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Das dritte Abenteuer Die Gartensklaven
Оглавление„Es explodiert alles“, jammert Steffi als sie aus der Terrassentür in unseren Garten schaut. Max und ich blicken erstaunt auf, weil sie uns mitten in einer wichtigen D-MAX-Sendung erwischt und mit dieser verstörenden Meldung einigermaßen neugierig gemacht hat. Denn bei D-MAX explodiert auch immer so einiges.
Max hat Ferien, er langweilt sich etwas und hatte bis eben noch schwer schlechte Laune, weil das Wetter nicht so besonders ist und es außerdem auch noch nicht sicher ist, ob ich auch genügend Urlaub in der Redaktion nehmen kann, damit wir gemeinsam etwas Schönes unternehmen können. Eine kleine Urlaubsreise vielleicht. Holland? Alpen? Nordsee? Ich hab erst mal nur die nächsten Tage frei. Und bei schlechter Laune hilft auf jeden Fall D-MAX.
Es geht momentan in dieser Folge von FAST N‘ LOUD darum, wie Richard und Aaron, die beiden Helden dieser Schrauber-Serie, es schaffen, in einen schicken alten Chevrolet einen Tausend-PS-Motor einzubauen. Tolle Sache. Der Motor hat gar keinen Platz unter der riesigen Haube, so dass ein großer Teil des zwölfzylindrigen Ungetüms oben aus ihr herausragt. Verchromt, versteht sich.
Max findet’s super und ich natürlich auch und so verfolgen wir gespannt das dramatische Geschehen auf der Mattscheibe. „Hey, ich bin heiß auf ’n Rennen!“, sagt Richard und Aaron antwortet: „Du forderst mich raus? Machen wir’s, Alter. Los geht’s!“ Ja, das sind Dialoge nach dem Herzen zweier Männer wie uns. Max und mich. „Hey Max, abgefahren was?“ „Jo, Bro!“
Das alte Auto wird richtig abgehen. Wir freuen uns schon mächtig auf einen rasanten Start vielleicht mit Funken, Feuer oder eben Explosionen. Dieser Sender ist genau das Richtige für uns. Er wirbt schließlich auch mit dem Motto: Für die tollsten Menschen der Welt: Männer. Na, bitte. Das gefällt uns.
Und Steffi interessiert sich sowieso nicht für das reichhaltige und sehr abwechslungsreiche Angebot dieses Senders. Sie guckt lieber Kochsendungen, was mit Mode oder Talkshows. Aber Max und ich sehen ganz gerne mal, wie Reifen und Motoren qualmen oder explodieren, wie harte Männer Alaska umsegeln oder amerikanische Gesetzeshüter streng und gnadenlos gegen brutale Wilderer oder geldgierige Tierhändler vorgehen oder mit der Machete gegen den Dschungel vorgehen.
„Die Bäume kommen näher!“, sagt Steffi jetzt mit einer gewissen dunklen Angst in der Stimme und sie weicht auch unmerklich ein paar Zentimeter von der Terrassentür zurück, als ob sich da wirklich eine hölzerne, grüne Gefahr nähert.
Ich muss an Macbeth denken, dem die drei Hexen seinerzeit ja prophezeit hatten, dass er erst etwas zu befürchten hätte, wenn der Wald von Birnam auf seine Burg zukommt. Da war er erst mal recht beruhigt. Aber was Macbeth ja nicht wissen konnte, war, dass schon bald die Truppen des Macduff mit abgehackten Büschen und Bäumen als Tarnung zur Burg vorrücken würde, um ihn zu erledigen. Und unsere Bäume rücken also angeblich auch näher.
Max und ich sehen uns fragend an und verstehen nicht so ganz.
„Wie meinst du das, Steffi, die Bäume kommen näher?“
„Na, es wächst alles zu. Seht euch das doch mal an. Es wuchert und wächst und rankt und sprießt, es explodiert alles … das Grün kommt näher.“
Sie sagt das mit so einem Horror-Timbre in der Stimme, fast wie eine Darstellerin aus einem sehr schlechten Science-Fiction-Film, die von blutgierigen Pflanzen bedroht wird. Und weil billige Science-Fiction-Filme mich schon immer interessiert haben und meine Frau nicht bedroht werden soll - von wem auch immer - stehe ich also auf, verpasse leider den Raketenstart unseres Chevys und sehe dann auch mal aus dem Fenster auf das, was uns da bedrohen soll.
Tatsächlich. Es ist wirklich alles ganz schön grün geworden da draußen in unserem Garten. Wie lange hab ich schon nicht mehr rausgeguckt? Kann mich nicht erinnern. Na, bei dem Wetter lohnt es sich ja auch kaum. Aber war das nicht schon immer so grün von allen Seiten? Die dicke Eiche hat ast- und blättermäßig auch ganz schön zugelegt, stelle ich fest. Fast kein Licht mehr auf der Terrasse. Ja, ja.
„Da! Es kommt näher“, sagt Steffi mit dieser Angststimme und zeigt auf die zwischen den Terrassenplatten aufgeschossenen Grasbüschel, die tatsächlich schon ziemlich nahe an die Tür vorgerückt sind. Ist die Tür abgeschlossen?
Naja, vielleicht merkt man ja auch gar nicht, wie alles wächst und wuchert, wenn man einfach nur mal an den vier Sonnentagen, die das Jahr uns in diesen Breiten genehmigt, im Garten sitzt und dann eben den Grill anwirft, die Würste im Auge hat und keinen Blick für heranrückende Büsche und Sträucher.
„Siehst du nicht, wie das alles gewachsen ist, Alex. Die Natur schlägt zurück!“ Stimme, jetzt fast apokalyptisch.
„Ja, Steffi, jetzt mal nicht so dramatisch. Es ist halt einigermaßen warm und es regnet andauernd. Da wächst natürlich alles, ist ja klar. Wie im Regenwald“, sage ich ganz munter, als würde ich es sogar schön finden, wie die wilde, freie Natur da so um uns herumwuchert.
Aber Steffi hat recht, es sieht schon etwas beängstigend aus. Die Fichten werden immer höher, die Büsche immer dichter und breiter, das Efeu rankt schon an einigen Stellen durch die Fenster, das Gras wächst … man müsste mal was machen.
Tja, dann müssen wir da eben bald mal was abschnippeln“, sage ich so leichthin und ganz guter Dinge, weil dieses „bald“ noch etwas weiter in der Zukunft liegen könnte. Ich sehe nämlich, dass sich gerade schon wieder eine dicke schwarze Wolke nähert, die der soeben geplanten gärtnerischen Aktivität einen platschnassen Strich durch die Rechnung machen wird.
„Heute aber nicht mehr. Du siehst ja, es regnet gleich“, sage ich also abschließend zur grünen Hölle unseres Gartens und gehe wieder zurück zu Max und D-MAX.
