … ich will nicht aussehen, wie ein Finanzbeamter oder mein Steuerberater.“

Damit müsste eigentlich alles klar sein und die Stoßrichtung der Frisurengebung eindeutig.

„Ja, ja“, sagt sie und säbelt eifrig weiter. Mein sorgenvolles Gesicht übergeht sie einfach. „Im Grunde will ich ja so aussehen, wie ich reingekommen bin, wissen Sie?“, lege ich also noch nach, um ganz sicher zu gehen, dass sie auch alles richtig macht.

Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen, denn sie lacht kurz und laut auf, legt dann erst mal die Schere weg und sagt: „Ja, dann hätt‘n Se ja gar nich’ reinkomm‘ brauch‘n. Hier geht ja keiner widder so raus, wie er gekomm‘ is, woll. Dat is ja der Sinn der Sache. Herr Knippschild. Frisör, Styling, versteh’nse. Hier machen we ‘n anderen Mensch aus Ihnen.“

Ja, ich weiß jetzt nicht, ob es sinnvoll ist, ihr klarzumachen, dass ich mich menschlich gar nicht unbedingt verändern will. Außerdem kennt sie mich ja gar nicht, so, wie ich jetzt bin. Vielleicht würde auch ihr das ja gefallen und genügen. Und in welche Richtung Mensch soll es denn wohl gehen? Das kann ja schnell auch danebengehen. Das muss sie doch mit mir besprechen.

Irgendwie scheint sie meine Existenzängste zu spüren, denn sie sagt jetzt schnell: „Keine Sorge, Herr Knippschild, ich mach dat schon. Sie werd‘n sich wundern.“

Das will ich aber nicht!

Ich will mich auf keinen Fall wundern. Ich will so bleiben, wie ich bin, fällt mir da der Spruch aus der Werbung ein und belasse es bei einer letzten ernsten Ermahnung, die vielleicht etwas zu prollig ausfällt: „Kimberley, machen Sie ja keinen Scheiß!“

„Na, hörnse ma, Herr Knippschild, ich weiß doch, wattich tu.“

Und ewig klappert die Schere.

Dann ist plötzlich Schluss mit dem Geklapper und Milara-Joline kommt missmutig und ziemlich perspektivlos mit einem Be­sen herangewatschelt und fegt einen riesigen Berg meiner schönen Haare auf dem Boden zusammen. Atemlos sehe ich in den Spiegel, kann aber wegen der völlig veränderten Frisurensituation nicht feststellen, ob da eventuell schon viel zu viel abgeschnippelt ist. Ab ist ab.

Doch mir bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Kimbärli hat jetzt eine Rolle Alufolie in der Hand, wie wir sie auch zuhause benutzen, um Lebensmittel noch ein wenig länger am Leben zu halten und dass der Salat nicht sofort zusammenfällt.

Dann zieht sie mir eine Strähne lang, dass es wehtut, hält die Alufolie darunter, pinselt ihre schwarze Pampe drauf und klebt alles auf der Alufolie fest. Dann wird die Folie eingeklappt und es geht an die nächste Strähne. Und die nächste und immer so weiter. In atemberaubender Geschwindigkeit. Faszinierend. Milara-Joline hält ergeben das Schälchen mit der Pampe und Kimbärli bedient sich daraus mit einer Art Kuchenpinsel. Alufolie? Kuchenpinsel? Kommt gleich auch noch der Bratenwender aus der eigenen Küche zum Einsatz?

Bei der schwarzen Pampe muss ich an Salvador Dali denken, dem man ja nachgesagt hat, dass er seinen eindrucksvollen Schnäuzer mit echter Pantherkacke gestylt haben soll. Mir wird schon wieder etwas komisch.

So komme ich auf jeden Fall nicht zum Lesen, ich muss jetzt schwer aufpassen. Aber Kimbärli redet nicht mehr mit mir. Das ist auch ganz gut so. Inzwischen ist sie schon auf der anderen Seite meines Kopfes angekommen und wenn ich mir all die silbernen Röllchen so ansehe, die mir jetzt am Kopf herumbammeln, dann fühle ich mich wie ein englischer Richter mit so einer langen lockigen, glänzenden, grauen Perücke. Ja, so sieht es aus, weil fast die ganze Alu-Küchen­rolle in kleine Kringel aufgeteilt ist und an mir dran hängt. Dazu die schwarze Robe. Ja, das passt.

