Читать книгу Hannah von Bredow - Reiner Möckelmann - Страница 7
Kindheit und Jugend im goldenen Zeitalter
Оглавление„Sie loben freundlicherweise mein Wissen, das nicht mein Verdienst ist; ich verdanke es der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, den Gesprächen, die ich angehört habe, den Menschen, die in Schönhausen und Friedrichsruh aus- und eingingen.“
(Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 193, Potsdam, den 29. Dezember 1932)
Hannah von Bredow kam als erstes Kind ihrer Eltern Herbert Fürst von Bismarck und seiner Frau Marguerite, geb. Gräfin Hoyos, am 22. November 1893 in Schönhausen im Elbe-Havel-Land zur Welt. Zur Enttäuschung der Eltern war sie als erstes Kind nicht der sehnlichst erwünschte männliche Stammhalter, wie Mutter Marguerite später gestand: „Bevor Du geboren wurdest, hatte ich die felsenfeste Überzeugung, dass Du nur ein Sohn sein könntest, und von der ersten Stunde der Gewissheit über meinen Zustand an bis zum Moment Deiner Geburt habe ich nichts weiter getan, als Dich mit Papa zu identifizieren. Ich las nur Bismarckiana und Carlyle.1 Ich zwang mich dazu, alle Zeitungen zu verfolgen, ich sah Dich als Held, Führer, als Staatsmann vom Format Deines Großvaters, und ich aß Unmengen von Kartoffeln, weil ich das ein männliches Gemüse fand. Wir nannten Dich nur Otto, wenn wir von Dir sprachen und dann kam der unvergessliche Bußtag, an dem Du alle unsere Berechnungen über den Haufen warfst.“
Der ebenfalls im Schloss Schönhausen geborene und mittlerweile auf dem Alterssitz in Friedrichsruh lebende Großvater Otto Fürst von Bismarck zeigte sich im Jahre 1893 nachsichtiger – sein Sohn Herbert, Hannahs Vater, war ebenfalls nicht der Erstgeborene seiner drei Kinder.
Herbert von Bismarck hatte die 22 Jahre jüngere Marguerite Gräfin Hoyos, die aus dem seinerzeit habsburgischen Fiume stammte, im Juni 1892 geheiratet. Er war bei der Eheschließung bereits 43 Jahre alt. Elf Jahre hatte er benötigt, um über die im Jahre 1881 beendete zweijährige Liaison mit der Fürstin Elisabeth Carolath, geb. Gräfin Hatzfeld-Trachenberg, hinwegzukommen. Vater Otto hatte seinen Sohn, der als Botschaftsrat in London wirkte, mit ultimativen Forderungen von seinen Heiratsplänen mit der zehn Jahre älteren, geschiedenen und zudem katholischen Fürstin abbringen müssen. Die „Affäre Elisabeth“ belastete Herbert von Bismarcks Ehefrau Marguerite lebenslang.
Kennengelernt hatten sich Hannahs Eltern Ende 1887 anlässlich einer Verlobung in Berlin. Marguerite lebte, 16-jährig, noch in Fiume, wo ihr Vater, zusammen mit seinem Schwiegervater Robert Whitehead, dem englischen Erfinder des Torpedos, Teilhaber der Firma Fiume Whitehead & Co war. Sie war sofort von Herbert von Bismarck eingenommen und schilderte ihrer Tochter die erste Begegnung: „Er hatte etwas sehr Warmes und Herzliches in seiner Art, seine Stimme war mächtig, sein Lachen von einer Herzlichkeit, die einen wärmte. Er erschien mir als eine überwältigende Persönlichkeit, absolut der Mittelpunkt jeder Gesellschaft.“ Die Ehe war harmonisch und glücklich, währte aber nur bis zum 18. September 1904, dem Todestag von Herbert von Bismarck.