Heimlich und mit dem düsteren Unbehagen einer bevorstehenden, möglicherweise schweren, ungewohnten Arbeit sehe ich schnell mal im Handy nach, wie das Wetter in den nächsten Tagen werden könnte, denn ich spüre bei Steffi so einen unbändigen Tatendrang, der sich eventuell von ein paar Regentropfen gar nicht aufhalten lässt. Morgen nass mit trockenen Abschnitten. Oh. Trockene Abschnitte. Mist. Das könnte reichen.
Das mit dem augenblicklich drohenden Schlechtwetter sieht Steffi aber glücklicherweise ein, nachdem sie die schwarze Wolke jetzt auch entdeckt hat und nickt zögerlich zustimmend aber nachdenklich. Ja, ich sehe es, da ist dieser Wille, die Natur zu besiegen. Der Mensch will sich seinen Lebensraum zurückerobern. Jedenfalls der Mensch Steffi Knippschild.
„Aber morgen dann!“, sagt sie mit fester Stimme, die sogar den dröhnenden Motor des Chevys übertönt, „morgen gehen wir alle …“, dabei lächelt sie jetzt besonders Max überfreundlich an, „… in den Garten und kämpfen gegen diesen Urwald.“
Steffi übertreibt natürlich mit dem Urwald. So schlimm ist es meiner Meinung nach noch lange nicht, aber gut, ein bisschen nach Dschungel sieht es tatsächlich aus. Wenn ich unser Gartenhaus suche, das ich dann von Efeu und Schlinggewächsen fast erdrückt in der hinteren Ecke des Gartens finde, dann muss ich zugeben, dass das Ganze ein bisschen was von überwucherten Inkatempeln hat, die erst nach Jahrhunderten im Dschungel entdeckt worden sind, weil die Natur sie einfach verschluckt hatte.
Vielleicht wird man eines Tages, in ein paar Jahrhunderten, auch die Familie Knippschild von Ranken erwürgt und mumifiziert in diesem Sauerlanddschungel entdecken und anhand dieser Funde das ganz normale Leben in dieser ländlichen Region zu rekonstruieren versuchen. Wie haben die Menschen damals gelebt in dieser Regenwaldhölle? Offensichtlich haben sie den Kampf gegen die Natur aber verloren. Schrecklich! Familien und geführte Reisegruppen werden durch unseren ehemaligen Garten und durchs ehemalige Haus gehen und nur noch Reste der Knippschildschen Zivilisation vorfinden.
Also gut, dann gehen wir eben morgen alle mal in unseren Garten und schnippeln ein bisschen an den Zweiglein und Ästchen herum, die zu weit vorstehen, damit es nicht so weit kommen kann.
Kann ja kein Problem sein und lange kann das auch nicht dauern, denke ich, weil ich jetzt am Wochenende und an den nächsten paar freien Tagen ganz gerne an meinem zweiten Buch weiterschreiben würde. Das erste, das den Titel Mörder, Möpse und Millionen trägt und ein spannender, unterhaltsamer Krimi geworden ist, hat sich in einer Ecke der Buchhandlung Kohle immerhin fast zweihundertmal verkauft (und von mir persönlich verschenkt natürlich) und mich darin bestärkt, dass ich wenigstens hier im Ort ein gefragter und vielgelesener Bestseller-Autor bin und auf jeden Fall ein zweites Buch schreiben sollte. „Ich hab ihr Buch gelesen, Herr Knippschild. Habs mir schlimmer vorgestellt.“ Na, bitte. Das sind Kritiken, die man sich wünscht.
Wieder einen Krimi, dachte ich so. Warum nicht? Ich lese sie selber gerne, und was man selbst gerne liest, sollte man als Autor auch schreiben.
Das Buch hat auch schon einen Titel. Der ist mir als erster eingefallen, nachdem vor Kurzen der alte Heinz Potthoff gestorben ist. „Totgesoffen!“, sagten die Leute da hinter vorgehaltener Hand und so soll das Buch auch heißen. Das gefällt mir. Aber mit der Handlung bin ich mir noch nicht so ganz im Klaren. Es soll auf dem Dorf spielen, es wird einen Toten geben, einen dorfbekannten Säufer, der eines Tages mit einer Flasche Schnaps in der Hand eben tot aufgefunden wird. Mord muss ja sein, sonst ist es kein richtiger Krimi. Es stellt sich aber dann heraus, dass in der Schnapsflasche ein Pflanzengift war … naja, und so weiter. Ich weiß es noch nicht so genau.
War der Gärtner der Mörder? Daran muss ich also noch arbeiten. Und wenn wir morgen dann mit der Schnippelei im Garten fertig sind, dann geht es weiter mit meinem Manuskript. Ich freue mich schon drauf.
„Garten?“, fragt Max mit reichlich angeödeter Miene und hat mein vollstes Verständnis. Ich bin auch nicht so der Gartentyp, was dessen Pflege und Hege angeht. Ich besitze zwar alle Geräte, die nötig sind, um der Sache Garten theoretisch Herr zu werden, aber ich gestehe, dass ich sie bis jetzt nur sehr selten oder gar nicht eingesetzt habe. Ich sitze lieber in einem Liegestuhl mittendrin im Garten und lese oder döse – an den bereits genannten vier Sonnentagen.
Natürlich freue auch ich mich, wenn es um mich herum blüht und sprießt, sieht ja auch sehr schön aus, aber das muss auch nicht unbedingt sein. Es geht auch ohne Blühen und Sprießen. Einfach nur rumsitzen und lesen. Oder essen und trinken. Grillen zum Beispiel.
Also, ich würde jetzt nie auf die Idee kommen, ein Blumenbeet anzulegen, weil ich Blüten und Bienen und so was brauche. Steffi sagt so oft Sachen wie „Schau mal, die Hortensie ist wieder gekommen!“ und freut sich. Ich freue mich dann natürlich auch, weil es wirklich toll ist, dass die Hortensie wieder da ist und auch sehr schön aussieht, sage aber nur „Ja, schön“ und lese weiter.
Und diese Blumen dann auch noch zu pflegen oder womöglich sogar das Unkraut aus den Beeten zu zuppeln. Nein, nein. Das geht zu weit. Das muss wirklich nicht sein. Bisschen Wiese, bisschen Busch und Baum. Das reicht mir vollkommen. Und dann einfach wachsen lassen! Fertig.
Ich kann mich noch sehr gut an meine Kindheit erinnern, in der ich oft genug mit entsprechender Strenge im Garten zum Unkrautjäten verurteilt wurde, obwohl ich gar nichts angestellt hatte, während die anderen Jungs draußen in Freiheit waren und allerlei Unsinn anstellen konnten. Aber ich saß knurrig zwischen unreifen Erdbeeren und sprießenden Porreestängeln und hab das verdammte Unkraut dazwischen rausgepopelt.
