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Erste Schauprozesse gegen „Abweichler“

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Mit ähnlich konformistischen Denkmustern reagierten Kopelew und seine Freunde in jener Zeit auch auf die Nachrichten über die ersten Massenprozesse, die das Stalin-Regime Ende der 1920er-Jahre gegen angebliche ideologische Abweichler und antisowjetische „Schädlinge“ inszenierte. Im Frühjahr 1928 fand in Moskau der sogenannte Schachty-Prozess statt, benannt nach der südrussischen Kohlebergbau-Stadt Schachty im Oblast (Gebiet) Rostow. Angeklagt waren 53 „bürgerliche Spezialisten“, vorwiegend Ingenieure und Bergbaudirektoren, denen Sabotage im Auftrag ausländischer Mächte vorgeworfen wurde. Gegen elf Angeklagte wurde die Todesstrafe ausgesprochen; fünf wurden erschossen, die übrigen Todesurteile in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt. Zu der letzteren Gruppe gehörte auch der Vater von Shenja M., in die der 16-jährige Lew verliebt war, als in Moskau der Schachty-Prozess stattfand. Er glaubte als eifriger Marxist zwar durchaus an die Existenz ideologischer „Schädlinge“, scheint aber die Versicherungen von Shenja und ihrer Mutter akzeptiert zu haben, dass der Vater nicht aktiv an einer Verschwörung gegen den Staat beteiligt war.34

Im Frühjahr 1930 – ein Jahr nach der für Lew gefährlichen „trotzkistischen Verirrung“ von 1929 – fand im Charkower Operntheater der Prozess gegen 45 Mitglieder des SWU (Verband zur Befreiung der Ukraine) statt. Mit einem Freund vom Komsomol-Komitee nahm Kopelew zwei oder drei Mal als Zuschauer an den Gerichtsverhandlungen teil. Die Angeklagten waren Intellektuelle, Professoren, Angestellte und Studenten. „Ihre Erscheinung und ihre Manieren erregten in mir kein Mitleid und auch keine Zweifel darüber, dass sie gesund und satt seien … Sie gestanden, sie hätten die Sowjetmacht stürzen und die Ukraine aus der UdSSR lösen wollen“, beschreibt Kopelew seine damaligen Eindrücke.35

Erst 40 Jahre später, bei der Niederschrift seiner Erinnerungen, wurde ihm vollends klar, dass der SWU-Prozess, den er als jugendlicher Aktivist als gerecht und legal empfand, „in seiner Dramaturgie dem Schachty- und allen anderen ‚Schädlings‘-Prozessen glich, dass es sich um eine jener juristischen Inszenierungen gehandelt hatte, durch die der Massenterror vorbereitet und dann durchgeführt wurde“.36 Doch gleichzeitig mit dieser Erkenntnis betont der Memoirenschreiber, dass er nicht jenen Historikern oder Romanciers – die Bemerkung zielt unter anderem zweifellos auch auf seinen langjährigen Freund und späteren politischen Kontrahenten Solschenizyn – zustimmen könne, „die unsere damalige Gesellschaft als jämmerlichen menschlichen Mischmasch darstellen, als geistlos und gottverlassen“. Er könne „nicht all die damaligen Komsomolzen, Parteimitglieder und Akteure der Entwicklung des Landes insgesamt als feige, eigennützige Spießer, stumpfe oder fanatisierte ungebildete Dummköpfe, oder aber als zynische, gewissenlose Taugenichts, Karrieristen …, tückische, Russland hassende Fremde und einfach ‚Diener des Antichrist‘ schildern“.

Mit diesem schwierigen Thema einer differenzierten, im historischen Kontext eingebetteten Auseinandersetzung mit früheren Überzeugungen, die sich später als abgründiger Irrweg und als fatale Täuschung erweisen, wird sich Lew Kopelew in seiner autobiografischen Trilogie noch öfter und schmerzlich auseinandersetzen. „Nichts und niemand will ich rechtfertigen“, fügt er im Bericht über seine Einstellungen als junger kommunistischer Gläubiger hinzu. Aber er sei auch überzeugt, dass spätere historische und moralische Erfahrungen und Einsichten nicht „zurückdatiert“ werden könnten.

