Читать книгу Blütenteppich - Reinmund Anton Frommer - Страница 3

STRANDGUT

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An einem kühlen, aber sonnigen Frühlingsmorgen schippert gemächlich ein Passagierschiff den Rhein hinab. Die ersten, über den Schwarzwald reichenden Strahlen glitzern friedvoll in den Wellen, jenseits der Ufer schwinden Nebelschwaden zwischen alten Weiden. An der Reling des Kahns hält sich ein Rentnerpaar fest. Es verfolgt gebannt, wie aus einem am Strand parkenden, roten klapprigen Ford ein Mann auf Händen und Füßen aus dem Auto kriecht. Was er hier um diese Zeit macht, werden sie sich wohl auf dem Schiff fragen. Und auch der nächtliche Vagabund muss kurz überlegen, weshalb er hier ist.

Richtig, er hatte Streit. Einen so heftigen Streit mit Jiska, wie er ihn noch nie zuvor mit ihr erlebt hat. Doch nun scheint er darüber hinweg zu sein, denn Carlos Buschkowski fasst, indem er dem Paar vorsichtshalber freundlich zuwinkt, einen Entschluss. Zufrieden durchwühlt der Mittvierziger Kofferraum und Fond des Autos, bis er eine Wasserflasche findet, trinkt sie halbleer ohne abzusetzen.

Zuvor noch hatte er sich auf der zerschlissenen Rückbank vorgestellt, er wache am Ufer des Müggelsees auf, habe Berlin vielleicht nie verlassen. Nun, in Betrachtung des Dampfers, der gelichtete Anker einer unbeschwerten Kinderzeit, erkennt er den Weg zurückzukehren, erhobenen Hauptes. In einem Anfall von Übermut schüttet Buschkowski sich den Rest des Wassers in das Gesicht. Anschließend trägt er die leere Rotweinflasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes - ordentlich, wie er als sozialistisches Lehrerkind erzogen worden ist - zum nächsten Abfallcontainer auf dem Damm.

Ist das wirklich gut, was er vorhat?

Buschkowski sitzt im Auto, abfahrbereit, spürt am Hals, wie sein Blut pulsiert. Den grässlichen Geschmack von den vielen Zigaretten, die er zum Wein in der Nacht Kette geraucht hat, ist er leider immer noch nicht los.

Was würde Jiska zu seinem Plan sagen, wenn sie ihn erführe?

Nein, besser nicht. Noch nicht. Er sucht die verbrauchte Luft zu vertreiben. Bläst so intensiv, dass ellipsenförmige Speicheltropfen an der Frontscheibe landen. Schaut zu, wie sie ein Rinnsal bilden, hinabgleiten bis zur Vignette für die Schweizer Autobahnen. Buschkowski erinnert sich, wie das Auto zu diesem Aufkleber gekommen ist und nickt. Ja, er muss es tun!

Mit dem Ärmel seiner Jacke reibt er die Spucke weg, die Hand greift zum Zündschlüssel, unter dem rechten Schuh klebt die Folie einer Zigarettenschachtel. Das Unterfangen, sie beiseitezuschieben, scheitert kläglich. Der Kunststoff knistert hartnäckig, hängt am Absatz wie ein durchgekauter Kaugummi. Schon scharrt Buschkowski wie wild mit dem Fuß, flucht dazu wie ein Berserker. Und beginnt zu schwitzen.

Es war gestern mehr als eine der in letzter Zeit häufigeren Meinungsverschiedenheiten. Im schlimmsten Fall streicht niemals wieder Jiskas Hand wie zufällig über seine, bevor sie im Handschuhfach nach Sonnenbrille oder Lippenstift greift, kein Knie drückt jemals wieder in seinen Oberschenkel, beim Ablegen der Handtasche auf dem einstmals für die Kinder gedachten Rücksitz. Ach, warum musste es nur so weit kommen!

Buschkowski denkt darüber nach, die Folie aufzuheben und hinüber zum Container zu tragen. Stattdessen zündet er sich die letzte Zigarette an, sucht sich an Jiskas Stimme zu erinnern, den Duft des Haares, die wohlige Wärme ihres Körpers.

