Читать книгу Lew Kopelew - Reinhard Meier - Страница 30
Student und Redakteur an der Uni Charkow
ОглавлениеAb Herbst 1933 war Kopelew Student an der philosophischen Fakultät der Universität Charkow. Die Parteiorganisation des Lokomotivenwerks hatte den 21-Jährigen, wie es in seinen Erinnerungen heißt, zu dieser akademischen Ausbildung „abkommandiert“.75 Das war damals der wohl formal erforderliche „Dienstweg“, um überhaupt an der Universität aufgenommen zu werden. Offenbar musste er zuvor eine nicht ganz leichte Aufnahmeprüfung bestehen, auf die er sich schon vor seiner Heirat im Sommer 1929 vorbereitet hatte, wovon im erwähnten Brief an Nadja die Rede ist.
Lew war begeistert von den Vorlesungen, die ganz im Sinne seiner damaligen Überzeugungen weitgehend nach der ideologischen Linie des Marxismus-Leninismus ausgerichtet waren. Er war bestrebt, keine Vorlesung zu versäumen, „schrieb alles möglichst wörtlich mit, las jede Pflichtlektüre, auch alles, was die Dozenten fakultativ empfahlen“.76 Besonders hingerissen war der wissbegierige Student von den Vorlesungen in Politökonomie. Die hielt ein „kleiner, glatzköpfiger, schwachsichtiger Professor, der leidenschaftlich in ‚Das Kapital‘ (das Hauptwerk von Karl Marx) verliebt war. Er sprach darüber so hingerissen und ungelenk stammelnd, wie man sonst über Poesie oder eine angebetete Frau spricht. Mich steckte er mit seiner Verzückung an.“ Aber auch zur Literatur der deutschen Klassik fand der Student Zugang. So weckte ein Literaturprofessor namens Beletzki sein Interesse am schwierigen Stoff von Goethes Faust II, was ihn dazu inspirierte, „wieder und wieder Faust und Goethes Gedichte zu lesen und jedes Mal Neues, Ungeahntes zu entdecken.“
Neben dem Studienbetrieb war Kopelew intensiv mit der Herstellung der Universitätszeitung beschäftigt, zu deren „verantwortlichem Sekretär“ er schon im ersten Semester ernannt wurde. Zweifellos kam er dank seiner praktischen Kenntnisse und Erfahrungen als Journalist und Redakteur bei den Werkszeitungen der Lokomotivenfabrik zu diesem Posten. Diese Arbeit kam ihm anfänglich leicht vor, denn anders als die täglichen Ausgaben der Werkszeitung und die laufende Produktion von Flugblättern in der Fabrik erschien die Universitätszeitung nur einmal wöchentlich. Redaktion und Druckerei der Universitätszeitung befanden sich im Keller des Fakultätsgebäudes, in dem bis 1933 die Geheimpolizei GPU-NKWD einquartiert gewesen war.
In den Kellerräumen waren noch die Gucklöcher in den eisernen Türen und die Gitter vor den Fenstern der früheren Gefangenenzellen vorhanden. Die kühle, feuchte Dämmerung in diesen Räumen hätten in ihm „vage, unruhige Gedanken“ geweckt, erinnerte sich Kopelew.77 „Vielleicht hatte man aus diesem Raum Menschen zum Erschießen abgeholt … all diese Spione, Petljura-Männer, faschistische Agenten“, also echte Bolschewiken-Feinde. In seiner ideologischen Blauäugigkeit nahm er an, dass die „Partei-Abweichler“ und „Spezialisten-Schädlinge“ – also weniger verdammenswerte Elemente – in den oberen Stockwerken des früheren GPU-Gefängnisses einquartiert waren, wo auch Kopelew selbst 1929 wegen seiner trotzkistischen Verbindungen eine Woche lang gesessen hatte. „An Folterungen und Misshandlungen glaubte ich ganz einfach nicht. Das war schlicht unvorstellbar.“
In seinen Erinnerungen deutet Kopelew auch an, dass sich die dämmrigen Kellerräume im Fakultätsgebäude für die jungen Mitarbeiter der Universitätszeitung auch vorzüglich für Rendezvous mit interessierten Kommilitoninnen eigneten.78 Man darf aufgrund seiner späteren autobiografischen Hinweise zum Thema Frauenbeziehungen annehmen, dass er gegenüber solchen Möglichkeiten durchaus nicht abgeneigt war – auch wenn der 22-jährige Student bereits seit gut drei Jahren verheiratet war.
Im Sommer 1934 absolviert Kopelew wie alle militärpflichtigen Studenten seines Jahrgangs eine dreimonatige Ausbildung als Soldat der Roten Armee.79 Seine aus Studenten gebildete Einheit gehört zur 80. Donbass-Division und bezieht ein Zeltlager in der Nähe von Mariupol am Asowschen Meer, das heute zur unabhängigen Ukraine gehört. Die Verpflegung ist schlecht und eintönig, es gibt nicht einmal genug Wasser zu trinken. Am Abend werfen sich die jungen Soldaten total erschöpft auf die Pritschen mit ihren zusammengedrückten Strohsäcken. Dennoch setzt sich der überzeugte Leninist bei dieser militärischen Ausbildung ebenso „mit Feuereifer“ ein, wie er vorher das Marx’sche „Kapital“ studiert hatte. Er ist überglücklich über das Lob des Regimentskommandeurs, der seine Kompanie nach einem Nachtalarm einmal als die schnellste des ganzen Studentenbataillons hervorhebt. Lew dichtet auch den Text eines eigenen Kompanieliedes, das später zum Bataillonslied erklärt wurde.80 Am Schluss seines Militärdienstes bekommt er das Abzeichen als „Woroschilow-Schütze“ und er wird zum Zugführergehilfen befördert, was „drei Dreiecke am Kragenspiegel“ bedeutete.