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Tödliche Erbschaft
ОглавлениеSimone Raider warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Richtig, fiel es der Blondine mit den schulterlangen Haaren und den hellblauen Augen wieder ein, die ist ja kaputt. Wie so vieles an diesem Vehikel, dachte sie. Jedenfalls wird es so zwischen Frühstück und Mittag sein. Sie konnte sich also Zeit lassen. Tante Luise hatte sie und ihre beiden Cousins erst zum Mittagessen eingeladen.
Die schmale, von Laubbäumen gesäumte Straße führte Simone Raider in eine elegante Vorstadtsiedlung. Hier lebten nur wohlhabende Bürger, so wie ihre Tante Luise. Immer wieder dachte sie an den Brief, den sie von ihr vor einigen Tagen bekam. Von der Beendigung des Familienzwistes war da die Rede. Von der Zeit die Wunden heilte. Hierbei klang ihr noch der genaue Wortlaut in den Ohren, mit der ihre Tante sie und ihre Cousins vor zehn Jahren hinausschmiss: Bequemes Gesindel, Nichtsnutze und Ähnliches mehr, warf sie ihnen an den Kopf. Auslöser für diesen Gefühlsausbruch war ein schiefgelaufenes Projekt, in das einer ihrer Cousins eingestiegen war. Tante Luise kam zufällig dahinter, dass es ihr Geld war, das er sich unter falschem Vorwand von ihr borgte. Daraufhin kam es zu dieser erschütternden Veränderung bei der Tante. Fast ihr ganzes Vermögen vermachte sie testamentarisch einem Kloster, nicht weit von hier. Ihr Anwalt setzte damals sie und ihre beiden Vettern telefonisch hierüber in Kenntnis. Sogar der Pflichtanteil wurde, durch einen Kniff des Rechtsanwalts, auf ein Minimum reduziert. Der Traum von Simone Raider, vom vielen Geld, platzte seinerzeit wie eine Seifenblase.
Noch geraume Zeit danach ärgerte sie sich über die ungerechte Behandlung ihrer Tante. Hinzu kam, dass sie ihre Cousins, Achim und Sebastian, nicht mochte. Zumindest auf diese beiden trafen die Beschimpfungen zu, fand sie. Aber Tante Luise hatte oft genug deutlich gemacht, dass sie mehr für die Jungen über hatte, als für sie.
Wenn einer der beiden, Achim oder Sebastian, etwas Positives leistete, wurden die zwei von ihrer Tante gelobt. Vielleicht, weil sie Zwillinge waren. Von ihr war dann nie die Rede. Hatte einer von denen etwas ausgefressen, wurden sie alle drei getadelt. So war Tantchen nun mal. Und wir nahmen es gelassen hin, überlegte sie. Schließlich wollte damals keiner sein Erbe aufs Spiel setzen. Sie seufzte. Das lag nun viele Jahre zurück. Sie, und ihre gleichaltrigen Cousins, waren Anfang dreißig. Und nun sollte der Traum vom legendären Glück wieder wahr werden. Ihre wasserblauen Augen funkelten bei diesen Gedanken siegessicher.
Da Tante Luise eine Frau der Tat war, lud sie auch gleich eine Vertreterin des Klosters ein. So deutete sie es zumindest in ihrem Brief an. Dort wird die Enttäuschung sicherlich groß sein, wenn sie erfahren, dass sich die in Aussicht gestellte Erbschaft auf ein Bruchteil reduziert.
Kurz darauf hielt Simone Raider auf dem Vorplatz des Herrenhauses ihrer Tante. »Bekomme ich mein altes Zimmer, Sven?« Fragend sah sie den greisenhaft wirkenden Diener an. Nachdem dieser nicht reagierte, stellte sie die gleiche Frage nochmals, nur wesentlich hörbarer.
Erschrocken, jedoch freundlich lächelnd, sah sie der Diener an. »Gewiss, Frau Raider, ich arbeite noch immer.«
Sie vermied es, weitere Fragen zu stellen.
»Ich bin erfreut, dich nach all den Jahren wiederzusehen.« Die krächzende, aber selbstbewusste Stimme, wollte so gar nicht zu den scharf gesprochenen Worten passen, mit der ihre Tante sie empfing.
Das schneeweiße, gewissenhaft gekämmte Haar der über Achtzigjährigen ließ ihre Nichte es ahnen. An ihrer übergroßen Pingeligkeit hatte sich in den letzten zehn Jahren wahrscheinlich nichts geändert. Erst auf dem Weg ins Besucherzimmer bemerkte sie die Gehhilfe, auf die sie sich beim Fortbewegen stützte.
»Hast du dich über meinen Brief gewundert, Simone?«
»Ja«, gab diese unumwunden zu.
»Nun«, sprach die greise Dame ein wenig bedächtig, »lange werde ich es nicht mehr machen.« Einen lautlosen Protest der anderen würgte sie mit einer kritischen Handbewegung ab. »Ich weiß, wovon ich rede. Zehn Jahre ist es her, glaube ich, als ich euch hier raus warf. Immerhin, ich hatte meine Gründe.« Belehrend hob sie den Zeigefinger ihrer rechten Hand. »Einer alten Dame einfach so das Geld aus der Tasche zu ziehen, das konnte ich mir nicht gefallen lassen.«
Simone Raider sah nur stur geradeaus. Sie hat sich nicht geändert, schoss es ihr durch den Kopf.