Warum rauchst du wieder?

Er zuckt apathisch mit den Schultern.

Du hattest versproch en, das Auto zu putzen und bei der Gelegenheit die Scheibenwischer zu erneuern. Man sieht ja kaum noch was!

Wäre ich sonst hier, versucht er mit letzter Kraft den durchaus berechtigten Hinweis ad absurdum zu führen. Seine Hand tastet nach der Folie auf dem Boden.

Bringst du denn gar nichts mehr auf di e Reihe?

Die Verpackung klebt an seinen Fingern. Da hilft auch kein heftiges Schütteln. Er unterdrückt jeden weiteren Fluch, klemmt das freie Ende der Folie zwischen seine Knie, um die Haut vom Plastik zu befreien. Buschkowski will ungehindert der Stimme in seinem Kopf lauschen, sich von Jiskas ansonsten für alles Leid dieser Welt bereit gehaltene Anteilnahme trösten lassen. Doch die Stimme schweigt mit einem Mal.

Er wartet. Eine Minute, zwei Minuten. Nein, nicht an gestern Abend denken. Buschkowski sieht nach draußen auf den Parkplatz. In den Ritzen zwischen den Betonplatten reckt sich das erste Unkraut des Jahres der Sonne entgegen, huscht ein Eichhörnchen über das Gras eine Weide hinauf.

Es fällt Busch - so werden wir ihn bequemerweise in Anlehnung an seine ehemaligen Schulfreunde ab jetzt nennen - es fällt ihm immer noch schwer, den Gesprächen seiner neuen Mitbürger zu folgen. Anfangs kannte er weder lokale Maßeinheiten beim Wein noch manch nördlich des Mains wenig gebräuchliche Nudelteigvarianten. Inzwischen hat er sich an die Herrgottsbescheißerle gewöhnt, sie sogar irgendwie liebgewonnen. Dafür muss er sich die verschluckten Wortendungen, die über Geschlecht und Menge Auskunft geben sollen, immer noch hinzudenken, langgezogenen Vokalen ihre wahre Bedeutung abringen und dass hier ein Teppich in erster Linie nicht einen Teppich meint, sondern eine Wolldecke, mit dieser lokalen Eigenart wird er sich wohl nie anfreunden können.

Er schaut auf die Armbanduhr. Wie lange lebt er eigentlich schon hier? Busch weigert sich nachzurechnen. Alles scheint Mühsal, scheint Kampf in seinem Leben zu sein und Zahlen sowieso nur nackter Wahnsinn, jedenfalls für ihn.

Und desha lb bist du auch pleitegegangen!

Erbittert drückt Busch die Zigarette aus und fällt statt zu starten erschöpft hinüber auf den Beifahrersitz. Er starrt in die Ablage unterhalb des Handschuhfachs, wo Strafzettel und Parkkarte sich den Platz mit Jiskas Haarbürste teilen. Wie schön wäre es, wenn sein Haupt jetzt auf ihren Oberschenkeln ruhte, sie ihm zärtlich durch das von ersten grauen Strähnen durchwirkte braune Haar streichen würde, ihn von der Ungerechtigkeit dieser Welt ablenken könnte. Busch würde für einen Moment vergessen, dass er ein Versager, ein Nichtsnutz ist.

Nein, so hat sie es nicht formuliert. Jiska würde nie so etwas zu ihm sagen. Dafür ist sie viel zu feinfühlig. Sie hat es gepflegter, blumiger ausgedrückt.

Ob er denn nun schon eine Vorstellung von seiner beruflichen Zukunft habe, hatte sie ihn gestern gefragt, mitten hinein in das Abendessen. Busch schob sich gerade eines der Kichererbsenbällchen in den Mund, die er extra für Jiska gekocht hatte. Seitdem sie unverhofft Besitzerin eines teuren Kunstwerkes geworden ist, scheinen ihre Geschmacksnerven noch empfindlicher geworden zu sein. Er selbst war mit den Bällchen durchaus zufrieden gewesen, für den ersten Versuch. Denn Busch ist, seitdem er arbeitslos ist, der Koch im Haus. Manchmal schaut er sich gar die mittäglichen Shows im Fernsehen an, versucht Rezepte nachzukochen, hauptsächlich um Jiska zu gefallen.

