Читать книгу Blütenteppich - Reinmund Anton Frommer - Страница 4
VORLAUF
ОглавлениеBusch hat lange nach einem Parkplatz in der Stadt suchen müssen. Nah der evangelischen Kirche hat er ihn endlich gefunden. Touristen verirren sich selten hierher. Das Gebäude der Gemeinde ist schmucklos und unscheinbar, ein moderner Bau mit geraden Linien und großen Fenstern. Etwas, was man im Stadtinneren sonst suchen muss.
Wer Busch beobachtet, wie er die Tür aufreißt, den Kopf leicht geneigt, um nicht anzustoßen, weil er sich nur noch einen Kleinwagen leisten kann, hält ihn für einen fest entschlossenen Mann. Wer genauer hinsieht, bemerkt, wie die Hände zittern, als sie den Türgriff suchen, um sie wieder zu schließen.
Vielleicht hat Jiska ihm ja eine Nachricht an der Wohnungstür hinterlassen, wo er seinen Schlüssel abholen kann. Busch würde es als Zeichen der Versöhnung werten. Zudem wird ihm der lange Fußweg zur gemeinsamen Wohnung guttun. Er führt durch einige Parkanlagen und die halbe Stadt, wie Busch überhaupt das Laufen als positiven Nebeneffekt seiner gegenwärtigen Untätigkeit entdeckt hat.
Seitdem du nachts nicht mehr arbeitest, siehst du viel besser, viel gesünder aus.
Vom oberhalb der Stadt gelegenen Marktplatz her erklingen drei Glockenschläge. Dort steht die katholische Kirche, die hier alles überragt und jede Viertelstunde schlägt. Die eindringlichen Töne mahnen ihn bestimmte Dinge nicht zu wichtig zu nehmen. Vielleicht ist ja doch alles ein einziger großer Irrtum seinerseits, redet er sich ein, steht Jiska heute Abend wieder in der Tür und tut so, als hätten sie nie Streit gehabt. Er würde auch nicht fragen, mit wem sie letzte Nacht telefoniert hat.
Ein kalter Windstoß lässt Busch schaudern. Er denkt daran, in die durchgeschwitzte Jacke zu schlüpfen. Die Ausdünstungen der letzten Nacht strapazieren allerdings selbst seine ansonsten eher unempfindliche, äußerlich markante Nase. Er trottet zum Kofferraum, wirft das abgetragene Kleidungsstück hinein. Dumpf poltert es auf den Boden, Busch zuckt zusammen.
Natürlich, die hat er beim Tragen schon gar nicht mehr bemerkt. Hastig entnimmt er der Innentasche die darin verborgene Pistole, zögert kurz, lässt sie sodann in derer des schwarzen Frühjahrsmantels gleiten, nachdem er bei jenem noch das Etikett der Reinigung entfernt hat. Die Waffe ist für den Fall gedacht, dass ihn jemand nicht ernst nehmen will, zum Beispiel Jäger. Den Mantel wiederum hatte er noch gestern Nachmittag abgeholt, er schmiegt sich im Kofferraum an Jiskas Lieblingsmantel. Der ist aus braunem Hirschleder gefertigt, das Futter glänzt himmelblau. Einstmals, als der Himmel noch voller Geigen hing, hatte er ihn ihr geschenkt. Die Dame von der Reinigung meinte, er möge das kostbare Stück besser woanders einer Spezialbehandlung unterziehen lassen, um die Wasserflecken zu beseitigen. Er taucht seine Nase in das Innenfutter wie ein Junkie; bemüht sich Jiskas Geruch aufzuspüren, durchstöbert ihre Kleidung nach einem vergessenen Halstuch, doch die Taschen sind leer.
Schade, wird er sich ohne weitere Rauschmittel behelfen müssen. Busch drapiert den Ledermantel sorgfältig zwischen die Radkästen, klappt den Kofferraum zu. Instinktiv muss er dabei an einen Sargdeckel denken, der geschlossen wird. Er schüttelt entsetzt den Kopf, wendet sich ab, macht sich auf den Weg nach Hause, vorbei an Bordell und Diakoniestation. An der nächsten Straßenecke, direkt beim Taxistand, schnipst Busch möglichst lässig eine halb aufgerauchte Zigarette auf die Straße, die wartenden Fahrer beachten ihn nicht.