»Andererseits war es sehr einsam in den letzten Jahren um mich herum. Wie schön wäre es doch, überlegte ich, wenn ich die Welt in Frieden verlassen könnte. Aber die Kontakte gab es nun nicht mehr. Ich wollte, dass unsere Familie wieder das wird, was sie einmal war. Hoffentlich verstehst du mich. So holte ich Erkundigungen über euch ein. Wie war ich doch überrascht, als ich hörte, wie brav und strebsam ihr alle geworden seid. Na ja, ihr musstet ja wohl. Denn schließlich haben euch meine gelegentlichen Geldspritzen gefehlt.« Die letzten gesprochenen Worte klangen ein wenig spöttisch. »Du hast dich zur Krankenschwester ausbilden lassen, nicht wahr?!«
Simone Raider nickte.
»Jedenfalls bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es sinnvoller wäre, das Geld in der Familie zu lassen. Aber ich will auch nicht, dass die Ordensschwestern leer ausgehen. Ich habe euch geschrieben, weil ich meinen Nachlass klären möchte. Du weißt ja, der größte Teil ist angelegt in Aktien, Firmenanteilen, Immobilien und all so ’n Kram.« Sie klopfte mit der rechten Hand behutsam auf den Tisch neben ihr und fuhr fort. »Heute wird mein Vermögen verteilt und morgen wird es notariell beglaubigt. Danach gilt das bisherige Testament nicht mehr. Eine leitende Schwester aus dem Orden habe ich ebenfalls eingeladen. Sie darf ihre Wünsche äußern. Ich mache euch lediglich die Auflage, nicht gleich alles zu versilbern. Von den Gewinnanteilen ist man in der Lage gut zu leben, wie du siehst.«
Simone machte sich nichts vor. Nur zu gut wusste sie, dass Achim und Sebastian die besten Stücke zugesprochen bekommen würden. So war sie nun mal. Der Orden würde sich gewiss mit einem unbedeutenden Erbteil zufriedengeben müssen. Plötzlich stutzte sie. »Hast du auch Conny eingeladen? Ist sie noch in Australien?«
»Ja, ich habe dort meine Erkundigungen eingezogen, aber nichts Näheres über deine Schwester gehört. So wie man mir berichtete, ist sie bereits vor einiger Zeit gestorben. Lass sie.« Mit einer ärgerlichen Handbewegung wollte sie das Thema wechseln. »Seitdem sie damals aus der Schule abgehauen ist, hat keiner mehr was von ihr gehört. Sie ist tot, hörst du?!«
Draußen war das Geräusch eines bremsenden Autos zu hören.
Luise Stupweiser drehte sich ruckartig um und eilte, auf ihren Stock stützend, zum Hauseingang. »Die Jungen kommen!«
Durch das Fenster zum Vorplatz beobachtete Simone Raider wie die beiden Kerle aus einem sündhaft teuren Fahrzeug ausstiegen. Sie knirschte mit den Zähnen. »Denen geht es nur darum Tantchen zu imponieren«, murmelte sie halblaut vor sich hin. Sie hatte zwar keinen Kontakt zu den beiden, allerdings war sie über die Art, wie sie ihre Geschäfte machten, bestens informiert. Wer die Regionalpresse studierte, wusste das Achim und Sebastian Gerster von einem Konkurs in den anderen schlitterten. Ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit schien das nicht zu schaden. Sie hasste das lockere und lässige Auftreten ihrer Cousins. Das überhebliche, über allen Wassern stehende Getue. Simones Pupillen wurden plötzlich stecknadelkopfgroß. Sie verabscheute diese eingebildeten und anspruchsvollen Pinkel über alles.
»Oh, unsere Base hat sich genauso wenig verändert, wie Tantchen. Was meinst du, Achim?« Sebastian Gerster sah seinen Zwillingsbruder, mit einem Augenzwinkern, fragend an.
Simone Raider entgegnete nichts. Sie warf den beiden ein freundliches Lächeln zu. So schwer es ihr auch fiel. Tante Luise mochte die Jungen. Das hatte sie zu akzeptieren, wollte sie nicht unnötig einen Streit heraufbeschwören, aus dem sie nur als Verliererin hervorgehen konnte.
»Sieh mal, wen wir unterwegs aufgegabelt haben, Simone.« Achim Gerster trat einen Schritt zur Seite und ließ eine in Ordenstracht gekleidete Schwester eintreten.
»Die leitende Oberin konnte leider nicht selber kommen«, erklärte die Klosterfrau mit entschuldigender Stimme.
Das faltenreiche Gesicht von Luise Stupweiser verriet Enttäuschung. Gleich darauf sah sie zur Uhr. »Sven!« Es war mehr ein Schrei, als der Ruf nach ihrem Diener. »Sven, haben Sie ihr Hörgerät wiedergefunden?« Nachdem der Diener sie nur freundlich lächelnd ansah, sprach sie weiter. »Also noch nicht wiedergefunden.« Den nächsten Satz betonte sie besonders bruchstückhaft und lautstark. »In einer halben Stunde tragen Sie bitte das Essen auf.« Und zu den anderen gewandt fuhr sie fort: »Wer sich noch etwas frisch machen möchte, hat jetzt Gelegenheit hierzu.«
Bis auf Luise Stupweiser verließen alle das Besucherzimmer. Die Falten in ihrem Gesicht verzogen sich zu einem bescheidenen Lächeln. Genauso hatte sie sich die erste Zusammenkunft nach all den Jahren vorgestellt. Alles lief wie geplant.
