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Die erste Begegnung
ОглавлениеAm Rand des Kraterkegels steht eine Gruppe Halbwüchsiger, vielleicht sieben oder acht Kerle, und beobachten eine Herde Mammute, die geruhsam äsend auf einer Lichtung inmitten des parkähnlichen Urwaldes umhertrotten.
Ein seltener Anblick, der in den vergangenen Jahren nur noch Wenigen vergönnt war, denn aus Gründen, die sie nicht kannten, hatten sich die Mammute in andere Regionen zurückgezogen und waren immer scheuer geworden. Ein wahrer Glücksfall also.
Die Beobachter wissen, dass es nicht lange dauern wird, bis diese Tiere den zarten Bewuchs ringsherum abgefressen haben werden und dann weiterziehen, denn jeder von diesen Riesen verputzt mehrere hundert Kilo am Tag. Nur jetzt bietet sich eine gute Gelegenheit, eines dieser Tiere zu erlegen; später, in der Unwegsamkeit des Waldes wird die Jagd ungleich schwerer, wird die Gefahr größer, selber Opfer zu werden und von der Herde überrannt und zermalmt oder aufgespießt zu werden.
Die Jugendlichen - alle vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, beinahe schon Männer, allerdings fehlen ihnen noch die Mutbeweise und die Rituale, mit denen sie als vollwertige Männer und Jäger in den Stamm aufgenommen werden - wissen, dass irgendwo in der Deckung der Bäume ein Bulle stehen muss, ein einzelnes Tier, das zur Wache eingeteilt ist und sich an dem allgemeinen Fressen nicht beteiligt. Ein wachsamer Bulle, der bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr, mit einem durchdringenden Trompetenlaut die Herde warnen wird. Dann ist es meistens bereits zu spät für den vermeintlichen Angreifer, dann bleibt keine Gelegenheit mehr für einen Überraschungsschlag und selbst der mutige Säbelzahnlöwe mit seinen über vier Metern Körperlänge, seinen riesigen Reißzähnen und seinen dolchscharfen Krallen, würde dann vernünftigerweise die Konsequenz ziehen und auf eine andere, bessere Gelegenheit warten.
Die Jünglinge sind allesamt mit langen Holzlanzen bewaffnet, deren Enden zu Spitzen bearbeitet und anschließend im Feuer gehärtet wurden. Solche Lanzen durchdringen, von einem starken Arm geschleudert, mühelos Schulterblätter und andere Knochen und sind tödliche Waffen in den Händen geübter Jäger.
Die Sprache, mit der sich die Gruppe Menschen verständigt, ist ein kehliger, rauer Dialekt, ein bisschen wie Samojedisch, ein bisschen wie Finnisch/Ugrisch.
Über viele Jahrtausende ständiger Veränderung von Gaumen, Kieferform, Zunge und Kehlkopf war es der menschlichen Rasse gelungen sich nach anfänglicher karger Verständigung nur mit Vokalen und Glucksen und Brustlauten, einer Sprache zu bedienen, die beinahe sämtliche Lautvariationen gestattete.
Die Sprache, in der die Gruppe auf dem Rand des Kraterkegels leise diskutierte, war reich an Nuancen, blumig und vielfältig und kannte bereits mehrere Variationen und Bezeichnungen für Pflanzen und Lebewesen, beeinflusst und geprägt von der Jahreszeit, in der Pflanze, Tier und Mensch gerade lebten.
Vieles dieser Reichhaltigkeit war später wieder vergessen worden, konnte durch Naturkatastrophen nicht bewahrt werden und ist uns nicht überliefert worden.
Vieles von dem, was die Menschen damals bereits kannten, beschrieben, erklärten und erzählten, jedoch nur unzulänglich und nur sehr fragmentarisch durch Schriftzeichen und Symbole weitergeben konnten, ist verloren gegangen und musste von späteren Generationen erneut erdacht und erarbeitet werden.
