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DIGITALISIERUNG DES GESELLSCHAFTLICHEN LEBENS
ОглавлениеMotor der rasanten Transformation der Alltags- und Lebenswelt sind die alle Lebensbereiche umfassende Konsumgesellschaft und nicht zuletzt die digitalen Medien. Sie bestimmen den Lebenstakt der flüchtigen Moderne, sie sind nicht nur Folge, sondern in untrennbarer Wechselwirkung auch Ursache für die Entwicklung der sozialen Beschleunigung. Digitalisierung ist ohne Markt, Ökonomie ist ohne digitale Medien nicht mehr denkbar. Sicher ist: „Die digitalen Medien haben den Wandel unserer Gesellschaft in hohem Maße beschleunigt.“ (Die deutschen Bischöfe 2011, S. 17) Die Mediengesellschaft verändert sowohl die Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens als auch Identitätskonzepte der Individuen. Die Begriffe „Virtualität“ und „Inszenierung“ werden zur Signatur des grundlegend veränderten Selbstverständnisses des Menschen im medialen Zeitalter. Medien erzeugen Wirklichkeit und deren Wahrnehmung. Durch unablässige Nutzung, die von der jungen Generation noch viel ungebremster verlangt wird, damit sie im gesellschaftlichen System mithalten kann, erfährt das Subjekt die medial erzeugten Parameter als Realität, so wie es traditionell die zwischenmenschliche Erfahrung oder die Erfahrung der Natur für real gehalten hatte. „Wirklichkeit“ wird digital entworfen. „Nicht mehr was Wirklichkeit ist, steht im Vordergrund, sondern viel mehr, wie sie entworfen wird und wie sie jeweils erscheint.“ (ebd., S. 26)
digitale Identität
Die Allgegenwart und scheinbare Omnipotenz der Mediengesellschaft wirkt sich radikal auf das aus, was den Menschen scheinbar unverwechselbar macht, sein eigenes Ich. Das Ich konstituiert sich nunmehr als inszeniertes Ich, was zunächst nichts gänzlich Neues darstellt (das soziale Ich ist schon immer ein nach außen inszeniertes Ich), doch wird durch die digitalen Welten die Möglichkeit zur Inszenierung von Identität exponentiell erweitert. Wer eine Seite in einem digitalen Netzwerk gestaltet, entwirft „sich“, genauer, ein Bild von sich, wie er oder sie den anderen Nutzern gerne erscheinen möchte. Die Bilder sind Entwürfe, Stimulationen und Modelle einer inszenierten Wirklichkeit, die es außerhalb des virtuellen Raumes in dieser Weise nicht oder nur partiell gibt. Damit sind persönliche und soziale Identität abhängig von der jeweiligen Inszenierung, die extrem kontingent ist, die ganz anders sein könnte und von Zeit zu Zeit auch anders wird. Sie kann mühelos gelöscht und auf neue Weise etabliert werden. Identität in der digitalen ära scheint ebenso flüchtig geworden zu sein wie die gesellschaftlichen Strukturen selbst.
digitale Beziehungen
Digitale soziale Netzwerke definieren mehr und mehr unsere Identität. Doch während das Individuum bisher seine soziale Identität – ein bedeutender Baustein persönlicher Identität – durch Zugehörigkeiten zu bestimmten Gemeinschaften, etwa sozialen, ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppierungen, definierte, kehrt sich nun das Verhältnis von Identität und sozialer Bindung völlig um: „In diesen Netzen geht die ‚Zugehörigkeit‘ nicht länger der Identität voraus, es ist genau umgekehrt. Das Netzwerk ist die Erweiterung einer ausgesprochen instabilen Identität und passt sich deren sukzessiven Neubildungen und Redefinitionen prompt und reibungslos an.“ (Bauman 2007, S. 120f.) Digitale Netzwerke – als Realisierung und Symbol digitaler Kommunikation – sind durch voraussetzungslose Bindungen charakterisiert. Entsprechend entgrenzend sind die Beziehungsstrukturen, die in ihnen praktiziert werden. Digitale Beziehungen sind nicht länger auf Verlässlichkeit, Vertrauen, gemeinsame Interessen, Solidarität und schon gar nicht auf Dauer angewiesen. Per Mausklick können sie gekappt werden.
All dies wäre für sich genommen nicht besonders problematisch. Schließlich weiß jede und jeder, dass ein Netzwerk keinen realen Freundeskreis ersetzt. Ich kann schlecht mit jemandem digital tanzen oder auf einen Drink ausgehen. Doch die digitalen Formen der Kommunikation haben Rückwirkungen auf die Alltagskommunikation und auf unser Beziehungsverhalten im Ganzen. Denn die Ungewissheit wird immer stärker zum Begleiter von Identität und Beziehung. Leben in flüchtigen und medial dominierten Zeiten bedeutet, mit der Ungewissheit zu leben. Die Ängste der Menschen heute erwachsen längst nicht mehr allein aus existentiellen Erschütterungen, sondern sind gesellschaftlich bedingt. Mehr und mehr muss der und die Einzelne individuelle Lösungen für gesellschaftlich erzeugte Probleme suchen (Bauman 2008, S. 25). Die Möglichkeit einer gesicherten, auf gemeinschaftlicher Grundlage ruhenden Existenz ist weitgehend ausgeschlossen, wobei die digitale Vernetzung uns nur scheinbar und flüchtig zusammenwachsen lässt.