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Opfer der Liebe

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Da, wo die Altstadt aufhörte, zog die Umgehungsstraße einen scharfen Riss zum angrenzenden Neubauviertel. Irgendwo in dem weitflächigen Gebiet, mit den hohen Mietshäusern, wohnte Martha Sievert mit ihrem achtzehnjährigen Sohn Tobias.

»Mach das Fenster zu, es zieht«, befahl sie ihrem Sohn mit forscher Stimme.

Tobias gehorchte. Widerstandslos. Wie immer. Ein letzter Blick in die eiskalte Dezembernacht zum sternenklaren Himmel empor. Herrlich, fand er. Gleich darauf sah er noch einmal kurz hinunter. Genau zwölf Stockwerke unter ihnen wohnte seine große Liebe. In wenigen Minuten würde er bei ihr sein.

»Mach endlich das Fenster zu, Tobias. Wie oft soll ich dir das noch sagen!?«

Er seufzte. Vielleicht würde er bald eine Arbeitsstelle bekommen. Nach der Lehre hatte man ihn nicht übernommen, obwohl seine Leistungen überdurchschnittlich waren. Und wenn er dann einen Job hatte, konnte er sich auch eine eigene Wohnung leisten. Möglicherweise würde sogar Anita zu ihm ziehen. Jedenfalls hatte er in Erfahrung gebracht, dass sie nach ihrer Lehrzeit unbedingt ausziehen wollte. Tobias hatte Verständnis hierfür. Anitas Vater war auf Montage und nur ab und an zu Hause. Angeblich wäre er im Gefängnis und käme immer nur als Freigänger heraus, wurde in der Nachbarschaft getuschelt. Tobias hatte sich nie darum gekümmert, ob an diesen Gerüchten etwas dran war. Wenn er mit Anita zusammen war, gab es für ihn interessantere Themen.

»Und bestell ihrer Mutter schöne Grüße, hörst du?!«

Tobias antwortete nicht. Anitas Mutter würde heute Abend gar nicht da sein. Zu bestimmten Zeiten traf sie sich immer mit einem Freund. Nur ganz wenige wussten hiervon. Heute war so ein Tag. Außerdem war ihr Bruder Andreas, wie an jedem dieser Wochentage, im Gay, in der Altstadt. Andreas war so alt wie er. Früher waren beide eng befreundet. Erst nachdem Anitas Bruder anfing, ihn von Mal zu Mal liebenswerter zu begrüßen, lockerte er die Beziehung zum Freund. Im selben Maße wie er sich von ihm entfernte, suchte er den Kontakt zu Anita. Obwohl Andreas mehrere homosexuelle Bekannte hatte, umgarnte er Tobias wann und wo er konnte. Eindeutig, ihr Bruder hatte immer noch viel für ihn über.

»Ich habe dir Blumen geholt. Die nimmst du ihr mit. Hast du mich verstanden?!«

»Mutter, ich mache ihr keinen Heiratsantrag …«

»Solltest du aber. Alt genug bist du schließlich.«

Tobias atmete heftig durch, um zu antworten, ließ es jedoch. Seine Mutter wollte nicht wahrhaben, dass er mit Anita Scheng nur befreundet war. Sicherlich war sein sehnlichster Wunsch eine intensivere Beziehung zu ihr. Sein Traum war es, dass sie ihm gehörte. Ihm ganz allein. In den zwei Jahren, in der er mit ihr befreundet war, hatte er es mal gerade bis zu einem kurzen Kuss gebracht. Und das lag nun schon fast ein Jahr zurück. Letzten Silvester zog sie ihn hinter das Haus. Während alle das Feuerwerk zur Jahreswende bestaunten, küsste sie ihn: heiß, innig und kurz. Immer und immer wieder hatte er danach einen Versuch gestartet sich ihr zu nähern. Jedoch im entscheidenden Augenblick verließ ihn der Mut. Aber heute, an diesem Tag, sollte es geschehen. Da wollte er alles von ihr. Wochenlang grübelte er, wie er es am besten anstellen konnte. Und heute, wenn er mit ihr allein in der Wohnung war, sollte es passieren.