Kimbärli, ich verurteile dich hiermit zum Tode durch die Brennschere!

„Na, läuft et bei dir, Herr Knippschild?“, fragt Meister Kaiser jetzt freundlicherweise im Vorbeigehen. Er hat mich tatsächlich wiedererkannt und wundert sich gar nicht über mein Aussehen. Er hat eben schon alles gesehen hier in einem Laden.

„Kimbärli, mach doch dem Herrn Knippschild hier … und da … weißte?.“

Kimbärli nickt und hat anscheinend verstanden. Ich aber nicht. Was haben sie jetzt schon wieder ausgeheckt? Wie können sie so einfach über meinen Kopf und mein Schicksal entscheiden, ohne mich zu fragen?

„Oder wie wäret denn mit Kurzem Fassong, Herr Knippschild. Wär dat nix für dich?“, fragt Kaiser dann und da reicht es mir aber.

„Buffalo Bill!“, befehle ich und der Meister hat zwar nichts verstanden, aber er zieht sich augenblicklich zurück. Oh, was für ein Sensibelchen der Herr Knippschild heute wieder is‘!

„Kimbärli, sie wissen doch …?“, frage ich etwas verunsichert meine Pflegerin.

„Is‘ ja nich zu kurz, is‘ alles gut. Ja, ja, der Meister hat immer so kreative Ideen, wissen Se. Dat machen we schon. Genau so, wie Se gesacht haben, woll. Nich so kurz, bisken wellig, zuppelig … Baffalo Dingsda … Winnetou, ich weiß Bescheid.“

Aus ihrem Munde hört sich das alles leider ganz anders an. Ich bin mir auch nicht mehr ganz sicher, was ich gesagt habe und ob sie mich überhaupt verstanden hat, aber ich kann ja jetzt nicht das ganze Thema noch mal neu aufrollen. Schließlich sind wir ja mittendrin und es ist ja sicher auch bald vorbei und ich darf wieder raus.

„Milara-Joline, mach mir noch wat Drei-Null für de Augenbrauen, ja!?“, ruft Kimbärli nach hinten und Milara-Joline macht noch mehr Drei Null.

Kimbärli schmiert mir dann dick und fett die neuerliche schwarze Pantherkacke jetzt auch auf die Augenbrauen, dass ich mich wirklich nicht mehr traue, in den Spiegel zu sehen. Nur ein ganz kurzer Blick vielleicht, aber der reicht. Räuber Hotzenplotz fällt mir da sofort ein oder auch Theo Weigel, der frühere Finanzminister.

Die Frau links neben mir ist fertig, fix und fertig, und darf schon mal zur Kasse flüchten. Im Abgang wirft sie mir noch ein entsetztes, kaum sichtbares Kopfschütteln zu. Dann ist sie raus und somit vor mir in Sicherheit. Die dicke Frau rechts von mir bekommt nichts von meiner totalen Umarbeitung mit. Sie hat genug mit sich selbst zu tun und will ja auch persönlich immer noch ein anderer Mensch werden, und bei der versteh ich’s auch.

„So“, sagt Kimbärli in recht beruhigendem Ton, wie zu einem Kind beim Zahnarzt, das es ja gleich überstanden hat. „Getz warten we ma so zwanzich Minuten und dann wasch‘n we alles raus, woll. Ich stell ma hier den Wecker, damit dat nich zu lange drauf bleibt, sonst kannze für de Farben nich mehr garantier‘n, woll.“

Sehr beruhigend. Sie lächelt, dreht dann an einer Art Eieruhr und lässt mich sitzen. Und ich widme mich endlich meinem Buch.

Bloß nicht in den Spiegel gucken. Ein kurzer Blick zum Schaufenster nur. Dort hat sich gerade ein langhaariger Straßenmusiker direkt vor dem Kaiserschnitt eingerichtet und plärrt ein selbstgemachtes lausiges Lied zu seiner verstimmten Gitarre. Meister Kaiser hält das wohl für keine gute Werbung für seinen Laden und jagt ihn weg.

Mein Buch! Ich beschließe, nicht mehr aufzublicken, bis Kimbärli mich von dieser unwürdigen Maske erlöst.

Inspektor Barbarotti hat es mal wieder nicht leicht, den Mörder zu finden. Er wühlt sich im westschwedischen Kymlinge durch Berge von Akten, stößt auf unheimliche Hintergründe und Verwicklungen … sehr spannend … noch ein Kapitel … er ist knapp vor der Auflösung des Falles und kurz bevor er den Mörder stellen kann …

… schaue ich auf die Eieruhr. Sie ist längst abgelaufen, aber es hat nicht geklingelt. Das Dings ist wohl kaputt. Wo ist denn Kimbärli?