Hannah von Bredow liebte und bewunderte ihren Vater, auch wenn er später in Friedrichsruh gegen Depressionen und den Alkohol zu kämpfen hatte, aufbrausend und jähzornig sein konnte und die Kinder bisweilen schlug. Sie wusste sich ihm eng verbunden: „Da die Gedankengänge, die Einstellung zu den Menschen, die Auffassung über all die ganz wichtigen Sachen im Leben sich vollkommen deckten, so deckten, dass ich schon als ganz kleines Kind genau wusste, wie er auf gewisse Sachen reagieren würde, ist es unmöglich zu verheimlichen, dass diese Erfassung aller Schattierungen aus Ähnlichkeiten stammt.“ Nur bis zu ihrem elften Lebensjahr erlebte Hannah ihren Vater. Sein unerwarteter Tod mit nur 55 Jahren war ihr unbegreiflich: „Er war weg, ausgelöscht, sein herzlich warmes Lachen, seine Witze, sein ganzes sonniges Wesen blieben unersetzlich.“
Im August 1904 hatte ihr Vater Hannah als einzigem Familienmitglied offenbart, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Ihrem Tagebuch vertraute die elfjährige Hannah am 6. August 1904 an: „Heute bin ich geritten. Heute hat Papa mich nach dem Essen gerufen: Ich werde es Dir sagen. In ein paar Wochen gehe ich von Euch. Ich kann nicht das erleben: Schande, Unehre für Deutschland. […] Oh Gott, Gott, bitte, bitte, bitte nicht.“
Herbert von Bismarck, ein unermüdlicher Verfechter enger deutsch-britischer Beziehungen, musste Anfang April 1904 erleben, dass die Bemühungen Großbritanniens um einen Bündnisvertrag mit dem Deutschen Reich gescheitert waren. England und Frankreich beendeten daraufhin ihre Spannungen mit der „Entente cordiale“, welche später um die Tripelentente mit Russland erweitert wurde. Mit Sorge verfolgte Herbert von Bismarck die deutsche Außenpolitik nach dem Rücktritt seines Vaters im März 1890. In den 1870er-Jahren hatte Herbert als Privatsekretär seines Vaters gewirkt und war 1885 zum Unterstaatssekretär sowie im folgenden Jahr zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts ernannt worden.
Verbittert stellte Herbert von Bismarck im Deutschen Reich politische Leichtfertigkeiten und Versäumnisse fest: Den russischen Antrag auf Verlängerung des Rückversicherungsvertrags wies die Reichsführung wenige Monate nach Otto von Bismarcks erzwungenem Rücktritt im Sommer 1890 zurück. Eine massive antibritische Propaganda des Deutschen Flottenvereins und des Alldeutschen Verbands setzte ein, und die neue Flottenpolitik Wilhelms II. stand ganz im Zeichen des Strebens nach Weltmacht. Bezeichnend war die Äußerung von Reichskanzler Bülow, der 1897 als Außenminister erklärte: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.“
Die politische Einschätzung ihres Vaters übernahm die 17-jährige Hannah, als sie im Jahre 1911 ihrer Tante Lily von Reventlow-Criminil, geb. Hoyos, in Wien den Inhalt eines Gesprächs mit einem älteren, gräflichen Verehrer bildhaft darstellte: „Wir haben auf den Kaiser und seine Katastrophenpolitik geschimpft, und ich habe dem Grafen gesagt, dass wir in 10 Jahren hier eine ganz nette, ordentliche Revolution mit allem Zubehör haben werden, wenn nicht jemand Bethmann rechtzeitig entlässt, Tirpitz zum Teufel jagt und den edlen Willy nach der Osterinsel zum Studium der Götzenbilder verschickt.“
Hannahs Hoffnungen erfüllten sich nicht: Admiral Alfred von Tirpitz trat erst im März 1916 in den Ruhestand, und Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg wurde nicht eher als im Sommer 1917 zum Rücktritt gezwungen. Die Revolution dagegen kam drei Jahre früher, als Hannah gedacht hatte, und erst dann wurde Wilhelm II. ins holländische Doorn verbannt. Die ehrenvolle und hoch geschätzte Einladung des „edlen Willy“ zur Schiffstaufe in Hamburg und zur Kieler Woche im Jahre 1914 änderte nichts an Hannah von Bredows Einstellung zu ihm. Auf Landwirtschaftsvokabular zurückgreifend und mit Blick auf die drohende Machtübernahme Hitlers stellte sie am 27. Januar 1933 in wenig anerkennender Weise fest: „Emperor’s birthday – we owe him all this muck-heap.“
Zu England gab es in der Familie Bismarck nicht nur durch Marguerites Großeltern Whitehead enge familiäre Bindungen. Herbert von Bismarck verband auch eine vertraute, lebenslange Freundschaft mit Archibald Philip Primrose, dem 5. Earl of Rosebery. Der englische Staatsmann war Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre Außenminister sowie von 1894 bis 1895 Premierminister. Seine Frau Hannah, Tochter und Erbin des Barons Mayer Amschel de Rothschild, war im Jahre 1890 gestorben.