Die Gruppe diskutiert gerade die beste Strategie, wie man sich der Mammutgruppe nähern solle und welche Jagdtaktik anzuwenden sei. Einer musste als Hauptjäger bestimmt werden, der Mutigste unter ihnen, denn ihm wurde die Ehre übertragen, das ausgesuchte Opfer direkt von vorne anzugreifen, dem Gegner direkt in die Augen zu sehen und mit dem Segen der Götter seinen Speer in den Hals des Tieres zu stoßen.
Die anderen, so war die heutige Taktik besprochen worden, kamen von den Seiten und von hinten und mussten ziemlich zeitgleich ihre Lanzen werfen, nachdem sie das Opfer abgelenkt hatten und aus ihren Verstecken am Waldessaum auf die Mammutgruppe zugestürzt waren, die Verwirrung der Tiere für sich hatten nutzen können und mit mutigem Geschrei die tödlichen Waffen aus zunächst sicherer Entfernung geworfen hatten.
Diesen Moment sollte der Hauptjäger nutzen, nachdem die Lanzen der anderen bereits ihr Ziel getroffen hatten, und sollte dem Opfer den Todesstoß versetzen.
Die Gruppe setzte sich geräuschlos in Bewegung.
Bis zur Herde dort unten auf der Lichtung waren es nur etwa zweitausend Schritte. Der Wind stand günstig, die Mammute würden keine Witterung von ihnen aufnehmen können.
Nach Durchqueren des Geröllfeldes am Fuße des Vulkankraters folgten sie einem Pfad, der für Ungeübte überhaupt nicht zu sehen war. Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging der Anführer jedoch voran und orientierte sich an den wenigen Zeichen an Bäumen, Büschen und Gräsern, die ihm den Weg wiesen.
Sie näherten sich der Lichtung und hörten bereits das bedächtige Schnauben während der genüsslichen Äsung und das Schnoddern, dann und wann, wenn ein Mammut aus Futterneid den anderen eher gutmütig als bösartig, aber dennoch bestimmt von seinem Platz verdrängte.
Die Jäger spürten bereits die leichten Erschütterungen der schweren Tiere, wenn der Waldboden durch das Umhertrotten beim Fressen vibrierte.
Der Anführer hob den Arm und die Gruppe blieb augenblicklich und lautlos stehen. Der Wachbulle war entdeckt worden. Ein strammer Bursche von vielleicht zweieinhalb Metern Schulterhöhe, einem wuchtigen Kopf mit beachtlichen Stoßzähnen.
Halbmeterlang hingen die Fellzotteln vom Körper des Mammut, der kleine Schwanz wedelte unruhig und das Fächeln der großen Ohrdeckel verriet, dass den Bullen irgendetwas beunruhigte, irgendetwas hatte ihn aufmerksam gemacht.
Ob die Jäger selber die Aufmerksamkeit des Bullen erregt hatten oder irgendeine andere Veränderung in der Umgebung, war einerlei, denn jetzt galt es, schnellstens zu handeln, ehe die anderen Tiere gewarnt wurden oder es war besser, den Plan aufzugeben.
Das ausgesuchte Opfer, eine etwas abseits fressende Kuh von vielleicht fünf oder sechs Lenzen, war von der Horde, die auf sie zustürmte, völlig überrascht und anfangs wie gelähmt.
Die Lanzen der jungen Jäger trafen bereits, als das Tier die Todesgefahr erst erkannte, den Kopf hoch aufwarf, einen schrillen Schrei ausstieß, sich aufbäumte und mit den Vorderläufen instinktiv versuchte, den Hauptjäger niederzutrampeln, der direkt von Vorne auf das Tier bis auf knappe zwei Meter zugesprungen war und seine Lanze tief in dessen Hals bohrte.
Noch im Todeskampf trifft einer der schweren Hufe den Angreifer und zerschmettert ihm die Kniescheibe; der Junge stürzt unkontrolliert, kann sich nicht mehr wegrollen und wird nach einem zweiten Aufbäumen von beiden Hufen in den Boden geschmettert.
Dann bricht das große Tier zusammen.
Aus tiefen Wunden an den Seiten und am hinteren rechten Oberschenkel blutend, mit zerschmetterten Knochen verendet es an dem raschen, schockartigen Blutverlust.