»Frag sie mal, wo sie vorgestern gegen halb sieben, war. Ich habe sie nämlich gesehen. Mit diesem Bruno, vor dem Supermarkt. Geknutscht haben sie. Ganz erschrocken war sie, als sie mich plötzlich sah. Frage sie einfach mal. Na, jedenfalls ist es besser, sie tobt sich jetzt aus, als hinterher, wenn ihr verheiratet seid.«

»Herrje, Mutter, höre doch mal bitte mit diesem Blödsinn auf. Wer redet denn von heiraten? Wir hören uns bei ihr nur die neuesten Songs an. Wir schmieden keine Heiratspläne.«

»Es ist auch besser, wenn ihr in der Wohnung bleibt. Nur gut, dass du nicht so verrückt bist, wie die anderen und in diese lärmenden Musikschuppen gehst. Wenigstens zeigst du da ein bisschen Vernunft.«

Tobias sah nervös auf die Armbanduhr. In wenigen Augenblicken musste er hinuntergehen. Er spürte den Herzschlag bis zum Hals hinauf.

»Steck dein Hemd ordentlich in die Hose und kämm dich noch mal, bevor du gehst. Hast du gehört? – Dann sag doch was, wenn ich dich frage.« Martha Sievert sah auf die Küchenuhr. »Nun los, mach dich auf den Weg. Und bleibe nicht solange. Ich gehe noch mal auf einen Sprung zu Tante Asta.«

Tante Asta wohnte mehrere Querblocks von hier entfernt. Tobias wusste, dass sie dort nicht lange bleiben würde. So oft sich die beiden besuchten, so rasch bekamen sie sich auch in die Haare. Oftmals benötigten sie hierzu nicht mal einen triftigen Grund.

Tobias schloss die Wohnungstür hinter sich. Ganz entspannt bleiben, nur nicht nervös werden. Er redete sich Mut zu. Sollte er den Aufzug nehmen, um zu ihr in die erste Etage zu gelangen? Oder lieber die Treppe benutzen? Wenn er die Treppe nahm, war noch genügend Zeit sich auf die Worte, die er sprechen musste, vorzubereiten. Er schritt die Stufen hinunter. Sein Herz schlug Purzelbäume.

Wie eine alles durchdringende Explosion erklang der gedämpfte Gong der Türglocke. Nichts rührte sich. Es war totenstill. Mit einem Mal öffnete sich die Wohnungstür einen Spaltbreit. Ein freundlich lächelndes Augenpaar sah ihn spitzbübisch an. »Komm rein«, flötete ihre Stimme kaum wahrnehmbar.

»Es ist so still hier in der Wohnung. Ist deine Mutter nicht da?« Tobias tat ahnungslos.

»Heute ist Dienstag, da ist Andreas doch immer im Gay. Und Mutter sagte, dass sie mal wieder ins Kino wollte. – Soll ich dir die Blumen abnehmen, ehe sie in der Hand verwelken?«

»Äh, ach so, Entschuldigung. Na, dann bekommst du die Blumen, wenn deine Mutter nicht da ist.« Gleich darauf biss er sich auf die Lippen. Verflixt, das hätte er so nicht sagen sollen.

»Setz dich«, forderte sie ihn auf. »Ich mach uns ein bisschen Musik. Außerdem habe ich die Bilder vom letzten Silvester hervorgekramt. Die hast du doch noch gar nicht gesehen, nicht wahr?!«

»Äh, nein, du hast recht. Höchste Zeit, dass wir sie uns einmal anschauen.« Unentwegt suchte er für die Hände eine neue Position. Endlich hatte er sie gefunden. Auf einem seiner Oberschenkel knetete nun eine Hand ununterbrochen die andere.