Ich habe es gehasst und mir geschworen, so etwas meinen Kindern niemals anzutun. Das verfolgt einen bis ins hohe Alter, das beeinflusst die persönliche Entwicklung, das Sozialverhalten, die Einstellung zu Obst und Gemüse und vielleicht auch das spätere Sexualgebaren.
Weiß man’s? Könnte doch sein. Ich weiß zwar nicht wie, aber ich bin mir sicher, dass man da eine Menge verkehrt machen kann, wenn man Kinder zu solchen Arbeiten abrichtet - und das will ich nicht. Max soll frei von Unkraut aufwachsen.
Aber morgen soll er mal mit ran. Na gut. Einmal. Es geht ja sicher ganz schnell.
Hätte ich früher mehr Fußball mit den Jungs gespielt und auf der Straße rumgelungert, hätte sich vielleicht später plötzlich ein starker Gartentrieb bei mir entwickelt. Wer weiß. Könnte auch sein. Ich würde ich jetzt vielleicht Rosen und Tulpen züchten, ich wäre im Kleingärtnerclub, würde meine Rosen auf Ausstellungen präsentieren und mit den dicksten Kürbissen und Kartoffeln angeben. Ich würde mit dem Nachbarn über den Zaun die Erdbeer- und die Kartoffelernte diskutieren und Mehltau und Rote Spinne als bösartige Feinde des Gärtnertums verfluchen.
Wir würden uns austauschen über Giftmischungen und den richtigen Einsatz der wirksamsten Pestizide. Ich hätte Mein schöner Garten abonniert, bekäme monatlich die Siedler-Zeitung und rückte so bestens informiert dem Maulwurf mit dem Solar-Maulwurfschreck zuleibe, ich würde Ultraschallabwehr gegen den Wildhasen auffahren, der meine zarten, hilflosen Setzlinge abknabbert. Ich würde Schussfallen gegen die Wühlmäuse vergraben – ja, die werden unterirdisch erschossen. Peng. Ich würde Zäune setzen. Vielleicht elektrisch. Natodraht. Mein Garten wäre ein einziges militärisches Sperrgebiet – aber vorbildlich. Keine Gartenfeinde, kein Unkraut, alles blüht, alles wächst – aber so, wie ich es will.
Doch zum Glück ist es eben alles ganz anders gekommen. Und dafür bin ich meinen Eltern dann doch im Rückblick sehr dankbar.
Ich kümmere mich einfach nicht um den Garten. Er ist einfach da und ich liege und sitze eben manchmal drin. Mehr nicht. Gut, der Rasen, also eher die wilde Wiese, wird ab und zu gemäht, okay. Aber dann muss es auch gut sein.
Ich will doch nicht der Sklave meines Gartens werden, so, wie meine Schwiegereltern zum Beispiel. Bei Alfred und Helga sieht der Garten aus wie ein botanischer Setzkasten, wie ein florales Panoptikum. Da sind die Blumen ausgerichtet und die Büsche gestutzt wie von einem fundamentalistischem Frisörmeister.
Der Rasen hat sogar Kanten. Rasenkanten! Kennen Sie so was? Hatten meine Eltern auch. Da werden die Kanten des Rasens in mühevoller Zentimeterarbeit mit dem Spaten brutal abgestochen, bis er dann aussieht wie ein grüner Teppich. Erst dann sind Schwiegerpapa Alfred und der Rest der Rasenkantenstecher-Armee zufrieden. Und sobald im grünen Teppich, der ja vielleicht sogar von Schwiegermama Helga abgesaugt wird, wenn ein paar Blättchen darauf fallen, dann die ersten Grashalme es wagen, wieder über die genehmigte Länge von vier Zentimetern hinauszuwachsen, kommt augenblicklich der geschärfte Rasenmäher zum Einsatz, mit dem Alfred dann unter den strengen Augen seiner Helga verbissen seine Runden zieht.
Manchmal Achten, manchmal Ovale, und manchmal, wenn er ganz gute Laune hat, schafft er es sogar, ein Muster in den Rasen zu mähen wie auf dem Fußballplatz. Man muss dann nur immer die Richtung des Mähers ändern, damit dieses Muster entstehen kann. Mein Lieber!
„Hey Max, krass, Alter, was? Bock auf ‘ne Challenge im Garten morgen? Ich fordere dich heraus!“
Ja, das kommt nicht so gut an und unser Sohn vertieft sich mit angewidertem Blick wieder in den nächsten D-MAX-Beitrag, in dem es diesmal um eine Familie geht, die in den Wäldern von Alaska, also mitten in der Wildnis lebt. Und sogar überlebt. Dann schaltet er aus und geht in sein Zimmer.
Am nächsten Morgen spüren wir beide, Max und ich, eine gewisse Unruhe bei Steffi. Es geht alles etwas hektisch zu beim samstäglichen Frühstück. So, als ob uns die Zeit wegrenne. Steffi schlingt alles hinunter, und das ist doch nicht gesund und sehr ungemütlich.
„Was ist denn los, Steffi? Haben wir’s eilig?“
„Ja. Ab Mittag sind wieder Schauer angesagt.“
„Ja und?“
„Wie? Ja und? Wir gehen heute in den Garten“, singt sie. „Wisst ihr doch. Haben wir doch so ausgemacht.“
Ja, wir hätten es zwar lieber vergessen, aber ja … so war der Plan. Steffis Plan. Sie hat es so ausgemacht.
„Ich hab euch hier schon mal die alten Klamotten rausgelegt und dann geht’s gleich los.“ Steffi scheint richtige Freude an dieser bevorstehenden Aktion zu haben. Naja, es wird ja nicht lange dauern.
„Boah, echt?“, fragt Max noch mal unnötigerweise, „Lukas wollte mich heute abholen, wir wollten zusammen ins Dorf …“
Ach, da haben wir es wieder. Meine ganze schwere Kindheit holt mich in diesem Moment ein und ich werde nachdenklich. Zwing den Jungen nicht! Mach es nicht! Gib ihm seine Freiheit! Er braucht das. Er kann doch nichts dafür! Er muss unkrautfrei aufwachsen können!
„Max, (räusper, räusper) heute gehen wir erst mal in den Garten! Kannst ruhig mal mitarbeiten und was für die Familie tun.“ Diese Worte sind mir wirklich nicht leicht gefallen, und er tut mir jetzt schon leid, der Arme. „Wann kommt Lukas denn?“
„Um drei.“
„Oooch, bis dahin sind wir lange fertig“, flöte ich fröhlich und tue so, als ob auch ich mich schon ein wenig auf meinen Einsatz an der grünen Front freue. Und außerdem sind ja ab Mittag Schauer angesagt. Läuft also.