Die Horde Mammute war im ersten Moment des Angriffs in Panik auseinandergesprengt, hatte in wilder Flucht Bäume und Büsche umgetrampelt und war unter lautem Schreien und Trompeten in den Wald davongestoben.
Und das war ein Glücksfall für die Jäger, die stets damit rechnen mussten, dass sich die Mammute zusammenrotteten und statt zu fliehen, ihren Gegner suchten und nun selber zum Angreifer wurden.
Da blieb meist nur die Flucht auf nahe Bäume und es kam regelmäßig vor, dass die Mammute schneller waren und von keinem Hindernis aufgehalten werden konnten, einen oder mehrere Jäger einholten und wütend zertrampelten oder mit den Stoßzähnen in die Luft wirbelten und buchstäblich zerschlugen.
Aber nicht immer waren die Tiere so intelligent und sich ihrer Kraft und Überlegenheit bewusst; sie ließen sich manchmal regelrecht überrumpeln und konfus in die Flucht schlagen.
So spektakulär wie die Angriffsszene begonnen hatte, war der Spuk nach wenigen Augenblicken schon wieder vorbei. Die Jäger, die rings auf den Bäumen hockten und sich festklammerten, verharrten reglos.
Von Ferne war nur noch ab und zu ein erregter 'Trompetenschrei' zu hören; am Rande der Lichtung krächzten ein paar Raben, der Wind strich durch die Wipfel der manchmal dreißig Meter hohen, vereinzelt stehenden Eichen, sonst war wieder Ruhe eingekehrt und beinahe nichts mehr würde an den ungleichen Todeskampf nur wenige Minuten zuvor erinnern, wenn da nicht die Mammutkuh liegen würde, in unnatürlich verrenkter Stellung und zu ihrem Haupt der mutige Junge, der den Todesstoß ausgeführt hatte und der jetzt regelrecht in den weichen Waldboden gestampft war.
Die jungen Jäger warteten noch einige Zeit, ehe sie sich sicher sein konnten, dass die Mammutkuh auch wirklich tot war, denn nichts war gefährlicher, als ein verwundetes, angeschlagenes Tier, das mit dem Gespür des nahen Todes noch einmal alle Kraft zusammennahm und sich dagegen aufbäumte;
und manchmal kam es auch vor, dass ein anderes Tier der Herde zurückkehrte und nach dem Zurückgebliebenen suchte, wenn zwischen den beiden eine enge Beziehung bestand, wie bei Mutter und Kind oder bei einem brunftigen Bullen und seiner Erwählten.
Aber nichts tat sich und nichts regte sich.
Die jungen Jäger kletterten von ihren Bäumen und näherten sich respektvoll dem Kampfplatz. Sie alle hatten Glück gehabt und das wussten sie. Ihnen allen hätte es so ergehen können, wie dem Hauptjäger, denn was ihre Vorfahren schon vor Jahrhunderten schmerzvoll erfahren mussten und in vielen Erzählungen an ihre Nachkommen weitergegeben hatten, war das Wissen um die äußerste Gefährlichkeit dieser Vorgehensweise bei der Jagd. Die Taktik, wie sie die Jungen angewendet hatten, wurde nur noch in wirklichen Notfällen angewandt, dann, wenn es absolut kein anderes jagdbares Wild mehr gab und der Hunger die Magenmuskeln rebellieren ließ. Üblich war diese Vorgehensweise daher schon lange nicht mehr. Und waren früher immer die Hälfte der Jäger umgekommen, die an einem derartigen Überfall teilgenommen hatten, so geschah das heute nur noch dann und wann, meistens den Unerfahrenen oder den Jungen, dass einer der Jäger bei der Jagd auf Mammute oder anderes Großwild ums Leben kam. Verletzungen gab es natürlich immer wieder.
Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Menschen verstanden, ihre Vorteile auszuspielen und lockten immer nur noch Einzeltiere in gebaute Fallen oder in eine ausweglose Lage, wie sie sich durch natürliche Gegebenheiten ergab: Schluchten, die am Ende steil anstiegen oder undurchdringliche Gehölze, die einen natürlichen Zaun bildeten; oder es wurden Gruben ausgehoben, die sorgsam mit Zweigen, Ästen, Laub und anderen Bodenauflagen abgedeckt wurden; oder Felsbrocken wurden zu einem nur nach einer Seite offenen Koral zusammengerollt ...