»Du bist so aufgeregt. Hattest du vorher Ärger mit deiner Mutter? Wollte sie dich nicht zu mir herunterlassen?«

»Nein, nein«, wehrte er gestikulierend ab. »Ganz im Gegenteil. Mutter kann dich gut leiden.«

Plötzlich setzte sich Anita neben ihm auf die Couch und sah ihm entschlossen in die Augen. »Nun?«

Der Adamsapfel von Tobias jagte hektisch hoch und runter. »Was, äh, meinst du mit nun?« Die Mundwinkel verzogen sich krampfhaft zu einem Lächeln. Ihr Gesicht war vielleicht zwei Handbreit von seinem entfernt.

»Schade«, seufzte sie schließlich.

»Schade?«, wiederholte er entsetzt. »Aber was ist schade?!« Seine Augen waren enttäuschend sperrangelweit aufgerissen.

»Hast du denn nicht den winzigen Stern auf meiner Stirn bemerkt? Heute trage ich ihn zur Probe. Weihnachten werde ich ihn mit Kleber festmachen.«

»Stern? Stirn? Ja, jetzt sehe ich ihn.« Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Das also hatte sie gemeint.

»Du hast auch etwas auf der Stirn.«

»Ich?« Entsetzt schnellte seine Hand zum Kopf.

»Ja, dicke Schweißperlen. Ist dir heiß? Zieh dich aus, wenn dir zu warm ist.« Bei diesen Worten ließ sie die Fenster-Jalousie herunter.

»Ausziehen?«, stammelte er. Und so, als wäre das Thema damit erledigt, fragte er sie nach dem Fotoalbum.

Anita bückte sich und förderte, aus dem unteren Teil eines Schranks, ein dickes Album zutage. »Uff, ist das schwer«, stöhnte sie. Keuchend ließ sie sich neben Tobias auf die Couch fallen und legte das aufgeschlagene Foto-Album auf ihren Schoß. »Du kannst die Bilder auch in die Hand nehmen, wenn du möchtest. Die sind nur locker hineingesteckt.«

Der Blick von Tobias glitt fast automatisch auf das Ende ihres kurzen Rocks. Der hatte sich durch ihr Hinsetzen merklich nach hinten verschoben. »Sag mal, den neuen Song, du weißt doch, welchen ich meine? Den ganz neuen Song meine ich. Hast du nach dem schon mal getanzt?«

»Ich dachte, wir sehen uns jetzt die Silvesterbilder an?«, fragte sie. »Außerdem weiß ich nicht, welchen Titel du meinst. Vielleicht den, von deiner Lieblingsband?! Mir ist im Augenblick nicht nach schnellem Tanzen. Ich habe da was Neues. Schön langsam, zum Schmusen. Zärtliche Lieder mag ich, weißt du?! Ich spiel es dir mal vor. Wenn du mit mir danach tanzen möchtest, gern.«

»Na ja, vielleicht hast du recht. Wir sollten uns die Bilder von Silvester ansehen.«

Aber Anita ließ sich von seinen Worten nicht beeindrucken. Sie schaltete das Tape-Deck ein, reduzierte die Beleuchtung im Zimmer auf ein Minimum und zog Tobias von der Couch.

»Ich dachte, wir wollten uns die Bilder ansehen?«, stotterte er verlegen.

Ohne zu antworten, passte sich ihr Körper den rhythmischen Klängen aus den Lautsprechern an. Und da sie sich fest an Tobias schmiegte, hatte dieser keine andere Möglichkeit, als mit ihr nach der Musik zu tanzen.

Im Kopf von Tobias hämmerte es. Wozu hatte er sich wochenlang Gedanken gemacht, wenn jetzt doch alles anders lief? Nichts stimmte mit seinem Vorhaben überein, aber auch nichts.

»Komm, sei doch nicht so verkrampft, Tobi«, nörgelte sie, den Kopf zum Boden gesenkt, vor sich hin.