Traurig schlüpft Max in seine alten Jeans mit den Fahrradschmierflecken und zieht wiederwillig eine Jacke an, die ihm nicht mehr ganz passt. Auch ich zerre mir das Lumpenzeugs über, das Steffi uns rausgelegt hat und da stehen wir nun. Bereit, die Schmach der Sklaverei anzutreten.
Steffi ist nicht mehr zu sehen. Sie steht schon zwischen den Kirschlorbeerbüschen und schnippelt fleißig. Sie schwitzt sogar schon, weil doch tatsächlich die blöde Sonne rausgekommen ist. Na, na, ob das mal gut geht mit den versprochenen Schauern heute Mittag.
Steffi schneidet die ersten vorwitzigen Zweige ab und legt sie sorgfältig auf einen Haufen.
„Max, du kannst das schon mal in die Schubkarre packen!“
„Wo ist die denn?“, fragt er und auch ich muss nachdenken. Es ist doch schon eine ganze Weile her, dass wir dieses seltene Schiebe-Gefährt mal benutzt haben.
„Am Kompost“, antwortet Steffi und bevor Max jetzt fragt, wo denn der Kompost ist, nehme ich ihn beiseite und wir gehen gemeinsam die Schubkarre holen. Ich habe den Komposthaufen schon mal gesehen. Er müsste irgendwo da hinten sein. Ah ja, da ist er ja. Leider ist der Reifen der Schubkarre platt und ich muss schon wieder überlegen, wo jetzt diese Luftpumpe ist.
„Wo bleibt denn die Schubkarre?!“, ruft Steffi und ich rufe zurück „Wo ist denn die Luftpumpe?“ und höre nur, wie Steffi stöhnt und so was sagt wie „Immer dasselbe, wenn man‘s braucht, ist alles kaputt.“
Ich erinnere mich aber dann, dass die Pumpe in der Garage liegen müsste und kann sie dann auch unter einer dicken Schicht Spinnweben herausarbeiten. Was Spinnen doch für tolle, total symmetrische und außerordentlich widerstandsfähige Gebilde bauen können!
Dann steht die Schubkarre endlich an ihrem Platz.
„Na los, einladen!“, ordnet Steffi etwas ungeduldig an und Max verrichtet murrend seine Fronarbeit. Dass sie bereits einen ganzen kleinen Berg von Ästchen abgeschnitten hat, kann man dem Busch überhaupt nicht ansehen. Er sieht eigentlich aus wie immer. So wird das nichts, denke ich. Da müssen ganz andere Geräte her. Da muss man in ganz anderen Dimensionen denken. Größer.
„Warum schneidest du denn die kleinen Äste mit der Nagelschere ab?“, frage ich also, denn ich kann mich auch erinnern, dass ich da mal weitaus effektiveres Werkzeug gekauft habe.
„Das hab ich gerne! Noch keinen Handschlag getan, aber schon klugscheißern. Das ist eine Rosenschere“, sagt sie und schneidet verbissen weiter.
Ich schüttele nur den Kopf und verlasse sie erst einmal Richtung Schuppen. Rosenschere. Phh.
„Wo gehst du denn hin? Wir müssen hier …“
Ja, ja, denke ich nur. Mach du mal mit deiner Rosenschere, ich bin gleich zurück und dann wirst du dich aber wundern.
Ich finde die Heckenschere nicht gleich, aber hinter den Fahrrädern und neben der alten Autobatterie liegt sie dann. Leicht angerostet, aber das tut ja nichts zur Sache. So ein Spezialwerkzeug wird eben nicht oft gebraucht. Auch eine Astschere entdecke ich nicht weit davon im Dreck liegen. Ja genau, die haben wir ja auch! Ich probiere sie kurz aus und bewundere ihren mächtigen Eisenschnabel, der die Äste kaltblütig abhacken wird, und nehme auch sie vorsorglich mit, denn mit einer Rosenschere kommen wir nicht weit.
Und da fällt mir die elektrische Heckenschere ein, die ich ja auch mal gekauft habe. Ja. Die war ein absolutes Sonderangebot im Baumarkt und hat mir sehr gut gefallen. Leider ist sie noch nie zum Einsatz gekommen und fristet ihr nutzloses Dasein bis jetzt … ja, wo denn eigentlich?
Es vergeht noch ungefähr eine Viertelstunde, bis ich sie gefunden habe, aber dann komme ich bestens ausgerüstet und bis an die Zähne bewaffnet wieder zurück an den Ort des Geschehens.
Steffi empfängt mich mit einem niedergeschlagenen Kopfschütteln und stöhnt, als sie mein Waffenarsenal sieht. Ich übersehe das einfach mal und rolle meinerseits jetzt das Kabel von der Kabeltrommel ab, damit wir mit Watt und Volt und der Technik von heute gegen die grüne Pest vorgehen können.
Steffi hat sich bei meiner Rückkehr dann auch schon die Finger geklemmt, weil auch die Arbeit mit einer Rosenschere geübt sein will. Na, sie macht das ja schließlich auch nicht jeden Tag. Es bildet sich eine Blutblase und ich bedauere sie. „Pflaster?“ „Ach was.“ Steffi ist ein harter Knochen. Max nutzt die kurze Unaufmerksamkeit seiner Wärterin und fingert kurz in seinem Handy herum. Die Sonne scheint noch immer.
„So“, sage ich zufrieden, als die elektrische Zerstörungsmaschinerie ihre ersten bedrohlichen Rasselgeräusche von sich gibt, und Steffi weicht erschrocken zurück.
„Willst du etwa mit dem Ding da …“
„Natürlich“, sage ich, „das Zeugs muss doch ab, oder? Und ein bisschen Technik hat noch nie geschadet im nackten Kampf ums Überleben.“
„Ja aber …“, höre ich noch, aber da rasselt die elektrische Vernichtungsschere schon mitten durch den Busch, dass es nur so spritzt und fetzt vor lauter grünen, abgehackten Zweigen und Blättern. Ich wüte mich wie mit einer automatischen Machete durch unseren Dschungel und höre nicht, wie Steffi versucht, mich einzubremsen. Indiana Jones.
„Hör auf damit. Das sieht ja furchtbar aus! Du veranstaltest ein Gemetzel“, jammert sie.
Doch ich kenne keine Gnade. Bin nicht mehr aufzuhalten. Auch nicht von meiner Frau. Da ist etwas ausgelöst in mir, das verborgene, unbekannte Kräfte freisetzt. Ich lasse mir doch meinen Lebensraum nicht von der grünen Hölle vor unserer Tür wegnehmen. Ich lasse doch mich und meine Familie nicht von Kirschlorbeer und Fichten aus dem Paradies vertreiben.