In Gedenken an den frühen Tod der Frau seines Freundes Archibald benannte Herbert von Bismarck seine Erstgeborene nach ihr. Hannah äußerte sich nur verhalten zu ihrer Namensgeberin, die als wenig attraktiv, geistlos und übergewichtig beschrieben wurde. Die Freundschaft Herbert von Bismarcks mit Randolph Churchill, dem Begründer der modernen konservativen Partei und Vater des späteren Premiers Winston Churchill, bemühte Hannah von Bredow andererseits im Juli 1945, um über diesen ihre Ausreise in die Schweiz zu erreichen.
Ihren Großvater Otto von Bismarck sah Hannah bis zu ihrem fünften Lebensjahr nur besuchsweise. Erst nach seinem Tod zog ihre Familie von Schönhausen nach Friedrichsruh um. Lebenslang beschäftigte Hannah sich aber mit dem Großvater und verfolgte alle Publikationen, die sich mit seinem Leben und Wirken befassten. Als Kind hatte die Enkelin sich, dem Familienbrauch folgend, mit ihrem sprachbegabten Großvater in Englisch oder in Französisch, der Sprache der Diplomatie, zu unterhalten. Dieser Tradition war Hannah insofern gewachsen, als sie bereits in früher Kindheit von einer englischen Nanny und französischen Demoiselle in diesen Sprachen unterrichtet worden war. Hannahs Eltern redeten mit ihr erst ab ihrem vierten Lebensjahr regelmäßig deutsch. Auch Auslandsaufenthalte in England und Frankreich trugen dazu bei, dass Hannah später die beiden Fremdsprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte. In der guten Tradition ihres Großvaters schrieb sie längere Passagen ihrer Briefe an Sydney Jessen in Englisch oder Französisch, bisweilen angereichert durch Zitate aus Werken von Shakespeare oder Racine.