»Na ja, da soll man wissen, wo man bei dir dran ist. Erst willst du Bilder ansehen, dann tanzen.« Er brauchte Zeit, musste sich mit der neuen Lage vertraut machen, um dann aufs Ganze gehen zu können.

Schweigend vergingen die nächsten Minuten.

»Bist du eingeschlafen, Tobi?«, fragte sie auf einmal mit spöttischem Unterton.

»Sicherlich«, entgegnete er starrköpfig, »ich brauche vielleicht etwas länger als andere. Es gibt Personen, die sind Profis auf dem Gebiet, die hätten dich schon auf die Couch geschmissen, wenn die Wohnungstür noch gar nicht ins Schloss gefallen wäre …«

»Du bist gemein, Tobi.«

»Du weißt genau, dass ich Bruno meine. Vor Kurzem hast du mit ihm noch beim Supermarkt rumgeknutscht und heute tust du so, als würde es nur mich geben. Findest du das in Ordnung?«

»Dachte ich es mir doch, dass deine Mutter dir das erzählen würde. Ich habe nicht mit ihm rumgeknutscht, so wie du dich ausdrückst. Schluss gemacht habe ich. Du hast bestimmt mitbekommen, dass ich mich hin und wieder mit ihm getroffen habe. Aber vorgestern war Ende …«

»Sobald du jemanden erobert hast, machst du Schluss, nicht wahr?! Na ja, bei deinen Erfahrungen muss jemand wie ich ganz schön schlecht abschneiden.«

»Was kann ich denn dafür, wenn du noch nie eine Freundin hattest?!« Ihre Stimme wurde etwas lauter.

»Woher willst du das wissen? Meinst du etwa, ich binde dir alles auf die Nase?«

»Das merkt doch jeder, dass du von Frauen keine Ahnung hast.«

»Von Frauen schon«, ereiferte sich Tobias. »Nur nicht von kleinen Mädchen.«

»Na toll, jetzt hast du die ganze schöne Stimmung verdorben.«

»Ich kann ja Bruno holen, der wird dich wieder in Fahrt bringen.«

Bei den letzten gesprochenen Worten stand sie ihm, mit in den Hüften gestemmten Armen, gegenüber. »Auf dem Rückweg kannst du dann im Gay vorbeifahren. Dort findest du vielleicht die richtige Umgebung, die dich in Fahrt bringt. Ich vermute, du warst zu lange mit meinem Bruder zusammen, dass du gar nicht mehr weißt, wie man mit einem Mädchen umgeht …«

»Tanz doch mit dir selber«, schimpfte er lautstark. Dann ging Tobias auf den Flur und war gerade im Begriff die Wohnung zu verlassen. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Er konnte jetzt unmöglich zurück zu seiner Mutter. Selbst wenn die noch bei Tante Asta wäre. Mit Sicherheit würde sie in Kürze zurückkommen. Er traute ihr sogar zu, dass sie bei Anita läutete, um zu fragen, ob was vorgefallen wäre. Nein, vorläufig konnte er nicht in die Wohnung. »Ich brauche dringend eine Luftveränderung. Kann ich mir mal die Winterjacke von Andreas ausleihen? Ich bringe sie nachher wieder.«

»Borg sie dir ruhig aus«, spöttelte sie böse. »Die rosafarbene Jacke steht dir bestimmt hervorragend.«

Knurrend griff er die Jacke vom Haken und verschwand in der dunklen Kälte des späten Abends. Mittlerweile war eine leichte Brise aufgekommen. Er musste die Kapuze tief ins Gesicht ziehen, um sich vor der erbarmungslosen Kälte zu schützen.