Es ist eigentlich gar keiner mehr zu sehen. Die dicke Frau neben mir ist unter ihrer brummenden Raumfahrerhaube eingepennt, der Stuhl links neben mir ist leer. Vorne an der Kasse ist niemand. Der Meister selbst ist auch nicht zu sehen, nur Milara-Joline kommt gerade durch den schwarzen Vorhang aus dem hinteren Teil des Etablissements geschlurft.

„Wo ist denn die Kimberley?“, frage ich etwas nervös, denn ich habe noch ihre Worte im Ohr, dass man die Pampe nicht zu lange drauf lassen sollte, weil sonst …

„Isch kuck ma“, sind die ersten und einzigen Worte, die Milara-Joline bisher gesagt hat. Sie kann also reden und verschwindet wie­der hinter dem Vorhang, hinter dem ich eindeutig Kimbärlis Stimme hören kann. Sie lacht und es scheint ihr gut zu gehen.

Schön.

Milara-Joline erscheint wieder und macht mir mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger am Ohr das bekannte Zeichen für tele­fonieren. Ja, und? Ich muss hier befreit werden. Die Pampe muss runter.

„Und wo ist Herr Kaiser?“

„Mittach!“, sagt sie und ist dann auch raus.

„Kimbäärliii!“, rufe ich nach hinten, doch sie scheint mich nicht zu hören und geiert in ihr Telefon. Scheint ein wichtiges Gespräch zu sein. „Kimbäärliii!“ Nix.

Ja, dann muss ich eben selbst … ich versuche, mich vom Stuhl zu erheben, doch dann lässt sich der Werkstattwagen auch nicht mal eben so wegschieben, weil ich mit meinem Talar auch noch an den Fußpedalen des Stuhls hängenbleibe. „Kimbäärliii!“ Dann schaffe ich es doch, mich zu befreien und Richtung Vorhang zu be­wegen, ihn zur Seite zu schieben, und da habe ich sie direkt vor mir.

„Huäh!“. Sie weicht zu Tode erschrocken zurück und lässt vor lauter Panik das Handy fallen.

„Wie seh’n Sie denn aus?“, fragt sie entsetzt.

Was für eine Frage? Wer hat mich denn so zugerichtet?

„Kimbärli, die Eieruhr ist kaputt.“

„Wat?“

„Naja, es hat nicht geklingelt, die Zeit ist um!“

„Ach, du Scheiße“, sagt sie jetzt und hebt ihr Handy wieder auf, sagt „Ruf dich später an!“, und dann zu mir „Vierzig Minuten! Oh, oh, oh.“

Ja, so lange war ich wohl in mein schönes Buch vertieft.

„Hier, setz‘n Se sich. Dat krieng we schon“, sagt sie und ich frage mich, was wir denn da jetzt kriegen wollen. Ist denn schon was schief gelaufen? Wahrscheinlich.

Und dann drückt sie mich in einen anderen Stuhl hier im hinteren Teil des Frisörladens, reißt meinen Kopf nach hinten in ein kleines schwarzes Porzellanbecken und lässt heißes Wasser drüber laufen. Viel zu heiß.

„Isset gut so?“

„Nein, zu heiß!“

„Oh.“

Sie dreht die Temperatur herunter und bearbeitet meinen Schädel, als ginge es darum, sämtliche Haare samt Wurzeln herauskneten und irgendwie alles wieder auf Null zu stellen, hab ich so ein Gefühl.

„Isset gut so?“

Ich antworte gar nicht mehr. Sie schrubbt und wäscht und reißt und rubbelt, als wolle sie Leben retten. Meins oder ihres, das ist noch nicht klar. Vielleicht bringe ich sie ja hinterher doch noch um. Immer wieder sieht sie mich beruhigend lächelnd an, obwohl sie schwer verunsichert ist, das sehe ich, nickt dazu und schrubbt und reibt dann mutig weiter. Spült alles wieder raus und schaut immer wieder kritisch auf ihr Werk.

Und weiter. Kneten, schrubben, reißen. Als sie merkt, dass ich leicht unruhig werde, lächelt sie wieder und sagt: „Dat sieht schon richtig gut aus, Herr Knippschild. Sie werd’n sich wundern.“

Na, ich hoffe nicht. Dann holt sie verschiedene Fläschchen mit Lotionen, Spülungen und Packungen und was weiß ich noch alles aus einem Schrank hervor.