Was das Lernen anging, erklärte Mutter Marguerite der erwachsenen Hannah von Bredow später: „Ich finde es nur gut, wenn ein Mädel viel lernt, besonders auch Latein und Griechisch, je mehr sie arbeitet, desto weniger neigt sie zu dummen Ideen. Ich habe ja auch rasend gelernt, aber leider, leider nicht die alten Sprachen, und Du ahnst nicht, wie das Latein z.B. mir an allen Ecken und Enden fehlt. Ich komme mir ganz verloren vor und beneide Dich um Deine Kenntnisse.“
Hannah von Bredow musste ihre Mutter allerdings daran erinnern, dass diese früher die humanistischen Interessen der Tochter abgelehnt hatte und sie „diese Lateinstunden Bitten gekostet“ hätten. Vorwurfsvoll ergänzte Hannah, dass sie „ganz allein ohne Hilfe Latein gelesen, übersetzt und geschrieben“ habe, weil „Du mich immer wieder hindertest, genau wie mit der Matura, die Du mir an meinem 12. Geburtstag fest versprochen hattest und unter dem Vorwande ‚a lady does not compete with the rabble‘ zu einem unerfüllten Traum werden ließest.“
Die unterschiedlichen Bildungsvorstellungen von Mutter und Tochter schildert Hannah von Bredow im Jahre 1929 ihrem vertrauten Briefpartner Sydney Jessen anhand eines bezeichnenden Dialogs mit ihrer Mutter: „Weißt Du noch, wie Du mir sagtest: ‚Wen liebst Du mehr, mich oder das dumme Examen?‘ Und ich antwortete: Das ist kein Vergleich, worauf Du mir sagtest: ‚Mit 17 1/2 Jahren muss man seine Weltstellung im Auge haben, wenn man eine Frau ist, und gebildete Mädeln sind beliebt, aber studierende basbleus verhasst. Lass’ es mir zu lieb.‘ Wusstest Du das noch? Und wie ich dann nach Wien fuhr und aus Bock nach den Bällen um 5 a.m. bei hellem Sonnenschein nicht ins Bett ging, sondern Virgils Aeneis lernte, just to show myself that I was a free agent, subject to nothing! Darauf lachte sie [die Mutter] und sagte: ‚Ja, jetzt wäre ich froh, wenn Du Deinen Willen durchgesetzt und studiert hättest, wer weiß, ob du dann nicht heute eine andere Position hättest.‘“
Genauso wenig wie im Jahre 1910 dürfte Marguerite von Bismarck jedoch auch im Jahre 1929 ernsthaft daran gedacht haben, dass ihre Tochter Hannah ihr beachtliches Talent für Klavierspiel und Gesang in einer künstlerischen Karriere ausleben oder angesichts ihrer ausgeprägten geschichtlich-politischen Interessen einen wissenschafts- oder politiknahen Beruf ergreifen könnte. Nach dem Tod ihres Mannes Herbert hatte Marguerite von Bismarck die 13-jährige Hannah bereits mit verantwortungsvollen Aufgaben in Haus und Hof betraut. Diese Erfahrung und Hannahs breite Bildung sollten ihr aus Sicht der Mutter eine „gute Heirat“ ermöglichen und die Grundlage für ein ausgefülltes Leben als Ehefrau und Familienmutter bieten.
Hannah von Bredow entsprach aber nicht dem Rollenbild, welches ihre Mutter einer adligen jungen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuordnete. Für eine adlige weibliche Normalbiografie fehlten Hannah die idealen Eigenschaften einer bloßen Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Die Grundlagen für ihr nichtkonformes Wesen legten indessen aber gerade die Familien der Bismarcks und der Hoyos’, in denen Hannah „von Kindheit auf unter Leuten, denen gründliches Wissen auf möglichst vielen Gebieten als unerlässlich für eine sogenannte gute Erziehung galt,“ lebte.