Tobias ließ jede Sekunde des Zusammenseins, in den letzten Minuten mit Anita, noch einmal Revue passieren. Dabei irrte er ziellos durch die weitläufigen Häuserreihen des Viertels. Je mehr er an Anita dachte, desto mehr stieg der Zorn in ihm auf. Er fühlte sich verraten und gedemütigt. Ihn beschimpfte sie und Bruno küsste sie. Hass und eine bodenlose Abneigung übermannten ihn. So waren sie alle. Alle Frauen waren so, fand er. Schließlich hatte er es immer wieder versucht, mal mit dieser oder jener anzubändeln, aber keine ist auf seine Annäherungsversuche eingegangen. Sie waren allesamt verlogen und hatten es sich zur Aufgabe gemacht die Kerle zu unterdrücken und wie Haustiere zu halten. Heute Zuckerbrot und morgen Peitsche. Tobias spürte, wie er anfing, weibliche Personen zu hassen. Jedes weibliche Wesen zu hassen …

»Bist du das, Tobi? – Tatsächlich! Ich hätte dich in dem Schwulenkostüm bald gar nicht erkannt.«

Tobias war derart gedankenvoll, dass er anfangs gar nicht mitbekam, dass diese Stimme aus dem Nichts, ihn meinte. Da, aus dem Hauseingang kam die trällernde Mädchenstimme. War das nicht Rebecca, überlegte er? Das fahle Licht der entfernten Laterne ließ ihn konzentriert auf den Hauseingang schauen. Ja, es war Rebecca. Nur zu gut hatte er ihre Worte von damals noch in den Ohren. Du kannst mit einem Mädchen doch gar nichts anfangen, lachte sie ihn lauthals aus, als er sie mit bebender Stimme fragte, ob sie mit ihm ins Kino gehen wolle. Warum musste er auch ausgerechnet Rebecca fragen, von der jeder wusste, dass sie bereits einige Männerbekanntschaften hinter sich hatte. Er hätte es zuerst bei einer der vielen anderen Mädchen versuchen sollen.

»He, Tobi, hast du vielleicht eine Ahnung, wo man sich bei der Kälte aufhalten kann? Wollen wir da vorn ins Café gehen? Lädst du mich ein, ja? Mein Freund hat mich versetzt. Meine Eltern sind nicht zu Hause und ich habe den Wohnungsschlüssel vergessen. Und jetzt kommst du plötzlich vorbei. Das nenne ich Glück.« Ihre Augen waren halb zusammengekniffen und beobachteten ihn genau.

Sie schätzt mich ab wie ein Stück Vieh, schoss es ihm durch den Kopf. Mit langsamen Schritt bewegte er sich in Richtung Hauseingang. Gleich darauf stand sie vor ihm. Die Arme verschränkt und von einem auf den anderen Fuß wippend sah sie ihn herausfordernd an.

»Was ist nun, lädst du mich ein oder nicht?«

Er sah sie an, ohne auch nur ein Wort zu erwidern. Du bist so falsch wie die Nacht. Ihr seid alle falsch. Er hatte es eben erst bei Anita erlebt. Seine Gedanken waren mit einem Mal gelassen, sehr gelassen.

»Okay«, zuckte sie entschuldigend die Achseln. »Sei nicht so nachtragend, das habe ich damals gar nicht so gemeint. Ich gehe mit dir morgen oder übermorgen ins Kino. Einverstanden?! – Sag mal, kannst du auch sprechen oder ist dir bei der Kälte der Mund zugefroren. Das wäre bestimmt schade.« Ihr Augenaufschlag war provozierend. »He, warum starrst du mich so an, wie ein Irrer. Lass das, hörst du. Nimm deine Hände von meinem Hals. Ich schreie. Sag mal, spinnst du … Ich bekomme kaum noch Luft. Verschwinde, du Idiot. Ich wusste doch, dass du zu blöde bist mit einer Frau was anzufangen. Hau ab, habe ich gesagt …«

Eine seltsame, befriedigende Entspannung floss auf einmal durch den Körper von Tobias. Eine Freiheit, eine nie gekannte Ungezwungenheit überkam ihn.