Und? Sie hakte nach, bevor er sich die nächste Kugel in den Mund schieben konnte.

Busch tat, als ob es für ihn noch etwas zu kauen gäbe. Dann, bevor ihn ihre strafenden Blicke treffen konnten, bemerkte er, dass das Kokosöl, das er zum Braten verwendet habe, dem Ganzen noch eine interessantere Note gäbe. Ob sie derselben Meinung wäre?

Jiska legte ihr Besteck geräuschvoll beiseite, griff zum Weinglas, nahm einen gehörigen Schluck. Beim Abstellen knallte das Glas auf den Tisch. Ungewohnt scharf hob sie hervor, dass es ein nochmaliges gastronomisches Abenteuer mit ihrer Unterstützung nicht mehr geben werde. Selbst wenn sie zehn von Fichtes Gemälden besäße. Als ob Busch jemals um ihre Beihilfe gebettelt hatte. Anschließend stellte sie ihre Lieblingsfrage. Jene, die ihn zielsicher auf die Palme bringt. Warum er denn nicht wieder als Lehrer arbeiten wolle? Das wäre doch so ein schöner Beruf. Sie wäre froh -

Niemals!

Auch sein Besteck glitt nun geräuschvoll aus den Händen. Ehrlich gesagt, bezüglich der Lautstärke hatte er sie übertrumpft. Nicht jedoch bei den Argumenten. Busch bastelte noch an einer weiteren Variation seiner Standardantwort, die da lautet, dass er keinesfalls in einem Beruf arbeiten wolle, dem in diesem Lande niemand Respekt entgegenbringe. Weder Eltern noch Schüler, am allerwenigsten die Politik. Weil sie die Lehrer allein lasse in ihren Nöten. Als Jiska bereits entgegnete, dass man sich Respekt auch verdienen müsse.

Sie möge ihn bitte mit Allgemeinplätzen verschonen, gab er mürrisch zurück.

Was Jiska nicht abhielt zu betonen, dass es ihm lediglich an Selbstvertrauen mangele. Sie könne sich Busch sehr gut vor einer Klasse vorstellen. Immerhin würden Lehrer gegenwärtig gesucht werden.

Busch schnaufte unüberhörbar. Er kenne genügend ehemalige Kollegen, die ihr Metier glänzend beherrschen und trotzdem keine Anerkennung erfahren würden.

Selbstverständlich sehe sie ebenso wie er, lenkte Jiska nun ein, dass oftmals Lehrer, ähnlich wie Fußballtrainer, für Dinge verantwortlich gemacht werden würden, die Spieler und Vereinsführung versäumt hätten. Dennoch glaube sie, dass Busch es zumindest einmal versuchen solle. Schon wegen des Beamtensoldes.

Da hatte er ihn wieder herausgehört, den wahren Grund ihrer Intervention. Den Kopf gesenkt, das Besteck ordentlich nebeneinander in die Mitte des Tellers legend - wie ein Ehepaar, das ohne nähere Absichten zu Bett geht - bemühte er sich, die Zwangsläufigkeit seiner ursprünglichen Berufswahl herauszustreichen. Er wisse eben mittlerweile, dass es ein Missverständnis gewesen sei, den Lehrerberuf zu ergreifen. Und wenn sie ihm jemals richtig zugehört habe, würde sie sich erinnern, dass es schon damals kein Traumberuf für ihn gewesen, sondern er eher wie die Maria zu ihrem Kind gekommen sei, gewissermaßen.