Simone Raider war nur kurz im Bad. Vorsichtig um sich schauend schritt sie den Flur entlang. Hierbei warf sie in dieses und jenes Zimmer einen Blick. Alles war noch genauso wie früher. Gleich darauf begab sie sich ins Esszimmer. »Sie hier, Schwester?« Überrascht sah sie zu der Klosterfrau hinüber.
Diese schrak sichtlich zusammen. »Ich, äh, finde den Raum nicht mehr, in dem wir vorhin waren«, stotterte sie ein wenig verlegen.
»Zwei Türen weiter links.«
»Danke! Danke, vielmals.« Mit zwei, drei flinken Schritten schlug die Nonne die genannte Richtung ein.
Simone Raider sah ihr grübelnd hinterher.
Sebastian und Achim Gerster hielten sich in der Bibliothek auf, wo sie die Tageszeitungen flüchtig durchblätterten.
Der altbekannte Gong ertönte. Die Gäste begaben sich ins Esszimmer. Luise Stupweiser kam mit der Ordensfrau freundlich plaudernd als letzte hinzu. Nachdem alle Platz genommen hatten, betrat der Diener das Zimmer.
Die Gastgeberin winkte ihn zu sich. Bückend hielt dieser, wie von seiner Herrin befohlen, sein Ohr in die Nähe ihres Mundes. »Den Wein, Sven!«, krächzte sie ihm lautstark ins Ohr.
Dieser schrak zusammen. »Ich muss erwähnen, dass ich mein Hörgerät wiedergefunden habe«, sprach er und richtete sich auf, um den Wein in die Gläser zu füllen.
»Ein edler Tropfen«, versicherte Luise Stupweiser den Anwesenden. »Ich allerdings werde auf meinen liebgewordenen Brauch nicht verzichten und als Aperitif nur ein Glas Cherry trinken.«
»Ich, äh ... ich möchte keinen Wein, Frau Stupweiser.« Höflich schmunzelte die Ordensfrau der Gastgeberin zu. »Für mich ein Glas Wasser, bitte.«
Simone Raider und ihren Cousins kam die Antwort sehr gelegen. Hatte sich ihr Erbanteil in diesem Augenblick sicherlich erhöht. Ein gefülltes Glas Wein unberührt stehen lassen, darüber hätte Tante Luise kein Wort verloren. Ihr aber einen Korb zu geben, das gehörte sich nicht. So war sie nun mal.
»Nun dann.« Luise Stupweiser hob ihr Glas mit dem Cherry zum Anstoßen.
Ihre beiden Neffen und ihre Nichte erhoben die Weingläser. Die Ordensschwester tat es ihnen nach. Mit dem Glas Wasser in der Hand und einem verklemmten Lächeln im Gesicht.
Eine winzige Rotweinwelle benetzte die Lippen von Simone Raider. Sie achtete darauf, den Wein nicht in den Mund zu bekommen. Sie mochte keine alkoholischen Getränke. Ob ihre Tante das in all den Jahren mitbekommen hatte, wusste sie nicht. Sie ließ den Inhalt vom Glas stets unberührt. Gleich darauf stellte sie ihr Weinglas zurück und sah freundlich lächelnd zu ihren Cousins hinüber. Die saßen ihr am Tisch direkt gegenüber.
Diese erwiderten ihr Lächeln mit närrischen Grimassen. Nachdem sie ihre Arme gestikulierend hinzunahmen, wurde ihre Tante wachsam.
»Also, Achim und Sebastian, bewahrt eure Albernheiten bis nach dem Essen auf. Hört ihr!« Die letzten beiden Worte ihrer Tante klangen schon fordernd.
Doch die Bewegungen ihrer Neffen wurden zunehmend rasanter. Aus ihren aufgerissenen Mündern drangen kaum hörbare, glucksende Laute. Gleich darauf rissen beide, wie verabredet, ihre Augen sperrangelweit auf. Sofort hielten sie schlagartig in ihren Bewegungen inne und fielen, wie vom Blitz getroffen, zu Boden.
Es war mucksmäuschenstill im Raum.
»Was hat das zu bedeuten?!« Mit einem krächzenden Aufschrei sprang Luise Stupweiser von ihrem Stuhl auf. »Spinnt ihr?« Sie merkte rasch, dass dies keine gewollte Einlage ihrer Neffen war. Mit einem Blick zu Simone forderte sie hastig von ihr: »Du bist Krankenschwester, nicht wahr?! So tu doch was!«
Bedächtig begab sich Simone Raider auf die andere Seite vom Tisch. Dann bückte sie sich über die am Boden gekrümmt daliegenden Vettern. Sie sah in die geweiteten Pupillen. Ihre Hand suchte den Puls. Das Ohr legte sie auf die Stelle des Oberkörpers, unter der das Herz lag. Schließlich stellte sie sich wieder aufrecht hin. Mit einem Blick zu ihrer Tante schüttelte sie kaum sichtbar den Kopf.