»Mein Gott, was machen Sie denn da?!«

Zu Tode erschrocken fuhr er herum. Im Halbdunkel des Weges, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, erkannte er eine Gestalt. Eine weibliche Person. Aufgrund des Kopftuches, das sie trug, musste sie älter sein.

»Herrje, Sie haben ja jemand niedergeschlagen …« Die Stimme verstummte vor Schreck.

Tobias drehte sich um und lief weg. Er sagte nichts. Er lief nur. Die Stimme, die er da aus dem Dunkeln hörte, war ihm vertraut. Es waren die Worte seiner Mutter.

Wie ein aufgescheuchtes Wild hetzte er quer durch die Häuser. Nachdem ihn die Kräfte verließen, blieb er keuchend hinter einer Hausecke stehen. So ein Quatsch, was rannte er hier ziellos herum?! Er musste zusehen, dass er rasch nach Hause kam. Vor der Haustür angekommen, klingelte er bei Anita. Er versuchte, so locker wie möglich zu wirken, als er ihr die Jacke hinhielt.

Mit stark geröteten Augen öffnete sie ihm die Tür. Sekundenlang sahen sie sich beide wortlos an. »Ich wollte dir nur sagen«, schniefte sie, »dass ich außer dir nie einen anderen geliebt habe.« Dabei schnäuzte sie herzzerreißend in ihr Taschentuch. »Wenn ich mich mit jemand anderen getroffen habe, dann immer nur, um dich zu ärgern. Du solltest um mich kämpfen. Ich wollte dir nicht hinterherlaufen, verstehst du das denn nicht?!« Die Worte klangen eher bittend, als vorwurfsvoll.

Draußen war plötzlich das stetig lauter werdende Martinshorn der Polizei oder Feuerwehr zu hören. Ohne ein Wort zu sagen, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppen bis zum zwölften Stock empor. In der Wohnung warf er sich hechelnd auf sein Bett.

»Tobias. Hallo, ich bin es, deine Mutter.«

Es dauerte mehrere Augenblicke, bis er richtig zu sich kam. Ein Blick zur Uhr. Er musste eingeschlafen sein. Nach und nach fielen ihm bruchstückhaft die Vorgänge des Abends wieder ein. Angst, er hatte plötzlich fürchterliche Angst.

»Hast du dich schön amüsiert, mein Sohn?« Nachdem er nicht antwortete, sprach sie weiter. »Sei froh, dass du heute Abend nicht draußen warst. Ich habe gesehen, wie eine Frau niedergeschlagen wurde. Nur wenige Meter von mir entfernt. Stell dir das Mal vor!« Martha Sievert war völlig empört. »Dann hat sich herausgestellt, der Kerl hat die doch tatsächlich umgebracht. Ein ganz heimtückischer Mord war das. Kaum vorzustellen, du wärst heute Abend mit Anita spazieren gegangen. Und der Wahnsinnige hätte sich von hinten an euch herangeschlichen.« Sie schüttelte sich bei diesem Gedanken.

»Wenn du direkt vor ihm standest, kannst du ihn sicherlich genau beschreiben.« Tobias hatte die Stimme wieder gefunden.

»Ach, weißt du«, wiegte seine Mutter nun unschlüssig den Kopf hin und her, »der Kerl hatte eine Winterjacke an. So eine dicke und bunte, wie …« Sie hörte mitten im Satz auf zu sprechen.

»Wie wer?« Er horchte neugierig auf.

»Na, wie ihr Bruder Andreas. So eine komischfarbene Jacke gibt es doch nur einmal.« Ihre Worte sprudelten nun förmlich aus ihr heraus. »Welcher normale Junge zieht denn so was an? Das weiß doch jeder hier im Viertel, dass der es nur mit Jungen treibt. Und dann begegnet er plötzlich einem Mädchen …« Sie unterbrach sich für mehrere Sekunden, bevor sie weiter sprach. »Tja, und ruck zuck murkst er die Kleine ab, weil er Mädchen nicht mag. Ich bin richtig froh, dass du mit so einem Mörder nicht mehr befreundet bist.«