So, wie diese Gruppe junger Jäger vorgegangen war, grenzte es beinahe an Selbstmord und war nur dem unerfahrenen Mut der Jugend zuzuschreiben und der Tapferkeit, die die Ernsthaftigkeit der Gefahr noch nicht einschätzen konnte und dem unbändigen Willen und draufgängerischen Eifer der jungen Jahre.
Selbst bei den Mutproben, die vor Ausführung der religiösen Einführungsrituale abgelegt werden mussten, kamen derart gefährliche Situationen nicht mehr vor und sein Leben ließ dort nur der, der ein Hasenfuß war oder körperlich zu schwach.
Eine für die Menschen dieser Zeit durchaus natürliche Auslese.
Unsere Jäger, wie gesagt, jedenfalls alle bis auf den einen, konnten sich glücklich schätzen.
Und wie es üblich war, zollten sie der Kreatur ihren Respekt und knieten vor dem toten Tier nieder, warfen sich mit erhobenen Armen auf den Waldboden und sprachen die erlernten Formeln, mit denen der Geist des Mammut beschworen wurde, Verständnis zu zeigen für die Notwendigkeit dieses Opfers und sich nicht gegen die Jäger zu wenden; und es wurden die großen Götter angerufen und besonders der Gott der Jagd und des Blutes und man versprach, den üblichen Tribut zu zahlen und die besten und schmackhaftesten Teile, die Augen und die Geschlechtsteile, am Fuße einer Birke zu vergraben, die nicht älter als drei Jahre sein durfte und über die Säfte dieses Baumes, der über seine Wurzeln mit dem Regen die Kraft aus den so geopferten Körperteilen aufsog, würde der Mammut weiterleben und sich fortpflanzen können und die bösen Geister hätten keine Gelegenheit gegenüber dem Guten, das dem allen innewohnte, zu triumphieren.
*
Ihren Kameraden begruben sie zuerst.
Früher noch, so erzählten die Alten, die immerhin fünfzig Jahre und noch älter waren, waren die Toten einfach liegengelassen worden. Einerlei, ob es sich um Jagdopfer, Altersschwache oder Dahinsiechende handelte. Man schenkte dem einfach keine Beachtung mehr und der natürliche Kreislauf bestimmte, was aus deren Resten wurde.
Aber das lag schon wieder Tausend Jahre oder länger zurück. Das Denken und das religiöse Empfinden hatten sich geändert, heute kümmerte man sich sogar um die Kranken, Schwachen und Alten und pflegte sie. Früher war das vielleicht nicht möglich, da man ständig auf der Suche nach Nahrung und Schutz umherziehen musste. Die Fellzelte, in denen sie heute lebten oder die großen Höhlen, in denen man noch oft die Gebeine von vergangenen Generationen fand oder Meißelzeichnungen oder in Fels geritzte Symbole, boten Schutz auch für die Kranken und man konnte sich heute mit den Waffen, die man selber fertigte, ganz anders gegen Höhlenlöwen oder Höhlenbären wehren und musste sich von denen bei weitem nicht mehr vertreiben lassen.
Allerdings waren diese Tiere äußerst wehrhaft und viel gefährlicher als so ein Mammut, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
*
Liebevoll wurde das Grab ausgehoben, nicht eigentlich ausgehoben, sondern eher ausgekratzt, denn man musste nehmen, was man hierzu fand: Astenden, flache Steine, die Hände und vielleicht auch die Steinkeile, die jeder bei sich trug.
Die Beckenknochen des Mammut, die man wunderbar als Schaufeln hätte verwenden können oder andere platte Knochenteile, durfte man erst dann dem erlegten Tier entnehmen, wenn die Menschenopfer ihren Ruheplatz erhalten hatten und wenn sichergestellt war, dass ein paar Grabbeigaben auch unter diesen widrigen Umständen, wie ein paar Beeren, Pilze, wenn jahreszeitlich möglich, dazu noch Werkzeuge oder Waffen, vielleicht auch eine Schmuckschnecke dafür sorgen würden, dass der Tote in seinem nächsten Leben mit dem Notwendigsten versorgt war.