»Soll das heißen, sie sind tot?« Voller Schrecken sah sie sich im Kreis um.
»Du musst die Polizei holen, Tante Luise. Vermutlich war der Wein in ihren Gläsern vergiftet.«
»Aber du hast doch auch von dem Rotwein getrunken! Oder etwa nicht?«
Schwerfällig wendete sich ihr Kopf zum Esstisch. Ihre Augen starrten zum Glas mit dem Rotwein respektvoll hinüber. »Nein, ich habe wie immer nur so getan, als ob ich trinke. Ich mag keinen Alkohol.«
◊
Kommissar Steffen sah mit mürrischer Miene zu seinem Fahrer hinüber. »Sag mal, Kröger, kannst du mit dem Lutschen nicht aufhören, solange wir hier zusammen im Auto sitzen?«
Dieser schmunzelte. »Aber, Chef, Salmiakpastillen sind gesund und regen das Denkvermögen an.« Provozierend hielt er ihm seine angebrochene Tüte hin.
Knurrend sah der Kommissar aus dem Seitenfenster. Mehrere Sekunden später wendete er sich wieder um. »Da vorn ist es.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Vermutlich wird es sich um irgendeinen Fehlalarm handeln. Na, mal sehen.«
»Glauben Sie das wirklich, Chef? Da stehen nämlich zwei Rettungswagen vor der Tür.«
Luise Stupweiser kam den beiden Kriminalbeamten, auf ihren Stock stützend, entgegen. Mit aufgerissenen Augen sprach sie: »Der Wein ist schuld …«
Kommissar Steffen beruhigte sie. Sofort darauf führte er ein ausgiebiges Gespräch mit dem Notarzt. »Irgendeine giftige Substanz im Rotwein, meinen Sie, Doktor? Wie kommen Sie darauf?«
»Nachdem uns die Hausherrin sagte, dass sie umfielen, als sie den Wein getrunken hatten, habe ich mal am Glas gerochen. Es kam mir eine kleine Wolke entgegen, die verflixt nach bitteren Mandeln roch. Blausäure oder so etwas Ähnliches.«
»Wir werden es im Labor untersuchen lassen.«
»Die Nichte ist mit dem Schrecken davongekommen. Sie trinkt kein Alkohol. Nur ihrer Tante zuliebe ließ sie sich das Glas füllen. Aber das klären Sie am besten mit ihr selber. Für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Die beiden Zwillingsbrüder waren auf der Stelle tot. Die starke Dosis des Giftes führte zu einem sofortigen Stillstand des Atmungsapparates. Sie erstickten qualvoll. Nach meinen Schätzungen hätte das Gift ausgereicht eine ganze Fußballmannschaft ins Jenseits zu befördern.«
Kröger sprach in der Zwischenzeit mit dem Diener. Gleich darauf gab er seinem Vorgesetzten eine kurze Stellungnahme.
Kommissar Steffen sah grübelnd zu ihm hinüber. »Irgendjemand hätte die Küchentür, die nach draußen führt, geöffnet, sagt der Diener? Von den Anwesenden will es keiner gewesen sein?! Hm … – Na ja, vielleicht hat er es nur vergessen und die Tür selber geöffnet. Der Jüngste ist er ja nicht mehr.«
»Aber immerhin fünf Jahre jünger als seine Arbeitgeberin.«
Zusammen hörten sie sich den Grund der Begegnung an. Luise Stupweiser gab den beiden Kriminalbeamten eine knappe Schilderung der Zusammenhänge.
»Sie wollten also ihr Testament zugunsten Ihrer Familienmitglieder ändern, Frau Stupweiser?« Die Feststellung des Kommissars klang tonlos und trocken.
»Ich sagte es Ihnen bereits.«
»Eine Testamentsänderung wäre also zu Lasten des Klosters vorgenommen worden, deren Institution heute und hier durch Schwester Angelika vertreten wird, richtig? – Und beim Tod Ihrer Familienmitglieder wäre alles beim alten geblieben, auch richtig? – Aha. Nun, dass Ihre Nichte den Anschlag überlebte, ist purer Zufall. Der Täter wird wahrscheinlich versuchen seinen Fehler zu korrigieren. Ansonsten nützt ihm der Tod der beiden Brüder gar nichts.« Mit einem Blick zu Simone Raider sprach er weiter. »Bis wir den Mörder haben, müssen Sie auf der Hut sein.«
Die Angesprochene raffte sich auf. »Es ist doch nur der Orden, der von unserem Tod profitiert. Demnach müsste ein Vertreter des Ordens der Giftmischer sein …«
»Mein Gott …« Die Ordensschwester würgte die Worte mühsam hervor. »Sie halten mich doch nicht dieser Tat für fähig?«
Es dauerte lange bis Kommissar Steffen eine Antwort gab. »Dieser ganze Vorgang hier erinnert mich eher an den Ablauf eines zweitklassigen Fernsehkrimis.«
»Wie wird denn sonst gemordet, Herr Kommissar?« Luise Stupweisers krächzende Stimme hörte sich provozierend an.