»War die Polizei schon bei ihm?«

»Ich habe dem Kommissar erzählt, was ich wusste. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Das war gar nicht möglich. Er hatte seine Kapuze übergestülpt. Aber die Jacke habe ich genau erkannt, als er an der Laterne vorbeilief. Das habe ich ihm gesagt. Nachdem er die Frau getötet hatte, wollte ich Hilfe holen. Ich bin dann ein bisschen aufgeregt hin und her gelaufen, habe irgendwo geklingelt. Ich dachte mir, warum guckt denn keiner aus dem Fenster. Da sah ich plötzlich von weitem unseren Hauseingang und wie der Kerl da hineinlief. Jetzt war mir klar, dass ich mich nicht getäuscht hatte, dass es Andreas war, der das Mädchen umgebracht hat.«

Es klingelte an der Wohnungstür. Martha Sievert schrak sichtlich zusammen. »Mein Gott«, stammelte sie ängstlich vor sich hin und begab sich nach vorn, um zu öffnen. Kurz darauf kam sie mit zwei Kriminalbeamten zurück.

»Kommissar Steffen. Mein Assistent Kröger«, stellte der ältere der beiden sich vor. »Ihre Mutter hat Sie über alles informiert?«

Tobias sah den Beamten regungslos an. Wenn Sie Andreas und Anita vernommen hatten, wussten sie bereits Bescheid. Dann war die Fragerei nur Makulatur. In wenigen Augenblicken würden sie ihm Handschellen anlegen und abführen. Er sah in die Pupillen des Kriminalbeamten. Diese Augen blickten messerscharf, durchdringend und befriedigt zugleich. Diese Augen hatten den schwierigsten Teil der Aufklärung hinter sich, das spürte er.

»Wollen Sie nicht antworten?«, fragte Kommissar Steffen. »Ich nehme an den Grund zu kennen, warum Sie schweigen. Die Tochter von Frau Scheng, teilte ihn uns mit. Sie sind doch mit Andreas Scheng früher befreundet gewesen, oder?«

Tobias ließ ein langgedehntes »Ja« vernehmen.

»Sie müssen auch nicht antworten«, entgegnete Kröger. »Wir kennen den Tatablauf.«

Die Augen von Tobias wurden feucht. Das war es also, überlegte er. Er raffte sich auf, warf seiner Mutter einen letzten Blick zu und schritt den Beamten entgegen.

»Sie müssen nicht mitkommen«, wehrte Kommissar Steffen ab. »Wie gesagt, wir haben Verständnis dafür, wenn Sie nicht antworten wollen. Daraus erwachsen Ihnen keine Nachteile. Das Geständnis des Mörders liegt bereits vor …«

»Geständnis …?«, stutzte Tobias.

»Na ja, anfangs hat uns Herr Scheng ausgelacht und behauptet, dass wir spinnen. Selbst, als Ihre Mutter schwor die Jacke erkannt zu haben, war er immer noch überheblich. Nachdem seine Schwester jedoch in einem Weinkrampf ausbrach, schien ihm klar geworden zu sein, dass es kein Entrinnen gab. Er umarmte sie, wechselte einige Worte mit ihr, tröstete sie und gab schließlich alles zu.«

Tobias stand regungslos da und schluckte mehrmals aufgeregt.

Im Gehen wandte sich Kommissar Steffen noch einmal um und sprach: »Bald hätte ich es vergessen, Herr Sievert. Seine Schwester bat mich, Sie zu fragen, ob Sie die Nacht bei ihr verbringen könnten. Es hat ihr wohl ganz schön zugesetzt, was da in den letzten Stunden passiert ist. Ihre Mutter hat nichts dagegen.«

»Ich habe auch nichts dagegen«, ergänzte Martha Sievert schnippisch. »Du kannst ja die Luftmatratze mit Hinunternehmen, Tobias …«

Grüße von Charon

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