„Soll’n we auch noch wat Glanz und Fülle und Volum‘n drauf mach‘n?“, fragt sie, wartet meine Antwort aber gar nicht ab und schon hab ich den Inhalt der nächsten Pullen auf meinem Kopf.

Reiben, kneten, rubbeln.

„Woll’n Se auch Kopfmassage?“

„Nein!“

„Na gut.“ Sie scheint etwas enttäuscht, weil das vielleicht ihre erste Disziplin gewesen wäre. „Och“, sagt sie dann aber und redet sich selbst gut zu. „Dat sieht aber gut aus. Ham schön de Farbe angenommen, ihre Haare. Super.“

So, jetzt reicht es mir dann auch und ich will selber mal was sehen.

„Kimberley, es ist jetzt gut. Bitte, hören Sie auf damit.“

„Ja, ja, gleich sind we durch.“

Dann reibt sie mir den Kopf mit einem Frotteehandtuch ab, bindet dann das Ganze wie einen Turban um meinen Kopf, dass ich jetzt in dem schwarzen Kittel aussehe wie ein böser Mullah, der soeben wieder Hinrichtungsbefehle ausgestellt hat und ich schreite mit dem letzten Rest verbliebener Würde durch den jetzt wieder gut ge­füllten Salon. Die Mittagspause scheint vorbei und auch einige neue Kundinnen sind zu ihren lebensverändernden Maßnahmen angetreten.

Kimbärli geht voran, als wolle sie Blumen für mich streuen, und ich, als der böse Ayatollah, hinterher.

Die Blicke der Salonbesatzung prallen an mir ab. Ich spende etwas gnädigen Segen nach rechts und links, bis ich dann wieder in meinem Stuhl von vorhin versinken darf. Ich kann leider nur einen ganz kurzen Blick in den Spiegel erhaschen, weil Kimbärli sich direkt vor mir auf­baut und einen Fön schwingt. Aber ich meine, im Spiegel kurz ein wildes schwarzes wuschiges Tier gesehen zu haben, aber vielleicht habe ich ich ja getäuscht.

Der Turban wird endlich gelöst und Kimbärli bedroht mich jetzt direkt von vorne mit der Heißluftpistole. Rechts und links, unter und über meinem Haar heiße Luft und immer wieder diese runde Bürste, die Kimbärli mir in die Haare dreht und windet und föhnt, bis sie dann endlich „So!“ sagt und einen Schritt zurücktritt.

Es ist vollbracht.

Der Blick in den Spiegel ist jetzt frei. Und das wilde Tier ist noch da. Ein schönes wildes schwarzhaariges Tier, das man nicht reizen sollte.

Einen kleinen, winzigen Moment steht die Welt still.

Das Leben um mich herum verstummt und man hält ehrfürchtig die Luft an. Das neue Leben des Alex Knippschild beginnt in genau diesem Moment.

Vielleicht ist es aber auch ein Zeugenschutzprogramm, in das ich versehentlich hineingerutscht bin. Neue Identität, völlig neues Aussehen und wahrscheinlich bekomme ich beim Verlassen des Ladens von Meister Kaiser auch neue Papiere. Ich kann noch mal ganz von vorne anfangen, werde neue Bekanntschaften schließen, schließen müssen, denn aus meinem alten Leben wird mich niemand mehr erkennen.

Ich werde also sicherlich auch wieder um meine Steffi werben müssen, weil auch sie mich so auf keinen Fall wiedererkennen wird. Aber ob sie mich wohl noch mal heiratet? Diesen ganz neuen Alex? Werde ich denn selbst überhaupt noch mit mir klarkommen, so, wie ich jetzt aussehe?

Aus dem Spiegel starrt mich unter pechschwarzen buschigen Augenbrauen wie zu hoch gerutschte schwarze Balken aus einem Polizeifoto ein völlig verstörter mittelalter Mann an, den man mit einer komplett schwarzen Perücke verhöhnt hat, die wahrscheinlich aus irgendeinem Theaterfundus gestohlen wurde.