Traumberuf, wiederholte sie säuselnd und verdrehte ihre wunderschönen grünen Augen. Auch sie arbeite keinesfalls in ihrem, wie er sich vielleicht erinnere. Trotzdem sie gern für Jäger arbeite. Erst recht, seitdem ihr diese unerwartete Anerkennung widerfahren war, indem er ihr das "Mäusemädchen" zum Geschenk gemacht habe.

Busch würgte im festen Glauben, etwas stecke ihm im Hals, klebe am Gaumen wie ein Stück Gemüseschale. Ein Milliardär, der einer Angestellten sein teuerstes Kunstwerk schenkt. Jiska will partout nicht glauben, dass an der Sache etwas faul sein muss. Er griff erneut zum Glas, in Berlin wäre Bier darin gewesen. Ob sie sich denn noch niemals geirrt habe in ihrem Leben, fragte er leicht echauffiert, als er ausgetrunken.

Statt zu antworten, griff Jiska ebenfalls zum Weinglas, ließ es zwischen ihren Fingern tanzen.

Ob er etwa dieser Irrtum sei, fragte Busch mitten hinein in die folgende Stille.

Sie hielt ein im Tanz, schaute ihn von der Seite an. Ein Lächeln huschte über ihre sinnlichen Lippen, strich die freie Hand zärtlich durch sein Haar, bevor sie ihm fest in den Nacken griff, seinen Kopf zu sich heranzog, ihn küsste. Ein Bukett von herber Pflaume schwappte da herüber. Busch überlegt, was er getan, wenn sie anschließend ja gesagt hätte. Aber sie sagte nichts. Jiska trank ihr Glas in aller Ruhe aus, griff nach der Flasche und füllte nach.

Der Weinhändler, dieser Geizkragen, könnte ihnen endlich einmal Rabatt gewähren. Bei den Umsätzen, die sie ihm momentan bescheren. Wobei das nicht immer so war. Es gab Zeiten, da trafen sie sich nur zu Hause, um zu schlafen –

Carlos schaut zum Fenster hinaus, die Weide hinauf, sucht den buschigen Schwanz des Eichhörnchens zwischen den Ästen zu entdecken. Gleichwohl versteckt es sich vor ihm, selbst als er mit der Nase beinahe im überquellenden Aschenbecher steckt.

Jiska?

Eine Frau läuft hinter dem Auto vorbei. Ihre dünnen Absätze pochen darauf seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Schwermütig verfolgt er im Seitenspiegel, wie die langen schlanken Beine Richtung Süden marschieren. Nun, Jiska ist es nicht, niemals! Natürlich hat er es sofort gehört, am Schritt. Ihr Tritt war... ist fester, behutsamer.

Busch kommt nicht an gegen die unbestimmte Furcht, seine Geliebte, den Geruch ihrer Haut, den Geschmack der Lippen am Morgen, da noch kein Lippenstift sie bedeckt, mit seinem neuesten Plan endgültig zu verprellen.

Liebst du mich denn noch?

Er schnappt nach Luft, eine wahnsinnige Enge in seiner Brust droht ihm die Luft abzuschnüren.

Warum willst du mich dann verlassen?

Busch pustet, atmet schwer. Nun, er will sie ja gar nicht verlassen. Niemals! Warum sollte sie nicht einfach nach Berlin mitkommen? Sie liebt ihn doch! So erfolgreich, wie sie ist – Jiska würde überall einen Job bekommen. Stattdessen –

Die Brust schmerzt, als ob Steine auf ihr lägen. Ihm ist brennend heiß. Er reißt die Jacke auf, windet sich mühsam heraus, wirft sie auf den Rücksitz.

Das hast du nun davon!

Sein Entsetzen wächst, als er bemerkt, dass die Scheiben des Autos unterdessen angelaufen sind. Schweißperlen sprießen auf der von Zornesfalten zerfurchten Stirn, scheint der Innenraum des alten Fords dem Klima eines Tropenhauses zu gleichen. Wie meist in solchen Fällen liefert die eigene Person den Anstoß zum Verdruss. Er ärgert sich, dass er es überhaupt so weit hat kommen lassen - alles! Ist wütend, dass er auch jetzt im Auto sitzt, anstatt diesen Schnösel von Kunstsammler aufzumischen. Schließlich ist Jäger schuld, dass Busch das Beisel schließen musste, zumindest indirekt. Er nie am rechten Ort zu sein scheint, sein ganzes Leben lang. Und überhaupt! Die Welt ist ungerecht und gemein! Warum Jiska, warum er?