»Nicht so kompliziert«, war die prompte Antwort. »Wenn das Kloster, als Nutznießer, nicht auf den bisherigen Erbanteil verzichten will, warum brachte man dann gleich drei Personen um? Den fehlgeschlagenen Mord, an Ihrer Nichte, zähle ich mal mit. Es wäre doch viel einfacher gewesen, Sie zu töten, Frau Stupweiser. Ein einzelner Mord. Der, mit etwas Geschick, als Alterstod getarnt werden könnte. Keiner hätte Verdacht geschöpft. Alles wäre prima gelaufen. Wir werden uns also noch einmal eingehend mit Ihnen über eventuelle Tatmotive unterhalten müssen. Wer weiß, vielleicht übersehen Sie oder wir irgendetwas.« Danach sprach Kommissar Steffen alle Anwesenden an: »Ich bitte Sie, dass Esszimmer zu verlassen. Mein Assistent und ich werden den Tatort nach Spuren untersuchen. Jeder bleibt bitte für sich allein. Bis wir Näheres wissen, ist dies aus Sicherheitsgründen notwendig.«
»Dann lege ich mich in meinem Zimmer etwas hin. Sie können Sven nach mir Schicken, wenn Sie fertig sind.« Im Gehen hielt Luise Stupweiser noch einmal an und drehte sich neugierig um. »Nach was suchen Sie eigentlich?«
»Polizeigeheimnis.« Kommissar Steffen warf ihr ein knappes, kurzes Lächeln zu.
»Und wenn Sie nichts finden?«, wollte Simone Raider wissen.
»Das wäre schön«, entgegnete der Kommissar. »Dann kennen wir auch den Mörder.«
Sie stutzte. »Machen Sie, was Sie wollen. Ich setze mich derweil draußen vor die Tür an die frische Luft.«
»Ich werde in der Bibliothek auf Ihre Anweisungen warten«, sprach die Ordensschwester mit auffällig nervöser Stimme. »Kann ich mein Mineralwasser mitnehmen?«
»Das geht leider nicht. Lassen Sie sich vom Diener ein neues Glas bringen.«
Nachdem Kommissar Steffen mit Kröger allein war, begab er sich zum Esstisch hinüber und schnupperte an den Gläsern. »Die Rotweingläser der Gerster-Brüder sind etwa zur Hälfte geleert. Sie haben genau, wie das volle Glas von Simone Raider, diesen aufdringlichen Mandelgeruch, von dem der Notarzt sprach.« Dann sah er sich die geöffnete Rotweinflasche näher an. Er schnupperte an deren Öffnung, lobte die gute Lage der Rebe und sprach zu seinem Assistenten: »Nun gut, Kröger, dann wollen wir mal anfangen zu suchen.« Kommissar Steffen nahm eine Stoffserviette vom Tisch und sah sich suchend im Raum um.
»Darf man fragen, Chef, wonach Sie suchen?«
»Das fragst du mich, Kröger?!« Kommissar Steffen tat überrascht. »Du bist doch derjenige, der diese seltsamen Salmiakpastillen isst, die das Denkvermögen anregen.«
Kröger knurrte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann sah er scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster zum Vorplatz hinaus.
Kommissar Steffen legte seine Hand freundschaftlich auf Krögers Schulter. »Hübsche Dame, diese Simone Raider, so wie sie da draußen auf der Bank sitzt, nicht wahr?« Da sein Assistent wie versteinert stehenblieb und nicht antwortete, fuhr der Kommissar fort. »Also, Kröger, pass mal auf. Die Sache ist ganz einfach …«
Etwa eine halbe Stunde später richtete sich der Kommissar mühsam vom Teppich auf. »Das war die letzte Möglichkeit. Du hast auch nichts, oder?«
Sein Assistent schüttelte den Kopf.
»Prima. Der Rest ist Routine. Sorge mal bitte dafür, dass die sich alle hier wieder einfinden. – Ach, ich sehe, Frau Raider kommt schon wieder zurück. Genug frische Luft geschnappt, meine Dame?«
»Ich bin froh, wenn das hier alles vorbei ist.«
Kröger schickte den Diener in den ersten Stock, um seiner Hausherrin Bescheid zu geben. Dann öffnete er die Tür zur Bibliothek und bat die Ordensschwester herauszukommen.
»Chef! Chef, schnell!« Krögers Stimme klang hektisch.
Gleich darauf stand Kommissar Steffen hinter ihm. »Verflixt noch mal!«, schimpfte er lautstark vor sich hin.
An einem Tisch, mitten im Raum, saß die Ordensschwester. Der Oberkörper lag unnatürlich schräg auf der Tischplatte. Ihr Kopf bedeckte hierbei ein Stück beschriebenes Papier. In der rechten Hand befand sich ein Füllfederhalter. Die Fingerkuppen der linken Hand berührten das Glas mit Mineralwasser, das sie mit in die Bibliothek genommen hatte. Der nach vorn geneigte Körper der Nonne erweckte den Eindruck, als wäre sie beim Schreiben eines Briefes eingeschlafen. Doch nicht nur Kommissar Steffen wusste, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
Kröger hatte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche gezogen und den Notarzt gerufen.