Und weiterhin erklärt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im Jahre 1936 zu ihren prägenden Erfahrungen: „Sei es nun in Österreich oder in Deutschland, immer waren auf den paar Gütern, die ich besser kannte, im Sommer Gelehrte, Künstler oder Musiker zu Gast, immer wurde ‚schöne Konversation‘ gepflegt oder etwas ‚getrieben‘, von den städtischen Wintern ganz zu schweigen. Als ich 16 war, nahm meine Mutter zum ersten Mal wieder eine Wohnung in Berlin und widmete sich dem Problem unserer Allgemeinbildung. Dauernd kamen Leute, die man heutzutage ‚geistig prominent‘ nennen würde, zu den Mahlzeiten, dazu gesellten sich Vorträge an der Universität (so fürs Volk ohne Abitur), in Museen etc.“
So wusste Polly, Gräfin von Plessen-Cronstern, geb. Hoyos, ihrer Schwester Marguerite im Sommer 1911 über Gespräche der 18-jährigen Nichte Hannah in Wien mit ihrem Mann Ludwig zu berichten: „Ludwig und Hannah sind nur große Politik und sonst nichts. Die Debatten gehen stundenlang, Ludwig ist selig: ‚Ganz Herbert‘, meinte er neulich.“
Prägend für Hannahs Rolle als gesellschaftliche „Außenseiterin“ war auch der Umstand, dass die häufig kranke und bettlägerige Marguerite ihrer Ältesten nach dem frühen Tod von Herbert die Rolle des Familienoberhaupts übertrug. Wie erwähnt hatte Hannah schon mit 13 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben in Haus, Hof und Forst sowie für das Personal wahrzunehmen. Bereits in diesem Alter zeigte sie Selbstvertrauen und Resolutheit, obwohl weitere prägende Erfahrungen eher für Scheu und Zurückhaltung sprachen.
Von Geburt an war Hannah auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge hatte sie eine stark reduzierte Sehkraft. Aus kosmetischen Gründen entfernte man einen Star, der das rechte Auge bedeckte, als sie vier oder fünf Jahre alt war. Außerdem hatte sie ein auffälliges rotes Muttermal am linken Unterarm, welches im Alter von sieben Jahren beseitigt werden sollte. Das erschreckende Ergebnis war, dass „der ganze Arm mit dem Rasiermesser ohne Anästhesie geschält“ wurde und auf der gesamten Länge eine rote Narbe hinterließ.
Lebenslang trug die modebewusste und elegante Hannah von Bredow Handschuhe und langärmelige Kleider. Mit eisernem Willen machte sie das Beste aus ihren körperlichen Defiziten. Von Kindheit an war sie so erzogen worden, „dass das, was mich so sichtbar von allen anderen Menschen äußerlich unterschied, an sich belanglos sei und niemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde.“ Frühzeitig wurde ihr gesagt, „dass man es, um keine unnützen Fragen zu erwecken, und um die Menschen nicht zu stören, immer soweit verstecken würde, wie das durch Kleidung unauffällig möglich sei. Auf Fragen sollte ich ungeniert Antwort geben, da es nichts Böses, Ansteckendes oder Krankhaftes sei.“ Ihre Sehschwäche brachte es mit sich, „dass ich notgedrungen nach Stimmen, Händedrücken, Bewegungen gehen muss, weil bei mir das Auge ausscheidet.“
Hannahs körperliche Schwächen waren häufig Gegenstand von familiärem und gesellschaftlichem Klatsch. Sie stellte sich bald darauf ein: „Im Gegensatz zu meinem Vater habe ich die dickste Haut, die je ein Mann, eine Frau oder ein Kind hatte. Wenn einem ein über Alles bewunderter Vater von jeher das ‚don’t show your feelings‘, oder ‚grin and bear it‘, oder ‚smile, while your heart is breaking‘, oder ‚where’s your grit?‘ als Grundlage aller Lebenshaltung bezeichnet, wenn diese Erziehung später eisern fortgesetzt wird, kann man nicht anders, als sie anerkennen.“
Angesichts ihrer Sehschwäche schärfte Hannah ihr Gehör und schulte ihr Gedächtnis. Beides gelang ihr in außergewöhnlichem Maße, sodass sie in der Lage war, in ihren Briefen lange Gesprächsdialoge wiederzugeben. Ein Rätsel bleibt dennoch, wie sie es schaffte, ihr tägliches Leben ohne Brille zu bewältigen und mit sehr eingeschränkter Sehkraft unzählige Briefe zu schreiben und auch noch zu reiten. Nur im Kino oder im Theater trug sie eine Brille.