Das Schicksal ist allein dafür da, es anzunehmen.

Schicksal, wenn er dieses Wort schon hört! Es macht Busch wahnsinnig, dass Jiska ihm etwas verschweigt, sie ihm nichts zuzutrauen scheint.

Eventuell sei sie gerade dabei einen Fehler zu begehen, hatte sie ihm später offenbart. Wahrscheinlich den größten ihres Lebens, aber der habe nun wirklich nichts mit ihm, mit Busch zu tun.

Also habe es etwas mit Jäger und diesem Bild zu tun, stellte er fest.

Jiska nickte. Mehr könne und wolle sie ihm nicht verraten. Einfach um ihn zu schützen. Sie sei überzeugt, jemand habe mit dem heimlich angefertigten Duplikat des „Mäusemädchens“ dem Kunstsammler schaden wollen, und nicht ihr. Annemarie, Jägers Anwältin und gleichzeitig ihre beste Freundin, wolle mit ihr heute in die Schweiz reisen, ohne dass der Chef hiervon wisse. Im Grunde komme Jiska sich schäbig vor, wie eine Verräterin. Dabei wären sie sich nicht einmal sicher, ob Jäger von den zwielichtigen Geschäften seiner Stiftung unter Olgas Federführung weiß. Jiska könne es sich eigentlich nicht vorstellen. Weil es keineswegs zu ihrem Bild von ihm passe.

Welches Bild sie denn von ihm, von Busch habe, fragte er daraufhin genervt.

Ihr vorheriges Lächeln gerann zu Trauer, die Hand entschwand aus seinem Nacken. Bevor Jiska jedoch zur Flasche greifen konnte, hatte Busch sie sich geangelt und die Neige für sich in Anspruch genommen.

Er sei ein netter Kerl, ein Träumer. Und deshalb liebe sie ihn! Ihr Blick schweifte von dannen, hinüber zum Fenster, von dem man aus das Alte Schloss sehen konnte. Aber, fügte sie nach einer Weile hinzu, für den Kapitalismus, für marktwirtschaftliche Konkurrenz, sei Buschkowski als Unternehmer nur bedingt geeignet.

Ihre Feststellung kratzte an seiner Ehre. Warum dann seine Berliner Bar so gut gelaufen sei, fragte er verärgert.

Jiska lachte laut auf. Was er unter gut gelaufen verstehe?

Immerhin habe sie ihn ernährt, bekräftigte Busch seinen Standpunkt. Und mehr brauche er nicht.

Das sei das Missverständnis, das sei sein Fehler, triumphierte Jiska nun. Ein Geschäft müsse immer auch einen Gewinn abwerfen, um den Eigentümer zu tragen. Busch habe ja bisher kaum etwas für die Rente einbezahlt, zum Beispiel.

Rente, Rente, wiederholte Busch mit hochrotem Kopf. Er fühlte sich ertappt. Das Wort und alles, was er damit verbindet, möchte er am liebsten aus seiner Zukunft streichen, allerdings mit schwindendem Erfolg. Leute wie Jäger seien die Totengräber der Welt, holte er zum großen Gegenschlag aus. Mit überhöhten Ansprüchen, mit Millionen, die sie wie Hütchenspieler hinter Immobilien, Kunstsammlungen, Industriebeteiligungen und nicht zuletzt zwischen Brüsten junger schöner Frauen verbergen. Weil es die Eitelkeit und den persönlichen Reichtum mehrt. Und ihre Angestellten seien billige Helfershelfer. Erst recht, wenn man sich so wie Jiska in ihre Machenschaften hineinziehen lasse.

Sie habe ausschließlich Jäger helfen wollen, widersprach Jiska und schielte nach seinem Glas.