Endlich bin ich quasi durch den Busch durch und komme draußen am Weg wieder an. Ein paar in den Busch eingewachsene Brombeerranken haben mich ein wenig zerfetzt, ich blute etwas, aber das kann einen Mann, der D-MAX gewohnt ist, nicht erschüttern. Ich bin auch ein harter Knochen.
„Das sieht AUS!“, jammert Steffi und hat die süße Rosenschere noch immer in der Hand. „Der schöne Busch!“
„Ach, auf einmal ist es der schöne Busch, ja? Und eben hat er noch unser Leben bedroht, oder wie?“
„Ja, man muss doch nicht gleich den ganzen Busch abhacken, wenn man nur ein wenig Luft …“
Ach, das versteht Steffi einfach nicht. Ganz oder gar nicht. Duschen ohne nass zu werden, geht eben nicht. Und wenn der Vernichtungsreplikant Alex Knippschild erst mal aktiviert ist, dann muss er auch töten.
„Das muss doch alles weg“, sage ich und schon rasselt die Elektroschere wieder. Mit blinder Wut - ja, man braucht auch Wut für derartige Arbeiten - gehe ich an den nächsten verdammten Busch, mähe dabei mitten in der Schlacht auch ein paar von den Hortensien und Forsythien nieder, aber wo gehobelt wird …
„ALEX!“
Max grinst und genießt eine weitere kleine Pause. Er schaut ab und zu mal nach oben, ob denn die versprochene Wolke endlich kommt. Nein, noch nichts zu sehen. Aber momentan ist es ja sogar wieder mal richtig aufregend und witzig mit den Alten.
Ich mähe mich weiter durch den Privatdschungel, der zweite Busch ist schon fast niedergerungen, der nächste zittert schon, bis ich dann endlich mit dem erbarmungslosen Mähwerk der Elektroschere das Kabel erwische und die Todesmaschine schweigt.
Eine unheilvolle Stille legt sich augenblicklich über unseren Garten und die Menschen, die darin stehen und doch nichts als überleben wollen.
„So“, sagt Steffi, „das war’s ja dann wohl. Endlich kaputt.“ Und ich muss ihr recht geben. Ja, ohne Strom geht’s dann leider nicht weiter.
„Ja“, sage ich resigniert, „dann muss ich wohl erst mal das Kabel flicken.“
„Nix da! Jetzt nimm dir von mir aus dann diese verdammte dicke Schere da“, damit zeigt sie auf die manuelle Heckenschere, die ja noch aus der industriellen Vorzeit stammt, mit reiner Muskelkraft betrieben werden muss und die ich eigentlich nur im absoluten Notfall einsetzen wollte, „und dann schneidest du das ab, was ich dir zeige.“
Max grinst wieder und wird von Steffi dabei erwischt. „Und du, steh hier nicht rum und mach was. Da. Äste sammeln. Schubkarre. Ab!“
Ich schneide jetzt also mürrisch, knurrend und reichlich unterdrückt nach Steffis Anweisungen mal hier und mal dort ein paar Äste ab, eigentlich nur die kleinen, darf einmal mit der Astschere sogar einem etwas dickeren Ast zu Leibe rücken, und dann darf ich sogar die große Bügelsäge holen, an die ich mich noch dunkel erinnern kann und die irgendwo ganz hinten … Ach, ich werde sie schon finden. Damit wird dann der dicke Ast abgesemmelt, der mir beim Runterfallen dann doch glatt auf den Kopf fällt und möglicherweise eine Schramme an der Stirn hinterlassen hat. Aua. Ach was. Lächerlich. Da sehen wir gar nicht erst nach.
Aber trotzdem, für mein Gefühl kommen wir nicht so recht weiter. Der Dschungel steht noch immer wie eh und je.
Max kommt gerade wieder mit der leeren Schubkarre vom Komposthaufen zurück, der immer höher wächst und uns jetzt leider die Aussicht auf die schönen weiten Wiesen dahinter verdeckt, die ich immer so geliebt habe, und sieht nach oben.
Noch immer keine Wolke zu sehen. Es geht also weiter mit der Sklaverei. Max sieht mich reichlich vorwurfsvoll an und murmelt „Dauert nicht lange, was?“
Auch ich schiele jetzt immer öfter mal auf meine Armbanduhr, denn der versprochene Regen könnte jetzt wirklich langsam mal einsetzen. Mir tun die Hände weh, ab und zu verkrampfen sie, Schweiß läuft mir in die Augen, ich hab blutige Kratzer an den Armen, eine Kopfverletzung, mir ist heiß, ich hab Durst, ich will nicht mehr …
„Da, jetzt den da!“, befiehlt Steffi und zeigt auf das nächste Ästlein, das ich abzwacken darf. Sie steht jetzt nur noch in der Mitte des Gartens und gibt Befehle. Das gefällt weder Max noch mir. Wir leiden momentan doch sehr unter der Knute der Tyrannin und ein gewisser Revolutionsgeist wächst in uns. Wir sind das Volk!
Und ihre Befehle sind unsinnig.
„Steffi, das bringt doch nichts. Hier und da mal ein Ästchen, so kommen wir doch nicht weiter. Sieh dir doch mal an, wie das alles hier explodiiiert!“
Doch sie lässt sich nicht beirren und verfolgt weiter ihre Strategie der kleinen Schnitte. Ganze drei Stunden haben wir jetzt schon in dieser grünen Hölle verbracht, und ich schiele ab und zu mal sehnsüchtig zum Liegestuhl hinüber. Heute hätten wir wirklich mal tolles Wetter zum Lesen, Abhängen, Grillen ...
Steffi greift jetzt doch wieder aktiv in das Geschehen ein und versucht gerade, eine der dicken Schlingpflanzen vom Gartenhaus zu lösen, als wir sie plötzlich „Au!“ rufen hören.
„Was ist?“, fragen wir beide gleichzeitig und stehen schon neben ihr, um irgendwie zu helfen.
„Ach, weiß nicht. Was gestochen. Egal“, sagt sie und zerrt weiter wütend und ohne Erfolg an den dicken Ranken aus dem versunkenen Inkareich.
Dann kommt der erste Tropfen. Na, endlich.
„Es regnet, es regnet“, verkündet Max voller Erlöserfreude, als ob wir das nicht selbst bemerkt hätten.
Und dann steht Max‘ Freund Lukas plötzlich vor uns. Viel zu früh, aber er ist da. Er starrt auf Max, wie der gerade Unkraut und Äste in die Schubkarre wirft.
„Wie uncool“, sagt Lukas, „Gartenarbeit.“
Natürlich ist Max das peinlich und er hört sofort mit seiner Arbeit auf.
„Hallo Lukas“, sage ich, „schon da?“
Er starrt immer noch angewidert auf die Gartengeräte und auf die Menschen, die sie bedienen.
„Ja, Max hat uns heute mal etwas geholfen. Musst du das nicht auch manchmal?“
Lukas schüttelt nur den Kopf, als wäre schon die Frage eine Zumutung.