In der Charkower Lokomotivenfabrik waren auch deutsche Ingenieure und Meister beschäftigt, was offenbar mit der Übernahme einer deutschen Lizenz für Dieselmotoren zusammenhing. Lew Kopelew übernahm wegen seiner ausgezeichneten Deutschkenntnisse die „Kultur- und Propagandaarbeit“ unter diesen Ausländern,37 was neben der Werbung für die bolschewistische Weltsicht wohl auch russische Sprachkurse für die deutschen Mitarbeiter bedeutete. Sein engster Gehilfe bei diesen Aufgaben und bald sein Freund wurde Willi Husemann, KPD-Mitglied und Sohn eines alten Kommunisten. Kopelew beschreibt ihn in seinen Erinnerungen als erbitterten Radikalen, der die bürgerlichen Spezialisten hasste und als „Sozial-Faschisten“ beschimpfte und die deutschen Kollegen, wenn sie seine ideologische Sicht nicht teilten, als Opportunisten anprangerte.

1932 kam Willis Vater Wilhelm Husemann auf dem Weg zu einem Urlaub auf der Krim zu Besuch nach Charkow. Bei dieser Begegnung fassten Kopelew und die beiden Husemanns einen abenteuerlichen Plan: Der sprachkundige 20-jährige Lew sollte nach Berlin reisen, um dort mitzuhelfen, die proletarische Revolution – die damals nach Überzeugung vieler gläubiger Kommunisten unmittelbar bevorstand, schon Lenin hatte ja entschieden mit einer solchen Entwicklung gerechnet – zu unterstützen! Um die Reise zu erleichtern, sollte der ältere Husemann Lews Foto zu Hause auf deutsches Fotopapier kopieren, dann nach Charkow schicken, damit es in den Pass des jüngeren Husemann eingeklebt werden und Lew damit nach Deutschland reisen konnte. Blauäugig und brav informierte Lew den Sekretär des betrieblichen Komsomol-Komitees von diesem schönen Projekt. Doch dieser wusch ihm gründlich den Kopf und schnauzte ihn resolut an, er solle sich gefälligst für die Erhöhung der Produktion im eigenen Werk engagieren, statt sich mit unreifen, verstiegenen Ideen in die Weltrevolution einzuschalten.

Der kämpferische Einsatz der Familie Husemann für die große proletarische Weltrevolution endete tragisch. Kopelew berichtet, dass Willi Husemann nach einem Streit mit der Verwaltung 1934 die Charkower Lokomotivenfabrik verließ und mit seiner Frau, die er in Charkow geheiratet hatte, nach Tscheljabinsk im Ural zog.38 1937, im Jahr des großen Terrors, so hörte Kopelew, sei er verhaftet und offenbar an Nazi-Deutschland ausgeliefert worden. Wenn diese letztere Information stimmt, so stand sie vermutlich in Zusammenhang mit dem infamen Hitler-Stalin-Pakt von 1939.

Willis jüngerer Bruder Walter, der in Deutschland in der Redaktion der kommunistischen Zeitung „Die Rote Fahne“ arbeitete, wurde 1942 verhaftet und im folgenden Jahr hingerichtet. Der Vater, Wilhelm Husemann, kam in Deutschland ins KZ, überlebte aber den Krieg. Als Kopelew 1964 zum ersten Mal in die DDR reisen konnte und sich in Ostberlin aufhielt, erfuhr er, dass der alte Husemann als Portier im Gebäude des Zentralkomitees der SED tätig war. Er habe sich, schreibt er in seinen Erinnerungen, nicht entschließen können, ihn zu besuchen. Graute ihm davor, Genaueres über das Schicksal seines Jugendfreundes Willi zu vernehmen? Oder wollte er den alten Mann und vielleicht immer noch überzeugten Kommunisten nicht mit Berichten über seine eigenen Gulag-Erfahrungen belasten?

Lew Kopelew

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