Busch hüstelte siegesgewiss. Die Gierigen dieser Welt beuteten Erde und Mitmenschen bis auf das Blut aus, nur um sich in ihrem Reichtum gegenseitig zu übertrumpfen. Er jedenfalls wolle niemals zu dieser Gruppe zählen.

Jiska wurde blass. Er habe ja keinerlei Ahnung, zischte sie, wie viele karitative Einrichtungen Jäger mit seinem Geld unterstütze. Sagte es und trank Busch das Glas leer.

Der nahm den Raub gelassen, ihre Verlautbarung über Jäger aber ärgerte ihn. Der Mann ist von Anbeginn ihrer Beziehung ein rotes Tuch für Busch, dessen Präsenz in Jiskas Leben, ihre beinahe blinde Gefolgschaft macht ihn wütend. Sehr wohl würden die Superreichen, echauffierte er sich nun, mit ihren Spenden bestimmen, wer es wert sei, nicht vor Hunger zu sterben; wessen geschäftliche Ideen überleben, wessen Kunst überhaupt eine Chance bekomme, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nur die wenigsten der Geldgeber zeigten Charakter, indem sie Pläne unterstützten, die ihren eigenen Interessen widersprechen. Und das solle demokratisch sein?

Busch kann nicht sagen, was ihn mehr aufregt. Die Anziehungskraft des Geldes auf Jiska, die er anfangs so nicht bemerkt haben will, oder dass sie mehr Zeit mit Jäger verbringt als mit ihm selbst, aufgrund ihrer Tätigkeit als dessen persönliche Assistentin. Nicht zu vergessen, dass seine Freundin den Hauptteil des gemeinsamen Einkommens beisteuert, ihr die Wohnung gehört, er momentan außer Haushaltsarbeit so gut wie nichts beitragen kann. Alles zusammen tut weh, sehr weh.

Er versucht das Kribbeln in der Herzgegend weg zu massieren. Nichtsdestotrotz, Eifersucht sollte als Grund für die nachfolgende Eskalation ausfallen. Busch doch nicht. Aber, so grübelt er, was war es dann, was in ihm derartig gegärt hatte?

Er frage sich oft nächtens, hatte er den Disput auf die Spitze getrieben, warum Jäger Jiska dieses teure Bild geschenkt habe? Ein Bild, das ihr übrigens seitdem nichts als Ärger einbringe. Aber den übernehme sie ja gern für ihren Chef. Und außerdem, während Jäger die junge exzentrische Olga, die seine Enkelin sein könne und so gar nicht zum öffentlichkeitsscheuen Kunstsammler passe, geheiratet habe, hätte Jiska Buschs Heiratsantrag mit der Begründung abgewiesen, sie wäre noch nicht so weit. Was solle er also aus allem schließen?

Seine Freundin schluckte, rang mit aufkommenden Tränen. Einen Schlag ins Gesicht, eine Ohrfeige als Antwort auf diese Frage - Busch hätte es verstanden, denn er schämt sich nun dafür. Jiska jedoch rannte hinaus in die Nacht. Wenige Minuten später folgte er ihr, wollte sie suchen, sich entschuldigen. An den üblichen Plätzen fand er sie aber nicht.

Um Mitternacht war er reumütig zurückgekehrt. Jiska stand telefonierend oben am Fenster ohne ihn wahrzunehmen, während Busch unten auf der Straße rätselte, mit wem sie um diese Zeit sprach. Vielleicht war es Annemarie, oder Jäger. Erneut kochte die Eifersucht in ihm hoch, er schien mittlerweile dagegen machtlos zu sein. Aufgebracht tastete er nach dem Wohnungsschlüssel und fand allein den Schlüssel für das Auto. Nein, diese Blöße hatte er sich nicht geben wollen. An der eigenen Wohnungstür klingeln, um eingelassen zu werden, von ihr abhängig sein. Ja, sie sollte ihn vermissen, ihn suchen wie eine Verzweifelte. Er kaufte an der Tankstelle eine Flasche Rotwein und Zigaretten und fuhr zum Rheinstrand. Sie sollte spüren, wie es ohne ihn wäre. Damit sie zur Einsicht kommt. Damit sie endlich bemerkt, wie schlimm Einsamkeit sein kann.