„Nä!“
Naja, vielleicht wird er später mal der 1. Vorsitzende des Kleingärtnervereins und züchtet die dicksten Kartoffeln.
Der Regen wird stärker und ich sage mit einem Blick nach oben und ernster, endgültiger Stimme: „Also gut, das war’s dann“, und werfe auch mein Joch ab. Alle Werkzeuge in die Schubkarre und ab in die Garage damit. Eine dicke Blase wächst an meinem Handballen. Es sind halt nur zarte Schreiberlingfinger und keine schwieligen Mörderhände.
Steffi wirft noch einen letzten unsicheren Blick auf unser Vormittagswerk und scheint mit allem nicht so recht zufrieden zu sein. Ich auch nicht. Dann flüchten wir alle gemeinsam ins Haus, die Tropfen werden dicker und kommen schneller.
Der Regen ist jetzt richtig heftig geworden und ich wünsche mir, dass er eine ganze Woche lang anhält.
„Bin gleich fertig“, sagt Max zu Lukas und verschwindet schnell nach oben, um sich umzuziehen.
„Ihr wollt doch jetzt nicht mit den Fahrrädern los“, sagt Steffi, aber Max meint nur „Ach, die paar Tropfen“, und nach ein paar Minuten ist er wieder da, sagt „Tschüss!“ und ist dann mit Lukas weg. Irgendwann wird er mal ganz aus dem Haus sein.
Und dann sehen wir uns traurig an, unser Leben zieht an uns vorüber und wir beginnen, unsere Wunden zu lecken. Ich bekomme trotz heftiger Weigerung von Steffi ein paar Pflaster auf die blutigen Stellen am Arm, sie sticht mir entschlossen die Blase am Handballen auf und entfernt mir eine ganze Menge Brombeerstacheln aus dem Arm. Die blutige Schramme an der Stirn bekommt sogar ein kleines Mullpolster mit einem sehr großen Pflaster.
„Steffi, hör auf damit. Das ist doch völlig übertrieben!“
Aber sie lässt sich nicht aufhalten. „Das kann sich entzünden“, sagt sie. Früher, als Kinder, hätten wir so eine blutige Macke als „Loch im Kopp“ bezeichnet. Das war so ziemlich das Schlimmste, was einem Achtjährigen passieren konnte. „Der Alex hat ’n Loch im Kopp!“ Mit solchen Sensationsmeldungen wurde man dann von der ganzen Kinderbande zuhause bei den entsetzten Eltern blutüberströmt abgeliefert.
Ich lasse es also geschehen, muss schon wieder lächeln und freue mich, dass ich so eine fürsorgliche, liebe Frau habe.
Während sie mich also sehr professionell und gewissenhaft verarztet, entdecke ich dafür bei ihr eine erstaunliche Menge Mücken- oder sogar Bremsenstiche. Ihr ganzer Arm ist voller roter, teilweise von ihr schon aufgekratzter, dicker Hügel. Einer sitzt direkt neben der Blutblase am Daumen, der ziemlich gefährlich aussieht. Die Schwellung hat die Hand bereits unappetitlich verformt und sieht gar nicht gut aus. Da spielt ihr verbeulter Arm schon fast keine Rolle mehr.
Und dann entdecke ich noch etwas sehr Interessantes an ihr.
„Oh, da sitzt eine Zecke“, stelle ich mit Erschrecken aber auch so was wie dem begeisterten Interesse eines Insektologen fest. „Da in der Armbeuge, siehst du? Der kleine schwarze Punkt da. Das ist eine Zecke. Die hat sich da festgebissen. Am liebsten gehen sie in Armbeugen oder Achselhöhlen. Sie suchen die Wärme, weißt du. Das dauert jetzt ein paar Tage und dann ist sie groß wie ein Sahnebonbon, weil sie sich …“
Doch Steffi ist schon aufgestanden und zieht sich die Regenjacke an.
Der Arzt in der Notaufnahme des Mescheder Krankenhauses kann uns aber weitgehend beruhigen. Das an der Hand war sicher eine Hornisse – Steffi reißt bei dieser Insektenbenennung die Augen auf und droht fast vom Behandlungsstuhl zu kippen.
„Nicht schlimm“, sagt der Arzt aber, und die Zecke ist auch schnell entfernt. Und ob das jetzt mit dem Zeckenbiss tatsächlich zu einer Borreliose, so mit Hirnhautentzündung, Herz- oder Gehirnbefall und Nervenlähmungen führt, das kann man erst in ein paar Tagen oder auch Wochen sagen. Dabei lächelt der Herr Doktor uns beruhigend an und macht uns noch ein wenig Mut.
Abends wagen wir noch dann mal einen gemeinsamen Blick durch die fest verschlossene Terrassentür und den prasselnden Regen in unseren finsteren Dschungel, an dem sich bis jetzt eigentlich noch nichts sichtbar verändert hat, und ein Gefühl der Machtlosigkeit überkommt uns. Schaffen wir es wirklich nicht, der grünen Hölle Herr zu werden. Wird das Grün uns letztlich erledigen? Kommt der Wald näher?
Macbeth?
„Schürmann!“, sage ich mit entschlossenem Blick in den Garten.
„Was?“, fragt Steffi, die mit ihrem dicken Verband an der Hand und den düsteren Prophezeiungen einer möglicherweise sehr ungesunden Zukunft sowieso keine Rosenschere mehr führen könnte. Vielleicht nie mehr.
„Wir rufen Schürmann an, den Gärtner.“
Steffi nickt geradezu dankbar.
Die Männer sind ziemlich früh am Morgen schon da, werfen lachend ihre Zigarettenkippen in unsere Hortensien, als sie aus dem Lieferwagen der Gärtnerei Schürmann aussteigen und klopfen sich gegenseitig krachend auf die Schultern. Sie scheinen uns gar nicht zu bemerken, sind aber voller Tatendrang und guter Dinge. So sieht es jedenfalls aus. Sie machen einen recht munteren Eindruck. Solche Männer brauchen wir. D-MAX.
Herr Schürmann, der Anführer dieser wilden Horde, nähert sich uns, kann uns leider wegen unserer Verletzungen nicht die Hände schütteln und nickt uns daher einfach möglichst vertrauenerweckend zu.
„Moang!“, sagt er mit tiefer, brummiger Stimme, zieht an seiner Zigarette und wartet anscheinend auf einen Plan. „Wat sommwe machen?“
Steffi wird das Briefing übernehmen. Das haben wir so besprochen. Sie hat ja schließlich auch mit der ganzen Sache angefangen. Ich werde in diese strategische Planung nur im Notfall eingreifen, wenn zum Beispiel die Idee aufkommen sollte, den Rasen umzuackern und Kartoffeln anzupflanzen und damit die Stellmöglichkeiten für unsere Liegestühle dramatisch zu minimieren, oder so was. Das käme nicht in Frage.