Mit behäbigen Schritten und zum Boden geneigtem Kopf, begab sich Kommissar Steffen zurück ins Esszimmer. Hier setzte er sich am Tisch nieder und vergrub das Gesicht in den Händen der aufgestützten Arme. »Es ist meine Schuld«, sprach er schließlich. »Es ist ganz allein meine Schuld, dass die Nonne getötet wurde. Dieser zweitklassige Fernsehkrimi ist drittklassig geworden und ich habe dem Treiben kein Einhalt geboten.«
»Vielleicht erklären Sie uns endlich einmal, was Sie damit meinen.« Die krächzende Stimme von Luise Stupweiser hörte sich nun nicht mehr so selbstbewusst an, wie eine halbe Stunde zuvor.
Kommissar Steffen begab sich noch einmal in die Bibliothek. Wenige Minuten später kam er mit dem Blatt Papier, das unter dem Kopf der Toten lag, zurück. Er sah alle Anwesenden mit entschiedenem Gesichtsausdruck an. Schließlich las er vor, was auf dem Briefbogen stand. »Niemand kann mir vergeben. Ich weiß selber nicht warum ich das tat. Aber heute Morgen kam es über mich. Ich schnappte das Ungeziefervernichtungsmittel … Die Oberin sagte mir, dass das Kloster keine Überlebenschance hätte, wenn das Testament tatsächlich geändert werden würde. Schwester Alexandra.«
Betretenes Schweigen im ganzen Raum.
Simone Raider fand zuerst die Worte wieder. »Sie hat also meine Cousins umgebracht und beinah auch mich.«
Kommissar Steffen sah sich im Kreis um. »Hat jemand die Terrassentür zur Bibliothek geöffnet?«
Der Diener räusperte sich. »Die ist nur morgens, wenn ich darin reinige, eine Stunde lang offen. Ansonsten ist sie den ganzen Tag geschlossen.«
Die folgenden Worte des Kommissars kamen nur leise und gequält über seine Lippen. »Die Tür war geöffnet. Die Schwester hat ihrem Mörder die Tür geöffnet.«
Luise Stupweiser sah den Kriminalbeamten verblüfft an. »Aber sie ist doch die Mörderin. Sie hat meine beiden Neffen getötet und schließlich sich selbst …«
»Das sollten wir glauben, ja. Der Mörder, ich spreche hier in der dritten Person, der Ihre Neffen umgebracht hat, ging davon aus, dass wir im Kloster keine näheren Untersuchungen anstellen können. Stellen Sie sich nur mal die Schlagzeile in der Zeitung vor: Kripo ermittelt gegen Ordensschwester oder Nonne eine Mörderin? Mein Hinweis, dass es ungefährlicher gewesen wäre, wenn man Sie getötet hätte, Frau Stupweiser, hat beim Täter alle Alarmglocken klingeln lassen. Die Sache musste bereinigt werden. Ein Mörder musste her. Am besten die Ordensschwester …«
»Aber wer hat versucht, uns alle zu beseitigen, Herr Kommissar?« Simone Raiders Augen waren vor Neugier weit geöffnet.
Der Blick von Luise Stupweiser verlor sich irgendwo in der Ferne. »Mir dämmert da etwas, Simone«, sprach sie mit einem Mal leise und gedankenversunken.
»Nachdem ich Sie bat sich einzeln zurückzuziehen«, fuhr Kommissar Steffen fort, »begab sich die Klosterfrau mit einem Glas Mineralwasser in die Bibliothek. Die unausgesprochene Beschuldigung lastete bestimmt schwer auf sie. Plötzlich klopfte es an der Terrassentür. Vielleicht hoffte sie mit dieser Person, die durch die Scheibe hindurch um Einlass bat, über alles sprechen zu können. Doch sie muss sehr schnell mitbekommen haben, auf was sie sich da eingelassen hat, als sie die Tür öffnete. Was ich jetzt sage, sind lediglich Vermutungen, die durch unsere Spurensicherung erst noch belegt werden müssen. Ich bin mir aber sicher, dass es sich genauso abgespielt hat, wie ich es Ihnen jetzt vortragen werde.«
Sein Assistent, der Diener, die Hausherrin und ihre Nichte sahen den Kommissar stumm an.
Dieser atmete einmal kräftig durch, bevor er weiter sprach. »Kaum das der Mörder in der Bibliothek war, begab er sich zum Waffenschrank und holte sich vermutlich eine Faustfeuerwaffe heraus. Damit bedrohte er die Nonne. Der Täter verlangte von ihr, dass sie ein Schuldgeständnis schreiben solle. Ich kann mir vorstellen, dass die Ordensfrau vor dem Tod keine Angst hatte. Sie hatte sich bestimmt vor etwas anderem gefürchtet: Dass man glauben könnte, sie wäre tatsächlich die Mörderin. Ihr war klar, dass sie getötet wird, sobald das Schuldeingeständnis vorliegt. Sonst hätte sie es hinterher sofort widerrufen können. Würde sie jedoch nicht schreiben, könnte sie uns keinen Hinweis geben, dass sie es nicht war, die die Neffen tötete. Denn auch in dem Fall musste sie sterben, das ahnte sie. Wie aber sollte sie uns die Information mitteilen, dass sie die Zeilen unter Zwang schrieb?«
Immer noch herrschte absolute Ruhe im Raum.