Busch bückt sich nach der Folie, wirft sie in den Container. Dass sein Handy ebenso auf der Kommode im Flur liegen muss, bemerkte er erst hier am Rhein. So scheint es unmöglich, miteinander zu reden. Dennoch, er wird keineswegs zu Kreuz kriechen und sich wieder als Lehrer bewerben. Lieber geht Busch zurück nach Berlin, notfalls zunächst allein. Zuvor jedoch will er einen letzten Versuch starten, will seine Geliebte beeindrucken. Ganz bestimmt sogar wird er das und dann wird sie ihn begleiten. Er wird nämlich die Wahrheit über das "Mäusemädchen", über Jägers Anteil am Falsifikat und dessen Folgen ans Licht zerren, auf legale Weise, versteht sich. Mit betrügerischen Tricks, dazu im Rücken ein dickes, von Papa ererbtes Konto, so wie Jäger, auf diese Weise kann heutzutage jeder seine Meinung durchsetzen, zur Not Leute kaufen. Diese Form der Wahrheitsfindung widerspricht Buschs Ethik. Ihn ekeln all die geschmeidigen Typen, die ausschließlich mit goldenen Kreditkarten zahlen und hier in der Stadt zuhauf herumlaufen, maßlos an. Ja, er wird wieder eine Bar eröffnen. Seine Bar, so wie er sie sich vorstellt, nur für Barzahler. Mit Kreditkarten zahlende Schuldenschlepper werden vor der Tür bleiben, wie angeleinte Hunde. Auf die dummen Gesichter freut er sich jetzt schon. Doch bis es soweit ist, wird er seine Wut, seinen Selbsthass, diese ohnmächtige Entrüstung (was für ein irreführendes Wort in diesem Zusammenhang) in vernunftkontaminierte Bahnen lenken, seine Gefühle unter Kontrolle bringen müssen, um die zuvorderst anstehende Mission Wiedergutmachung in Angriff zu nehmen. Ja, heute ist ein glänzender Tag hierfür, denn Jiska fährt in die Schweiz und Jäger ist somit allein.

Um sich zu motivieren, umarmt Busch das Steuer, stützt das von grau melierten Bartstoppeln mäßig verhüllte Kinn auf das Lenkrad und schließt die braunen Augen. Er will seine Geliebte jetzt vor sich sehen, sie riechen, hören. Denn er braucht sie wie die Luft zum Atmen. Nie könnte er mehr ohne sie sein. Allein was in seine Vorstellung tritt, ist das Bild, das ein Teil seiner Pläne ist – das Mäusemädchen. Eigentlich heißt es ja gar nicht so. Der Originaltitel lautet "Echte Liebe kennt keine Entbehrungen (oder Konkurrenz)". Er ist aber Jägers Mitarbeitern zu lang. Scharfzüngige Zeitgenossen behaupten, Fichte benötige für die Kreation der Titel mehr Zeit als für das eigentliche Werk. Im Fall des Mäusemädchens ist es eine überdimensional große Leinwand, auf dem die Konturen eines liegenden weiblichen Akts aus Geldscheinen nachgebildet sind, in unterschiedlichen Farben und Währungen. Die Haare schimmern braun von norwegischen Hundert-Kronen-Scheinen, die Körperlinien sind zart gezeichnet von beigegefärbten japanischen Yen und die Lippenpaare aufreizend rot von Fünfzig-Pfund-Noten der Britischen Krone. Bei einem testosterongesteuerten Schelm wie Fichte gibt es natürlich auch Schlitze wie Spardosen, der intimere in Reichweite des Betrachters. Manch einer der Besucher fühlt sich genötigt, sein Portemonnaie zu zücken und Geld einwerfen zu wollen, doch bisher wusste das Aufsichtspersonal dies stets zu verhindern. Die Brustspitzen der jungen Frau werden von Münzen verdeckt und die Füße von langen lilafarbenen, aus Fünfhundert-Euro-Scheinen zusammengesetzten Stiefeln eingehüllt. Ihre Hände aber versteckt die trotz des vielen Geldes unzufrieden dreinschauende Dame hinter ihrer grazilen Figur, blickt kaltblütig auf ihre Betrachter herab. Denn Augen hat der Künstler der namenlosen Frau verpasst, und was für welche. Tiefblickende blaue Augen, die einen vorwurfsvoll durch den ganzen Saal verfolgen. Klatschmäuler behaupten, das Mäusemädchen habe Ähnlichkeit mit Olga, aber das kann nicht sein, ist das Werk doch zu einer Zeit entstanden, da Jägers Frau noch zur Schule ging. Aber sonst - eine Assemblage nannte seine Grundschullehrerin so etwas. Sie forderte Busch regelmäßig auf, die Ränder der ausgeschnittenen Figuren nachzuschneiden. Er hatte mit Bastelarbeiten einfach nichts am Hut gehabt. Damals nicht und heute auch nicht.