Denn die Menschen glaubten fest an ein Weiterleben nach dem leiblichen Tode und daran, dass das Jetztleben nur eine Zwischenstation auf dem Weg in weitere, spätere Leben war.
Und da das Lager unten im Krater an dem kleinen See, zu weit entfernt war, um Werkzeug zum Graben zu holen und es zu gefährlich war, nur zwei oder drei Jäger hier zu lassen, die den Leichnam und den erlegten Mammut bewachten
- die Lichtung wurde bereits von einem Rudel Wölfe umstreift, die noch nicht wagten anzugreifen und sich ihren Teil von der Beute zu holen, solange genügend starke Aufpasser da waren -
musste man sich eben behelfen, so wie es oft der Fall war, wenn man weitab vom Lager jagte und einer der Jäger selber zum Gejagten wurde.
Der tote Jäger war noch vor Anbruch der Dunkelheit begraben. Die Nachricht von seinem Tod würde bei den Angehörigen keine lange Trauer auslösen, denn der Junge war als der Mutigste von ihnen im Kampf gestorben, ein erfüllteres Leben und einen ehrlicheren Tod konnte man sich kaum vorstellen.
Anschließend hob man ein Loch vor einer dreijährigen Birke aus, die auf der entgegengesetzten Seite der Lichtung gefunden worden war und begrub mit den rituellen Notwendigkeiten Augen und Geschlechtsteile der Kuh, die vorher sorgfältig mit den messerscharfen Steinblättern aus dem Tier getrennt worden waren.
Mit den Feuersteinen, die jeder von ihnen in einem Saum ihrer Felljacken einstecken hatte, eine Kostbarkeit, die keinesfalls verloren gehen durfte, wurde anschließend an den Reisigfeuern, die zum Schutz in der Nacht rings um das Beutetier aufgeschichtet worden waren, geschickt Funken erzeugt, bis vom trockenen Gras erste Rauchwölkchen aufzüngelten und rasch zu kleinen Flammen aufgefächelt wurden. Das trockene Reisig knisterte schnell und verbrannte in hellen Flammen, dickere Stücke wurden nachgelegt und kleinere Äste dienten als Fackeln, mit denen man die anderen Feuer entzündete.
Nun, nachdem alles versorgt war und die Tiere des Waldes ringsumher durch die vielen Feuer verschreckt waren und es nicht wagen würden, anzugreifen, reichte es aus, wenn drei der Jungen zurückblieben, um die Feuer aufzuschüren und in Gang zu halten, während der Rest der Gruppe sich mit den ersten Brocken aus Hals und Schenkeln auf den Weg zurück zum Lager machte.
Sie würden am Morgen zurück sein und mit ihnen beinahe der ganze Stamm von etwa vierzig Leuten, nur die Alten und Schwachen und die Kleinsten würden zurückbleiben.
In der Nacht hatten sich die Drei, die beim Mammut zurückgeblieben waren, im Schein der Feuer darangemacht, den Mammut für die Zerlegung vorzubereiten. Schon als Säuglinge hatten sie vom Arm ihrer Mütter zugesehen, wie das gemacht wurde und hatten bereits als Dreikäsehoch mitgemacht und an den Fellen und am Fleisch herumgeschnippelt. So ging ihnen die Arbeit schnell und fachgerecht von der Hand und jedes Teil wurde so behandelt, dass es den optimalen Nutzen erbringen würde. Nichts wurde vergeudet.
Das Fell brauchte man für die Zelte und für Kleidung, für Decken und zum Fischfang.
Die Fettschicht würde ausgelassen oder in Scheiben getrocknet oder als Brennmittel verwendet werden.
Das Fleisch würde später auf verschiedene Weise zubereitet oder haltbar gemacht werden. Die Sehnen brauchte man für Wurfgeräte, für die großen Bögen oder zum Verbinden von Kleidungsteilen.
Die Knochen wurden aufgeschlagen und das begehrte Mark herausgelutscht oder mit Zweigen herausgeprokelt.