Den Verlauf ihres ersten Lebensjahrzehnts beschreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Ende des Jahres 1936 in knapper und plastischer Form: „Schönhausen – Berlin – Fiume-Sooß – Schönhausen – Berlin (immer im Winter bis auf 1903, wo wir in Fiume waren), Ende 1905 endgültiger Umzug nach Friedrichsruh, dessen Neubau vollendet war. Eine wohl ungewöhnlich glückliche, wenn auch wegen Misshandlungen durch Schweizerinnen ebenfalls ungewöhnlich gestörte Kindheit. Dazu eine tödliche Krankheit, weil die eine Démoiselle mir Gift gab (sie kam ins Irrenhaus, die berühmte Sadistin, der Clare Sheridan in ihrer „Nuda Veritas“ ein Denkmal setzte). Dazu auch ewige Behandlungen meiner Hand, meines Armes etc. und sehr, sehr viel Unterricht in drei Sprachen, ebenfalls sehr viel Reiten. Nothing could damp my joie de vivre.“
Hannah von Bredows zweites Lebensjahrzent erfährt eine ausführlichere Beschreibung: „Bis auf den Schock von Papas Tod (1904), vom Tod meines sehr geliebten Großvaters Hoyos (beide starben drei Wochen voneinander entfernt) wohl meine vollkommen glücklichste Zeit … Dann kam der erste Versager. Ich wollte à tout prix, da ich mit 15 Jahren schon Primareife ohne Griechisch hatte, das Abitur in Hamburg machen, hätte dafür täglich hereinfahren und eine Schule besuchen müssen und das war ein unfasslicher Gedanke. Ich schob es also auf, bis 1910, wo ich 17 wurde; und da war ich den ganzen Sommer in Nehmten mit den Geschwistern, auch in Sirhagen, machte Kochkursus etc. und lernte wie eine Besessene bis nach Mitternacht alles, was für ein Gymnasium in Frage kam. Dann ließ mich Mama im November nach Wien kommen, wo sie in einem Sanatorium war und kleidete mich ein. Aufgalopp: Weekend-Party bei Auerspergs in Goldegg, bei Rohans in Albrechtsberg, Aufenthalt in Sooß, …“
Das Leben der 18-jährigen Hannah nahm dann weiter an Fahrt auf: „Winter 1911 in Berlin, Gasthörer auf der Universität, Hörer bei Wölfflin, Harnack, Erich Schmidt, massenhaft Gelehrte im Haus, Tanzstunde und als Abschluss schwere Masern. Ich verlor meine Haare, die in unerhörten Mengen vorhanden gewesen waren, und damit wohl, wie Samson, meine Energie.2 Denn ich versuchte noch einmal mit Mama das Abitur zu erreichen und sie erklärte mir, dass ich sie und die ganze Familie unglücklich machen würde, wenn ich nicht zu O’mama nach Wien ginge und die Spring Season mitmachte. Ich gab also nach und tanzte Nacht für Nacht in Wien, mit Hochgenuss, mit Vergnügen, mit einer immer steigenden Liebe zu sehr alten Männern, oh sehr, sehr alt, so 70 oder mehr, und ich wurde zu allen Dîners der Botschaften eingeladen, verließ alle ‚Comtessenfeste‘, lebte auf den Botschaften aller Länder, vergaß Abiturwünsche, las, las, las wie ein Narr alles Historische, alles Politische, alles was ich bekommen konnte und kam in ein wahres Feuer der Begeisterung. Als ich im Juli heimkehrte, war ich mir über eines klar, dass ich noch mehr Menschen kennen lernen und vor allem nach England fahren müsse.“
Hannah nutzte ihr Startkapital der drei Vater- bzw. Mutterländer Deutschland, Österreich und England bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 bei vielen Reisen und Verwandtschaftsbesuchen: „Das Leben wurde wirklich besser und besser, ich hatte das absolute Gefühl, dass es nur nette Leute gäbe, darunter amüsante und langweilige, aber im Grunde nur nette.“ Im Winter 1913 erlebte sie, 19-jährig in Berlin, „was man einen atemberaubenden Winter nennt, das kam durch das ‚double life‘. Denn ich machte alle Bälle für die Jugend und alle Dîners und Lunches für die Würdigen mit …“
Die ersten „Heiratsredereien“ kamen auf, „aber keine Verlobung, nur ein erpichter älterer Witwer, den ich sehr unterhaltend fand, und der für Tante Polly so reizend war. Dann 1914 im Sommer nach Kiel das letzte Fest in Friedrichsruh mit drei Männern, die Mama eligible fand, und die mich langweilten und mit dem Witwer, der so besonders gut tanzte und der mir so leidtat, wegen des mir unbekannten Kindes.“ Der gute Tänzer war Leopold von Bredow, den Hannah am 15. März 1915 heiratete.