„Herr Schürmann“, beginnt Steffi also feierlich, „Sie sehen ja selbst. Hier müsste alles mal ein bisschen …“
Schürmann nickt. Er sieht selbst. Totale Verwilderung.
Er schickt seinen grünen Kennerblick über den Regenwald und dann sieht er wieder uns an. Er sagt noch nichts, aber ich spüre, dass er sich fragt, wie man denn hier überhaupt noch leben kann. Es ist der Blick eines Mannes vom Putztrupp, der vor dem Chaos einer vermüllten Messie-Wohnung steht.
„Wissen Sie, Herr Schürmann“, fährt Steffi fort, „wir hätten es gerne ein wenig luftiger, vielleicht hier und da ein paar Zweige ab, diesen Busch da, eventuell auch den Baum etwas einkürzen, er nimmt uns ein wenig das Licht, da dieser Ast und da diese Ranken …“
Schürmann nickt ernst und wirft jetzt auch entschlossen seine Zigarette weg - in einen wild austreibenden, ehemals ballrunden Buxbaum. Er hat verstanden. Voll und ganz.
„Aas klar!“
„Wollen Sie Kaffee?“, fragte Steffi dann in die Runde und ein allgemeines zufriedenes Brummen und Kopfnicken geht durch die tatendurstigen Männer. Ja, warum nicht? Fangen wir doch erst mal mit einer kleinen Kaffeepause an.
„Jou! Wa?“
Steffi lächelt also verständnisvoll und geht dann rein, um Kaffee für alle zu machen. Sicherlich wird sie auch noch Plätzchen und Kekse auftreiben, um es den Männern so schön wie möglich zu machen. Schließlich weiß sie wie ich, um die Härte dieses Berufes.
Als Steffi verschwunden ist, bekomme ich nur noch mit, wie Schürmann mit wuchtigen, breitbeinigen Schritten zu seinen Männern stampft, immer wieder in die Runde unseres Gartens zeigt. Mal hierhin, mal dorthin, mal auf diesen Busch, mal auf jenen Baum und die Befehle „Ab!“, „Ab!, „Wech!“, „Raus!“ ausgibt. Die Männer nicken stumm. Auch sie haben verstanden.
Nach der Kaffeepause mit Gebäck soll es dann losgehen.
„Dann wommwema!“, sagt einer der rauen Burschen.
„Dann wommwema!“, das ja eigentlich „Dann wollen wir mal!“ heißt (das Verb loslegen oder ähnlich wird hier still ergänzt), kommt ja aus der Sauerländischen Sprachfamilie der Aufforderungsformeln. Genauer gesagt aus der Dreiergruppe „Wommwema - Sommwema? - Lasswema!“. Wobei Wommwema der positiv aktivierende und sogar gute Laune verbreitende Startschuss eines bereits feststehenden Vorhabens darstellt. Sommwema? meint im Grunde das Gleiche, ist aber, leicht ironisch, als Frage formuliert. Natürlich geht es jetzt los, aber man tut so, als gebe es da noch eine Entscheidungsmöglichkeit für die lieben Kollegen. Und Lasswema! ist eindeutig die stärkste Formel dieser Gruppe, weil man sie einsetzen muss, wenn eventuell die Befürchtung besteht, dass einige der Mitarbeiter noch abspringen könnten. Und dat geht ja nich! De Aabeit muss ja gemacht werd’n.
Ja, so geht Sauerländisch.
Der Lieferwagen wird also ausgeladen - Wommwema hat gereicht - und wird dann mit zweien der Männer noch mal weggeschickt.
„Un drückt auffe Tube, ihr Heiopeis!“
Der verbliebene Rest der Männer beginnt schon mal, die eindrucksvollen und vielzähligen Gerätschaften in Stellung zu bringen. Toll. Das sind Maschinen!
Ich habe mir einen gemütlichen Platz hinter der Terrassentür gesucht und meinen Sessel da hin geschoben, um alles beobachten und kontrollieren zu können. Max holt sich den zweiten Sessel und setzt sich neben mich. Das könnte besser werden als D-MAX.
Es regnet heute tatsächlich nicht. Ein schöner Tag, um ein wenig im Garten zu arbeiten.
Die Schlacht beginnt mit einer Kettensäge. Wrooouuum! Ein tolles Geräusch, das uns beiden sehr imponiert. Ich sollte bei meinem nächsten Baumarktbesuch unbedingt mal auf die Angebote im Kettensägensegment achten. Das gefällt mir. Das ist ja schon mal etwas ganz anderes, als meine mickrige elektrische Heckenschere, die ja auch schon ein wenig Kahlschlag anrichten konnte. Aber mit solch einer Mördersäge … Ich hoffe, ich habe die Elektrische auch wieder gut weggepackt, dass keiner dieser Männer sie irgendwo entdeckt und darüber herzlich lachen kann.
Der Busch, denn ich vorgestern schon fast niedergerungen hatte, hat als erster verspielt. Wrooouuum! Wrooouuum! Alles ab. Der verbliebene Wurzelstumpf wird mit ein, zwei wuchtigen Spatentritten ausgegraben, und wir haben an dieser Stelle schon eine Menge Platz gewonnen. Ich sehe den Weg nach draußen, die Freiheit. Auch Max zeigt sich beeindruckt. Ein tolles Schauspiel. Dann kommt der nächste Busch.
Steffi gesellt sich jetzt, aufgeschreckt durch die ungewohnten beängstigenden Geräusche zu uns, steht jetzt neben meinem Sessel und hält sich die Hände vor den Mund.
„Was machen die denn da?“, fragt sie entsetzt und will sofort rauslaufen, um den Männern Einhalt zu gebieten.
„Lass die doch mal, Steffi. Die wissen schon, was sie tun. Das sind schließlich Fachkräfte. Und du hast ihnen doch eindeutig gesagt, was gemacht werden soll, oder? Exaktes Briefing, wie ich dich kenne.“
Steffi ist etwas verunsichert und wirkt eingeschüchtert.
„Sieh doch mal, Steffi, da, wo vorgestern noch dieser Busch war, ist jetzt freie Sicht nach draußen. Das ist doch schon mal sehr schön. Wir werden wieder atmen können, neue Aussichten haben, ein neues Leben anfangen.“
Sie zuckt zusammen, als gerade eine zweite Kettensäge anspringt und einer der Männer auf einer langen Leiter sich an einem besonders dicken Ast der Eiche zu schaffen macht. Er balanciert ganz oben auf dem wackeligen Ding und hält sich noch nicht einmal fest.
„Pass bloß auf, du Tuppes da oben!“ und „Schnauze!“, ruft man sich fröhlich zu. Ja, so macht die Arbeit Spaß.