Die Knochen selber wurden später zu Werkzeug oder Waffen oder anderen Gerätschaften umgearbeitet.
Die künstlerisch begabten unter ihnen schnitzten daraus Figuren oder Sinnbilder.
Därme und Innereien verwendete man nach dem Reinigen als Transportbehälter, zum Tierfang oder zum Auffangen von Regenwasser und zum Kochen.
Kleine Knöchelchen, Knorpel, Zähne oder Schädelteile wurden gern zu Schmuckstücken verarbeitet oder zu Musikinstrumenten.
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Die Dämmerung war nur zu ahnen, als der ganze Trupp vom Krater am nächsten Morgen bereits an der Lichtung eintraf. Männer, Jäger, Frauen, Mütter, Kinder, Alte, einfach alle, die
sich mit eigener Kraft bewegen konnten oder von ihren Müttern getragen wurden, hatten sich auf den Weg gemacht.
Die Freude war groß über diese willkommene Beute, wie sie immer seltener wurde in diesen Regionen. Ein so riesiger Brocken Fleisch, Knochen und Muskeln und dieses riesige Fell, boten Nahrung für die ganze Sippe für vielleicht einen Monat und neues Material für Zelte, Decken, Jacken und Gerätschaften.
Die Mammute waren hier bei weitem keine regelmäßigen Besucher mehr, denn mehr und mehr hatten sich die großen Herden in den kälteren Osten zurückgezogen, wussten die Alten zu berichten, die mit Jägern zusammengekommen waren, die weit im Osten gewesen waren, wo es noch einige Grade kälter war und wo es noch große Herden gab; hier, wo seit Hunderten von Jahren wieder wärmere Zeiten angebrochen waren, hielten sich nur dann und wann noch größere Ansammlungen von ihnen auf, auf der Durchwanderung in andere, kältere Regionen, in den Norden oder in den Osten; sonst meistens sah man nur noch versprengte Einzelgänger oder einen Bullen mit seinem Harem.
Umso größer wussten alle das Glück zu schätzen, das für sich und den Stamm zu nutzen die Jugendlichen ihr Leben riskiert hatten.
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Alles, was man zu einem ordentlichen Aufbrechen, Abhäuten, Zerlegen und Entbeinen brauchte, hatten die Leute mitgebracht, teilweise auf Astschleppen hinter sich her gezogen. Denn bisher war noch keiner auf die Idee gekommen, die paar Rentiere, die man auch wegen der Milch in einem Gehege hielt oder die Wolfshunde, die man als Haustiere erzogen hatte, als Lasttiere abzurichten und zu verwenden.
Oder gar einen Transportwagen zu konstruieren, so mit Rädern, obwohl...
Merolf, einem der Jungmänner von knapp zwanzig Lenzen, waren da im letzten Herbst so ein paar Gedanken gekommen, als er mit einer ganzen Gruppe zusammen große vom Gletschertransport abgerundete Steinbrocken, die sie allenfalls zu zweit oder zu dritt überhaupt bewegen konnten, zu einem Windschirm vor die Winterhöhle rollten.
Wenn man kleinere runde Steine verwendete und man darauf ein Gestell befestigen konnte ... Merolf wusste, dass da irgendwo ein Gedankenfehler saß und dass da noch etwas war, was das ganze erst ermöglichen würde, sich vielleicht solcher Hilfsmittel zu bedienen, aber er kam nicht darauf. Irgendwann? Er würde weiterarbeiten an dieser vorerst nur fixen Idee.
So schafften die Stammesmitglieder also alles auf ihren beiden Beinen und mit ihrer eigenen Muskelkraft heran und Widur der Stammeshäuptling verteilte die Arbeitsplätze und bestimmte, wo das Zwischenlager aufgeschlagen werden sollte, denn man würde hier schon so einige Tage beschäftigt sein. Und, den Göttern sei Dank, konnten auch die mit anpacken, die sonst in den kommenden Tagen auf Jagd gewesen wären, um für frisches Rentierfleisch zu sorgen oder für ein paar Hirschbraten oder Wildpferdfleisch, was auch immer seltener auf der Speisekarte stand; denn auch die Wildpferde wanderten wegen der veränderten Vegetation immer mehr ab in die Gebiete, die ihnen am meisten lagen und wo sie am besten Nahrung fanden: in die Steppen und Tundren, die den Mischwäldern und dem immer dichteren Bewuchs gewichen waren.