Kommissar Steffen sprach weiter. »Schwester Angelika ist es trotzdem gelungen, uns diesen Hinweis zu geben, ohne das der Mörder etwas merkte.«
»Und wie?«, fragte Luise Stupweiser gespannt.
»Ja, wie?«, wollte nun auch Simone Raider wissen. Gleich darauf fuhr sie fort. »Moment mal. Lasen Sie nicht etwas von Schwester Alexandra vor, aus dem Brief?«
Der Kommissar nickte. »Sie unterschrieb ihr Schuldeingeständnis mit einem falschen Namen: Alexandra. Ihr richtiger Name war, Schwester Angelika.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Der Mörder, der sie die ganze Zeit mit der Waffe bedrohte, hatte gar nicht die Absicht sie damit zu töten. Die Schusswaffe diente nur zur Einschüchterung. Denken Sie nur mal an den Knall des Schusses. Die Gefahr entdeckt zu werden, war viel zu groß. Gestorben ist sie an dem Gift im Mineralwasser, das der Mörder ihr beim Schreiben in das Glas füllte. Wahrscheinlich nahm sie einen Schluck, als der Brief fertig war. Ich bin mir sicher, dass der Täter die Waffe von seinen Fingerabdrücken reinigte und an den angestammten Platz zurücklegte.«
Schwer atmend krächzte Luise Stupweiser den Kommissar an: »Sie kennen den Mörder? Wer ist es denn nun?«
»Ihr Diener, Frau Stupweiser, ist der Meinung, dass jemand die Küchentür zum Hof geöffnet hat. Waren Sie das?«
»Blödsinn! Ich bin nur äußerst selten in der Küche.«
»Die Tür war aber auf. Es besteht demnach die Möglichkeit, dass jemand das Haus betrat, den Wein vergiftet hat und später nochmals in die Bibliothek eindrang und die Nonne umbrachte.«
»Ohne das dies irgendeiner mitbekommen hätte, hier bei uns?« Sie sah ihre Nichte an. »Sie hat eine Schwester in Australien, wir haben sie allerdings seit Jahren, besser Jahrzehnten, nicht mehr gesehen. Wenn ich das Testament geändert hätte und alle umgekommen wären, wäre sie die Alleinerbin gewesen …«
Kommissar Steffen schüttelte den Kopf. »Auf diese zweite Fährte, die uns der Mörder anbot, fielen wir ebenfalls nicht herein. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie Ihr Testament nicht geändert hätten, wenn auch Ihre Nichte umgekommen wäre. Die vermeintliche Schwester von Frau Raider hätte also keine Chance gehabt ihr Erbe anzutreten. Außerdem hat sich mein Assistent, über das Mobiltelefon, an unser Dezernat gewandt. Dort haben sie sehr schnell reagiert. Ihre Schwester, Frau Raider, ist vor mehreren Jahren in Australien umgekommen …«
»Sie war ein Abenteurertyp«, unterbrach Luise Stupweiser den Kommissar.
»Nun ja, gestorben ist sie jedenfalls an einem elektrischen Schlag, der von einem defekten Haushaltsgerät herrührte.«
»Dann bleiben als Mörder nur noch meine Tante, der Diener und ich über?« Simone Raider hoffte, dass der Beamte dieses verneinen würde.
Doch Kommissar Steffen nickte mit dem Kopf. »Wobei wir sicherlich den Diener ausklammern können. Sven hätte gar nicht die kriminelle Energie eine Ordensschwester zu bedrohen. Geschweige denn jemand zu töten. Nur eines wüsste ich gern, Sven. Wann öffneten Sie in etwa die Flasche Rotwein?«
Der Diener räusperte sich wie gewohnt. »Rotwein wird grundsätzlich eine Stunde vor dem Trinken geöffnet. Anders als beim Weißwein, der kann beim Servieren geöffnet werden. Aber ein Rotwein, der muss atmen, mindestens eine Stunde lang, um sein Bukett voll entfalten zu können.«
Kommissar Steffen konnte sich ein Schmunzeln über die Art, wie der Diener dies vortrug, nicht verkneifen. »Als die Gäste kamen, war die Flasche bereits geöffnet? – Aha.«
»Ich bin der Meinung, mein lieber Herr Kommissar, Sie haben sich da in was verrannt …«, ärgerte sich Luise Stupweiser.
Kommissar Steffen legte übertrieben vorsichtig seinen Zeigefinger über die Lippen. »Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach er die ältere Dame. »Schauen Sie sich einmal die Gläser mit dem Rotwein an. Zwei Gläser, die Ihrer Neffen, sind nur zur Hälfte gefüllt. Das Glas von Frau Raider ist voll. Und nun begutachten Sie einmal die Flasche Rotwein. – Ihnen fällt nichts auf? Die Menge in den Gläsern ist die, die in der Flasche fehlt. Finden Sie das nicht seltsam? – Nein?! Aber das Gift, meine Damen, es wurde in die Flasche gefüllt. Dieser aufdringliche Mandelgeruch kommt auch aus der Flasche. Es war eine starke Dosis, wie wir vom Notarzt hörten. Was letztendlich bedeutet, dass viel Flüssigkeit hineingefüllt wurde. In eine Flasche, die voll war.«
Schweigen.