Die Monate zuvor, besonders der Sommer 1914 in Kiel, bildeten zweifellos Höhepunkte im jungen Erwachsenenleben der Hannah von Bredow, einen unternehmungsreichen Ausklang der Jahre einer Junggesellin. Hannahs Tagebuch vom 14. März bis 21. Juni 1914 gibt auf über 100 engbeschriebenen Seiten erschöpfend Auskunft über diese bewegte Zeit mit nahezu täglichen Ortswechseln: „Berlin – Friedrichsruh – Nehmten – Friedrichsruh – Wien – Friedrichsruh – Victoria-Louise (Kiel) – Friedrichsruh – Marutendorff – Friedrichsruh – Schönhausen – Berlin – Friedrichsruh – Brandenburg und wieder Friedrichsruh – Heidelberg.“
Die turbulenten Monate begannen mit einer Einladung der preußischen Kronprinzessin Cecilie ins Russische Ballett im Berliner Kronprinzenpalais. Hannah fühlte sich „wohl und ganz hoheitlich“. Minutiös beschreibt sie die Garderobe, das Gebaren und die Eigenheiten einzelner Hofadeliger. Weniger hoheitlich erschien ihr indessen das Pausenbuffet in Gestalt von „Esswaren, bei denen roher Lachs und Sardellen, sowie Heringe und Salzgurken prädominierten; sie gaben einen penetranten Geruch von sich, der durch einige Käsebrote noch vermehrt wurde.“
Akribisch vermerkt Hannah ihre „sämtlichen Engagements“ bei den insgesamt 28 Bällen im Winter 1914, beginnend mit einem Ball im Hause des Diplomaten Carl von Schubert am 25. Januar und endend mit dem Kronprinzen-Ball am 18. März. Ebenso detailliert listet sie mit Namen die „ausgehenden Mädeln im Winter 1914“ ebenso auf wie die „jungen Frauen und jungen tanzenden Herren“, angefangen bei denen des Gardes du Corps über die Brandenburger Kürassiere bis zu den Diplomaten und Referendaren. Schließlich finden sich in ihrer Liste auch „untätige, wenig anziehende Leute, die manchmal auftauchten“.
Der Ballsaison in Berlin ließ Hannah einen einmonatigen Aufenthalt in Wien bei ihrer Großmutter Alice Hoyos, geb. Whitehead, folgen. Hier standen Theater- und Konzertbesuche, die Teilnahme an Sportveranstaltungen, Tanz- und Gartenfesten sowie Einladungen zu Frühstück, Mittag- und Abendessen in Gesellschaft von Wiener Prominenz im Mittelpunkt. Schließlich erreichte sie die Einladung zur Schiffstaufe der „Bismarck“ am 20. Juni 1914 in Hamburg.