Und zwei erbeutete Wildpferde mussten es wenigstens sein, um den Stamm für eine Woche mit Fleisch zu versorgen oder acht bis zehn Stück Rentiere.
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Ganz so komfortabel wie unten im Krater, an ihrem Hauptlagerplatz den Sommer über, wo es geschützt war und ein kleiner Trinkwassersee sie versorgte, würde es für die paar Tage hier nicht werden; aber man verzichtete nicht darauf, den Boden der Zelte wenigstens mit Reisig auszulegen, über das dann die Felle gebreitet wurden, sodass keine direkte Verbindung zu dem teilweise noch morastigen Waldboden bestand.
Die Äste für die Hauptstangen wurden geschnitten und man ließ an den oberen Enden immer einige Zweigenden stehen, zwischen denen man dann anschließend die Querverbindungen herstellte, sodass diese Behausungen recht stabil gegen Windböen waren.
Die Öffnung oben in der Mitte blieb frei, um den Rauch aus den Kochfeuern abziehen zu lassen, um die herum sich die einzelnen Familien, jede in ihrem eigenen Zelt, an das wärmende Feuer legten.
Da es nachts immer noch recht kalt wurde, teilweise bis an die Frostgrenze, trotz Hochsommers und trotz der warmen Temperaturen am Tage, machte man sich um die Haltbarkeit des Mammutfleisches, bis es fertig zum Abtransport vorbereitet war, keine Gedanken.
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Aram kuschelte sich eng an ihren Merolf, als es Schlafenszeit war und die Sonne hinter dem fernen Vulkankrater schon lange untergegangen war. Die beiden hatten ihr eigenes Zelt, sie hatten beschlossen, zusammen zu sein und hatten hierzu vor erst drei Monden den Rat der Sippe und den Schamanen um Erlaubnis gefragt. Eine Formsache nur, wenn sich beide nichts hatten zu Schulden kommen lassen und wenn ihre beiden Familien jeweils genügend gute Gründe und handfeste Geschenke anbieten konnten, die gegen eine Verbindung der beiden keinen Einwand mehr zuließen. Und einen Nebenbuhler gab es sonst auch nicht, mit dem Merolf erst hätte kämpfen müssen, um sein Recht auf Aram zu bekräftigen.
So war es geschehen und Aram hatte in die Gemeinsamkeit ein Zelt mit eingebracht, aus Rentierfellen und mit feinsten weichen Decken aus Eisfuchs und Merolfs Eltern hatten zwei Zuchtrentiere und einen Wolfshund-Welpen geschenkt und Merolf selber hatte seine Aram schließlich durch eine Kette aus Muscheln und mediterranen Schneckengehäusen überzeugt, eine Seltenheit und Kostbarkeit, die er bei einem anderen Stamm gegen Pfeil und Bogen eingetauscht hatte.
Den daumennagelgroßen Ammoniten von Aram, glänzend poliert und sehr fein in der Zeichnung, trug Merolf als Talisman um den Hals.
In dieser Nacht würde es geschehen und neun Monde später sollte ein ganz besonderer Erdenbürger zur Welt kommen: Wagaar, was so viel bedeutete wie “Schneller Wind aus dem Norden”.
Doch zuvor waren noch ein ganzer Herbst mit seinen eisigen Stürmen aus dem hohen Skandinavien und seinen verheerenden Gewittern und endlosen Regenwochen zu überstehen und der Winter, der viel Schnee und Eis mit sich bringen und lange anhalten würde und das Frühjahr des Jahres 10200 nach prähistorischer Zeitrechnung, in dem sich einiges ändern sollte und für manche ein neuer Lebensabschnitt begann.
Aber lassen wir erst einmal die beiden Verliebten ihre glückliche Nacht und ihren ersten gemeinsamen Sommer verbringen.