Max zeigt voller Begeisterung auf diesen todesmutigen Mann im Baum. Steffi jedoch scheint noch nicht so recht an eine Verbesserung ihrer Lebensqualität durch marodierende, wilde Männer zu glauben. Der Ast fällt krachend auf den Rasen, den ich auch mal wieder mähen müsste.
„Siehst du Steffi? Licht! Luft! Das wolltest du doch.“
Sie zieht sich nachdenklich in die Küche zurück.
Dann kommt ein Lastwagen der Firma Schürmann, der einen Hubwagen zieht. Er muss leider durch die Ecke mit den Forsythien fahren, weil er sonst nicht aufs Gelände kommt. Na gut. Der gewaltige Schredder steht noch auf der Ladefläche und ein kleiner Bagger rollt gerade herunter. Toll. Wat ‘n Apparillo!, wie der Sauerländer sagen würde. Was die alles haben! Ich hole mir jetzt auch einen Kaffee, bringe Max eine Cola Zero mit und wir sind gespannt, wie es weitergeht.
Mit dem Hubwagen, der tiefe Spuren im Rasen hinterlässt und ein paar Terrassenplatten platzen lässt, ist es ganz einfach, die obersten Äste der alten Eiche zu erreichen und mühelos abzusägen. Auch sie landen krachend auf dem Rest des Rasens, der sich langsam in eine Art Kraterlandschaft verwandelt. Vielleicht muss ich ihn nie wieder mähen. Einer der Männer sieht sich den soeben abgesägten Stumpf an und schüttelt den Kopf. Was mag das zu bedeuten haben? Die anderen aber haben ihren Spaß und Schürmann brüllt Befehle über den Schlachtenlärm.
„Haut wech, die Scheiße!“
Steffi wagt noch einen letzten scheuen Blick aus der Küche, weil sie das Krachen, Stechen, Hauen und Gebrülle nicht mehr überhören kann, und sie tut mir wirklich leid.
„Steffi, Max“, sage ich und erhebe mich aus dem Sessel, „lasst uns mal einen schönen langen Spaziergang machen. Hmm? Was haltet ihr davon?“
Max hält nichts davon und will auf jeden Fall bleiben, aber Steffi nickt still. Wir ziehen uns also ein paar wetterfeste Sachen an und gehen los, ohne uns noch ein einziges Mal umzudrehen. Das Krachen, Heulen, Brüllen, Kreischen und Ächzen lassen wir einfach hinter uns.
Der Wald hat was. Ja, das habe ich immer gesagt, es ist wunderschön in so einem Wald. Dieser Wald, der recht nah an unserem Haus wächst, ist fast ein richtiger Urwald. Hier wird nicht viel gemacht. Eigentlich nichts. Ein schmaler, verträumter Weg führt uns an abgebrochenen Ästen und umgestürzten Bäumen vorbei in eine Zauberwelt aus Grün und Braun. Vögel singen, und andere krächzen, es raschelt im Gebüsch und sogar zwei Rehe können wir zwischen den Bäumen flüchten sehen. Hier kommt die Seele wieder ins Gleichgewicht. Das ist Natur, wie wir sie lieben. Ja!
Auch Steffi ist schon nach kurzer Zeit einigermaßen erholt und wirkt schon viel gefasster. Wir gehen noch ein, zwei Kilometer weiter, bis sie dann doch wieder etwas unruhig wird und sagt: „Lass uns mal wieder zurückgehen, Alex, sonst reißen die auch noch das Haus ab.“
Aber sie kann schon wieder lächeln. Also wollen wir doch mal nachsehen, wie weit die Männer sind.
Als wir unsere Besitzung erreichen, hat das Wüten und Morden aufgehört, es ist relativ still und nur der riesengroße Häcksler tut seine vernichtende Arbeit. Die Männer stopfen lachend und rauchend Äste und Gehölz in ihn hinein, und oben heraus kommt feines Sägemehl, das direkt auf die Ladefläche des Lasters befördert wird.
Wir sehen uns ungläubig um, und wenn wir nicht unser Haus, Herrn Schürmann und auch Max wiedererkennen würden, der jetzt hier mitten unter den harten Männern steht und mit ihnen lacht, aber zum Glück nicht raucht, dann würden wir denken, wir sind hier auf der falschen Baustelle.
Das ist nicht mehr unser Garten.
Der Rasen ist völlig verschwunden, er ist nur noch ein schlammbrauner Acker, weil man ihn mit einem Vertikutierer völlig umgewühlt hat.
„Damit dat Moos rauskommt, un datter wieder atmen kann, ja?“, sagt Herr Schürmann dazu.
Ah so. Das Moos. Aas klar. Die Kirschlorbeerbüsche sind gar nicht mehr vorhanden.
„Die wuchern ja nur alles zu. Dat blöde Kraut. Bringt ja nix.“
Zwei Fichten fehlen, keine Spur mehr irgendwelcher Blumen, … und die dicke Eiche ist gefallen.
„War innen total verfault. Totaler Schrott!“, sagt Herr Schürmann dazu. „Die wär Ihn‘n spätestens in eim‘ Jahr aufs Haus gefallen.“
Ah ja. Na, dann: weg damit! Danke auch.
Und der kleine Bagger hat ein recht tiefes nierenförmiges Loch mitten in unseren Garten gegraben, das sich schon langsam mit etwas Grundwasser füllt.
„War nur sonne Idee von mir, ja“, sagt Schürmann, „bin ja auch Gartengestalter, ja? Könnte doch ‘n schöner Teich werd‘n, woll. So ’ne größere Pfütze. Da stehder doch alle drauf, oder? Die Leute sin verrückt nach Teiche.“
Ja, ja, stimmt. Gute Idee eigentlich.
„Könn ’we aber auch wieder zuschütt’n, den Tümpel, wenn Se woll‘n.“
Ich weiß es nicht. Teich?
Steffi und ich sehen uns an und können noch immer nicht begreifen, wie an einem halben Tag sich im Leben so viel verändern kann.
Steffi hat, glaube ich, ein paar Tränen in den Augen - das kann aber auch vom Sägemehl kommen - und scheint zutiefst zu bereuen. Alles.
Als Schürmann bemerkt, dass unsere Stimmung momentan alles andere als euphorisch oder sogar voller Dankbarkeit ist, wie er es vielleicht erwartet hätte, sagt er nur: „Ach, dat sieht im Moment alles bisken wild aus, aber spätestens in eim‘ Jahr is‘ alles widder so wie vorhär. Glaum Se mir.“
Alles so wie vorher. Ja, dann hat es sich doch gelohnt.
Vielen Dank, Herr Schürmann!
Dritte Sauerländer Weisheit:
Is‘ dat Grüne ers‘ ma‘ hin
macht der Garten wenig Sinn