Diese Einladung, ausgesprochen gegenüber Marguerite von Bismarck und den vier älteren Kindern, kam nicht von irgendwem, sondern von Kaiser Wilhelm II. persönlich. Hannah wurde nicht nur die Ehre der Einladung zuteil, des Kaisers Wunsch war vielmehr, dass Hannah „die Flasche schwingen und die Taufe vollziehen“ sollte. Nachdem die Flasche bei den Worten „auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers taufe ich dich ‚Bismarck‘“ unversehrt geblieben war, trat seine Majestät persönlich in Aktion. Er ergriff die Magnum von Kupferberg Gold und „schleuderte sie mit solcher Kraft und Geschicklichkeit gegen das Schiff, dass sie in tausend Stücke flog“. Hannahs Verlegenheit dämpfte er mit der Bemerkung: „Herren verstehen sich besser auf Sekt wie Damen, was?“
Im Anschluss an die Schiffstaufe in Hamburg konnte sich die Taufpatin Hannah gleich einer weiteren kaiserlichen Einladung erfreuen. In ihrem ausführlichen Tagebuch über dies Ereignis vermerkt sie: „Ich habe mir immer gerade das so sehnlich gewünscht, und nun als Kaisergäste auf dem Ballin’schen Schiff Viktoria-Luise, es wird gewiss köstlich.“ Sie und die drei Jahre jüngere Schwester Goedela „bekamen als Kaisergäste wunderbare Kabinen“ und am 26. Juni kamen sie von Hamburg „bei köstlichem Sommerwetter auf der Kieler Förde an“. Am Tag darauf war sie zum Kaiserdiner auf der Staatsyacht Hohenzollern, wo sich der Kaiser ihr mehr als eine halbe Stunde lang widmete: „Er war ganz fabelhaft gut aufgelegt und voller Witze.“
Am 28. Juni 1914 endete das ungetrübte Vergnügen, als Hannah die Kriegsschiffe in der Förde auf Halbmast geflaggt sah: Erzherzog Franz-Ferdinand von Habsburg war tot. Gerüchte, dass der Thronfolger von Österreich-Ungarn in Sarajewo an einem Herzschlag gestorben sei, bezweifelte Hannah sofort und wurde darin bestätigt, dass er einem Attentat zum Opfer gefallen war. „Selbstverständlich wurden alle Festlichkeiten sofort abgesagt“, erklärt Hannah zur ersten Reaktion. Das Attentat war maßgeblicher Auslöser des Ersten Weltkriegs und bedeutete nicht nur für Hannah eine tiefgreifende Zäsur im Leben.
Bis zu ihrem 21. Lebensjahr genoss Hannah auf Ausflügen, Ausritten, Tanzabenden, bei Vorträgen, Konzerten und Theaterbesuchen den Umgang mit den Söhnen und Töchtern der alten Familien des Guts- und Militäradels sowie mit den Spitzen des Groß- und Bildungsbürgertums. Auf Bällen bei Hof und in Botschaften, in hochadligen Palais und großen adligen Salons bewegte sie sich in den Kreisen der alten Hof-, Diplomaten- und Regierungseliten. In den besten Hotels und Restaurants Berlins nahm sie an geselligrepräsentativen Essen teil.
Verbunden mit einer aktiven Besuchspolitik beobachtete Hannah das Gesellschaftsleben in Berlin und dessen Aufstieg zur Kulturmetropole. Ihre Jugend konnte sie im „goldenen Zeitalter der Sicherheit“ (Stefan Zweig) verbringen: Seit ihrer Kindheit herrschte wirtschaftliche Hochkonjunktur, und viele Erfindungen und Entdeckungen wie die Röntgenstrahlen oder das Aspirin wurden gemacht. Das von den Engländern zur Abwehr deutscher Produkte verfügte Kennzeichen „Made in Germany“ wurde zum Gütesiegel. Die Kaiserzeit zeichnete ein nahezu grenzenloser Glaube an die Stärke und glorreiche Zukunft des Deutschen Reiches aus, zumal Literatur, Malerei und Musik in Blüte standen. Der Krieg stellte alles in Frage, und dennoch entschied Hannah im Frühjahr 1915, die Ehe mit Leopold von Bredow einzugehen.