Kommissar Steffen sah die beiden Damen durchdringend an. »Noch ist Zeit alles zuzugeben.« Er wartete. Nachdem sich nichts tat, sprach er weiter. »Gut, dann werde ich die Mörderin überführen. Sven, bitte eine Flasche Rotwein. Die gleiche Sorte, die vergiftet wurde.«
Der Diener sah seine Hausherrin fragend an. Nachdem diese stumm nickte, begab er sich in die Küche und kam gleich darauf mit einer geöffneten Flasche zurück.
»Kröger, nimm die Flasche und trinke ein, zwei kräftige Schlucks daraus. So wie es die Mörderin getan hat.«
»Aber, Chef, ich muss noch fahren.«
»Das übernehme ich nachher. Nun trinke mal die Menge aus der Flasche, die fehlen musste, damit das Gift hineinpasste.«
Sein Assistent setzte die Flasche zweimal an und nahm jedes Mal einen kräftigen Schluck. »Oh, schmeckt gut«, freute er sich mit einem Mal und setzte ein drittes Mal an.
»Du sollst die Flasche nicht gleich austrinken, Kröger«, knurrte ihn sein Vorgesetzter an. »So, und jetzt zeige den Damen mal bitte deine Zunge.«
Irritiert sah der Angesprochene seinen Vorgesetzten an, tat aber, wie ihm befohlen.
»Sehen Sie diesen grauschwarzen Belag auf der Zunge meines Assistenten? Das hat Rotwein so an sich. Wenn man mehr davon trinkt, färben sich sogar die Zähne etwas ein. Frau Raider, bitten Sie nun Ihre Tante, dass sie Ihnen die Zunge zeigt.«
»Was erlauben Sie sich in meinem Haus!?« Luise Stupweiser war sichtlich erregt.
Wieder hielt der Kommissar seinen Zeigefinger über die Lippen. »Pst! Warten Sie doch ab, bis Sie gefragt werden.«
Sekunden des Schweigens.
»Frage mich ruhig«, platzte Luise Stupweiser plötzlich ärgerlich aus sich heraus, »ich werde dir meine Zunge doch nicht zeigen. Eine Unverschämtheit ist das!«
»Keine Angst, Frau Stupweiser«, sprach Kommissar Steffen zu der Hausherrin, »Ihre Nichte wird Sie nicht fragen. Da bin ich mir ganz sicher, nicht wahr, Frau Raider. Wir beide wissen warum?!«
»Und warum?«, hakte ihre Tante neugierig nach.
»Weil Ihre Nichte genau weiß, dass Ihre Zunge keinen Belag aufweist. Der Belag ist nämlich auf der Zunge der Giftmischerin. Das stimmt doch, Frau Raider, oder?!«
»Mit dem Indiz kommen Sie vor Gericht nicht durch«, entgegnete diese zischend. Ihre Pupillen waren stecknadelkopfgroß.
»Oh, hör mal, Kröger. Das Signalhorn des Notarztwagens. Für die Ordensschwester kommen sie zwar zu spät, dafür können sie aber Frau Raider eine Blutprobe entnehmen.«
»Mir eine Blutprobe entnehmen? Wozu soll das gut sein?«
»Angeblich haben Sie seit Jahren keinen Tropfen Alkohol angerührt. Mit der Blutprobe werden wir Ihnen das Gegenteil beweisen. Den Wein, den Sie ausgetrunken haben, um das Gift in die Flasche füllen zu können, hat bestimmt seine paar zehntel Promille hinterlassen. Wir haben das ganze Esszimmer mit der Serviette abgetupft. Wenn Sie den Rotwein irgendwohin gekippt hätten, hätte sich die Serviette rot verfärbt. Aber weder in den Blumentöpfen, noch irgendwo auf dem Teppich, war diese rote Flüssigkeit nachzuweisen. Sie wollten auf Nummer sicher gehen und haben den überschüssigen Rotwein ausgetrunken. Ein grober Fehler. Das Gift haben Sie sich vermutlich aus dem Krankenhaus besorgt. Wie lange saßen Sie eigentlich draußen auf der Bank? Wahrscheinlich solange, bis Sie davon ausgehen konnten, dass Sie keiner beobachtete. Wir mussten uns schließlich der Spurensuche widmen. Selbst, wenn wir bemerkt hätten, wie Sie die Bank verließen, hätten Sie bestimmt genug Ausreden bereitgehalten. Vielleicht wäre Ihnen der große Unbekannte, nach dem Mord an der Ordensschwester, über den Weg gelaufen. Und das alles nur, weil Sie nicht teilen wollten. Sie hassten Ihre Cousins, nicht wahr?! Sie wollten den ganzen Besitz Ihrer Tante für sich haben und hierbei gleichzeitig Ihren Vettern eins auswischen. Kröger, die Handschellen.«
Simone Raider ging vor den beiden Kriminalbeamten her, in Richtung Hauseingang. Plötzlich zupfte Kröger seinen Vorgesetzten am Ärmel. »Mensch, Chef, den Belag auf der Zunge habe ich von den Salmiakpastillen …«
Kommissar Steffen sah seinen Assistenten kopfschüttelnd an. »Kröger, du bist ja betrunken. Und das im Dienst …«