Othello? Charlys Tante? Die wilden Weiber von Windsor? Über den Ohren an den Sei­ten rechts und links hat dieser schwarze wilde Busch zwei große lockige Wellen, die meinen Kopf gewaltig in die Breite ziehen und dicke Backen machen. In der Mitte oben über der Stirn hat es Kimbärli trotz des recht dünnen Haupthaars geschafft, eine weitere leicht schräge Welle zu formen, die das gewagte Bauwerk von Frisur auch nach oben hin beträchtlich erhöht, und im Nacken finde ich eine perfekte etwas zuppelige Außenrolle.

Also doch ein wenig Buffalo Bill. Na, bitte. Aber auch eine gehörige Portion Zigeunerin ist drin. Aus den Strähnchen in Dark Brown ist zwar nichts geworden, es ist alles tiefschwarz, aber sonst … fast alles wie bestellt.

Da kann man nicht meckern.

Mich erinnert dieses Fabelwesen im Spiegel an diesen einen Graf Dracula einer neueren besonders echten und realistischen Verfilmung oder an einen bösen Waldmenschen aus irgendeinem rumänischen C-Movie. Vielleicht kenne ich diesen Menschen mit diesen Wucherungen auf dem Kopf aber auch als Alien aus einer dieser Science Fiction Fernsehserien. Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall hat man Angst vor ihm. Ich sehe aus wie ein stark überschminkter Massenmörder in einer Laientheateraufführung.

Oder eben wie ein wildes Tier.

Erstaunlich. Das ist Frisörkunst. Da weiß man, warum die Mädchen eine lange, harte Lehrzeit absolvieren müssen, bis sie zu so was imstande sind. Donnerwetter. Ich weiß gar nicht, was ich zu dieser kreativen Leistung sagen soll. Auch der Rest des Ladens ist immer noch zu keiner Äußerung fähig. Man könnte ein Büschel Haare fallen hören, so still ist es geworden.

„Kimbäärliii!“, durchbreche ich die unheilvolle Stille und nach einer Weile höre ich das dünne Stimmchen von Milara-Joline aus der trügerischen Sicherheit hinter dem Vorhang.

„Mittach.“

Ich kann kaum den Blick abwenden von dieser geheimnisvollen Erscheinung, zu der ich nun geworden bin, erhebe mich in stiller Bewunderung und Ehrfurcht und lege in Slow Motion und voller Würde mein Dracula-Cape ab. Noch ein letztes Mal fletsche ich die Zähne, um meine Macht zu de­monstrieren und versetze mein Publikum in einen kurzen aber überaus heftigen Moment des blanken Horrors.

Dann schlendere ich gelassen und gänzlich entrückt zur Kasse, wo Meister Kaiser schon deutlich verunsichert auf mich wartet.

„Ich hoffe, du bist zufrieden, Herr Knippschild und hasses dir so vorgestellt!“, sagt der Meister, „Dreiunfuffzichachtzich.“

Ja, genau so habe ich es mir vorgestellt. Danke. Danke.

Ich schiebe ihm sechzig Euro über die Theke, sage „Stimmt so“ und lasse mir von ihm mit demselben Zaubertrick wie am Anfang meine Jacke überstreifen. Dann werfe ich einen Blick aus dem Fenster, freue mich schon auf die Panik, die ich da draußen gleich auslösen werde … und sehe Steffi direkt an der Scheibe stehen, die einen entsetzten Blick auf mich wirft.

Verstehe ich nicht. Sie hat mich ja schließlich hier hergeschickt. Jetzt muss sie auch mit den Folgen leben. Also mit mir. Aber: Sie scheint mich trotz allem erkannt zu haben.

„Schönen Tach noch!“, rufe ich hämisch grinsend in den Laden und bin raus.

Steffi steht da wie angewurzelt und starrt mich fassungslos an. Ich fletsche für sie noch mal kurz die Zähne und sie zuckt ein wenig zurück. Aber dann sagt sie: „Toll. Man kann schon was machen!“

Die ersten Leute um uns herum bleiben stehen.

„Na, wie sehe ich aus?“, frage ich und erwarte ihr gerechtes Urteil.

„Wie ‘ne Omma“, sagt sie, „nur jünger. Und so böse irgendwie.“

Und dann brechen wir beide in erlösendes Gelächter aus, gehen in den nächsten Laden, kaufen eine Wollmütze, eine Sonnenbrille und eine Dose Nivea.

Tja, ich glaube, jetzt ist erst mal ‘ne Weile gut mit Frisör.

Zweite Sauerländer Weisheit:

Willze ein‘ auf Styling machen,

kannet sein, dat alle lachen

Sauerland Live

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