Dir fehlt einfach jegliches Verständnis für Kunst!

Nein, Busch wird nicht aufgeben. Dann ist er eben ein Lebenskünstler! Selbst wenn sein innerer Schweinehund lästert, dass er nie zu den scheinbar Erfolgreichen dieser Welt gehören wird - so wie Jäger, der für seine Kunstwerke eigens eine Datenbank unterhält, die ihn allein Tausende von Euro jedes Jahr kostet - lacht er den miesen Verräter in Grund und Boden. Busch beteuert, ebenso auf viele glückliche Jahre in seinem Leben verweisen zu können - auch ohne Villa, Kunstsammlung und Segelboot. Dafür mit einer Bar.

Versuc h doch wenigstens einmal für deine Rente vorzusorgen!

Entschlossen richtet er sich auf. Er sieht seine Geliebte neben sich sitzen. Sie sind auf der Autobahn, es ist schönes Wetter. Erstmals fahren sie gemeinsam in den Urlaub, an die See. Mit großer Hingabe erläutert Jiska ihm die Vorteile der Bauchatmung. Fasziniert beobachtet Busch zwischen Richtungsstreifen, Rückspiegel und Tachometernadel die Schwingungen ihres Oberkörpers im Takt der Zwerchfellmuskulatur, sieht ihre wunderschönen Brüste förmlich hervorspringen, als sie demonstrativ ausatmet, spürt ihren Handwurzelknochen auf dem Nabel, da er es ihr nachmachen soll. Busch spannt Bauch und Beckenboden an, presst den Darm zusammen, um auf natürliche Weise, wie Jiska sagt, seinen Blutdruck zu senken. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Natürlich steigt der Blutdruck unaufhörlich. Das liegt nicht zuletzt an ihrer Hand an seinem Gürtel. Von hinten rauscht derweil ein BMW mit Lichthupe heran, will sie von der linken Spur verdrängen.

Busch beschleunigt nochmals, während Jiska an den Knöpfen seiner Hose nestelt. Der Wagen hinter ihnen rückt unaufhörlich näher. Schon ist das Kennzeichen des Dränglers unterhalb des Rückspiegels abgetaucht. Wenn Busch jetzt auf die Bremse treten müsste, aus irgendwelchen Gründen - ein Wildschwein, ein Falschfahrer, eine Radarkontrolle - es wäre alles vorbei. Nein, er will zusammen mit Jiska noch etwas erleben. Das Gaspedal ist am Anschlag. Der Motor dröhnt, die Zylinder drohen zu platzen. Endlich! Da ist die Lücke auf der rechten Spur, in die er rutscht. Der Drängler rast vorbei. Busch atmet auf, die Spannung lässt nach.

Na, al so! Es geht doch! Du kannst es. Du wirst es schaffen.

Ja, wenn Jiska es sagt...

Blütenteppich

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