Hier in dieser kleinen Stadt, wo Jiska und er nun leben und schon die Römer ihre Bäder nahmen, ist Eile ein Zeichen von Armut. Kosmetiksalons, Apotheken und Privatkliniken reihen sich wie Glieder einer Perlenkette entlang der Hauptstraße auf. Zudem dominieren Schmuckgeschäfte, Immobilienmakler mit Dolmetscherkenntnissen, Hörgeräteakustiker und Antiquitätengeschäfte das Bild der beliebten Fußgängerzone. Schnell begriff Busch nach seinem Umzug, jegliche Fassade muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden - koste es, was es wolle. Alles dauert hier ein bisschen länger, selbst das Älterwerden. Wahrscheinlich genießen deshalb so viele Pensionäre ihren Ruhestand in dieser Stadt, drücken sich bereits am Vormittag in den respektablen Cafés herum, lesen ausgiebig die örtliche Zeitung. Auch so ein Relikt, das woanders nicht mehr denkbar scheint. Die Vielzahl der Todesanzeigen hält das Blatt wohl am Leben.
Am Zebrastreifen vor ihm hupt ein Autofahrer, weil zwei ältere Damen mitten auf der Straße einen Plausch beginnen; lüstern ihre Hunde beobachtend, welche aufgeregt umeinander schwänzeln. Das Fell der Tiere harmoniert farblich mit dem, welches die Damen locker um die Schultern tragen, das Leder der Stöckelschuhe so glattgezogen wie ihre Gesichtshaut. Erst als der Fahrer Anstalten macht, die Tür aufzureißen und auszusteigen, gehen sie kopfschüttelnd auseinander, die Tiere widerwillig hinter sich herzerrend.
Busch überquert die Straße zehn Meter vor dem Zebrastreifen, läuft vorbei an gepflegten Häusern mit hohen Eingangstoren Richtung Allee. Es ist der Weg, es ist die Zeit, in sich zu gehen. Zeit sich zu bezähmen, seine Gefühle, diese ohnmächtige Wut unter Kontrolle zu bringen.
Es hilft dir nichts, wenn du tobst. Deine Gesundheit leidet ebenso wie der Mensch, dem du so gegenübertrittst. Und erreichen wirst du schon gar nichts.
Jiska wäre als Lehrerin besser geeignet gewesen als er. Doch, das wäre sie. Davon ist Busch überzeugt. Direktoren und Schüler, genau in dieser Reihenfolge, hätten ihre helle Freude an ihr gehabt, besonders die männlichen. Stattdessen hatte sie sich für das Sekretariat entschieden, vielmehr ihre Mutter verschaffte ihr eine der Lehrstellen - aus der Überzeugung heraus, dass Jiska so die beste Karriere machte, als Ehefrau. Irgendein Anwalt, Arzt oder Unternehmer, so kalkulierte die geschäftstüchtige Henriette und so bestätigte es ihr jede Woche der neueste Groschenroman, würde sich garantiert in die schlanke attraktive, nicht zu hoch gewachsene Tochter dieser ehrgeizigen Mutter verlieben. Und dann wäre ihr Glück vollkommen gewesen.
Beim ersten Chef glaubte Jiska noch selbst an diese Theorie. Er war nett zu ihr und groß gewachsen, sah gut aus mit seinen dunklen Haaren, welche täglich frisch gegelt und streng nach hinten gekämmt wurden. Zudem hatte er feingliedrige Hände, trug Siegelring und Adelstitel sowie stets ein Einstecktuch mit Familienwappen in der Brusttasche seines Jacketts. Dass er regelmäßig einen Hauch zu viel vom französischen Rasierwasser auftrug, wertete die Mutter als außerordentlich positives Zeichen. Trotzdem, er hatte keine Augen für Jiska. Nicht solche, wie die Mutter und irgendwo auch die Tochter insgeheim erhofften.
Henriette gab ihrer Tochter die Schuld, schickte sie zum Friseur und zur Kosmetik. Sie kauften ein kürzeres Kleid und höhere Schuhe. Schließlich verzichtete Jiska gar auf ihre äußerst charmante kleine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, wie Busch später anhand von frühen Fotos feststellen musste. Allein, es half nichts. Erst Jiskas beste Freundin Annemarie, welche in Berlin Jura studierte, brachte Licht in das familiäre Dunkel. Bei einem ihrer wenigen Besuche in der alten Heimat befand sie nach kurzer Schilderung der Sachlage: Jiska, der Typ ist schwul.
Nun kamen sie alle aus der Provinz und solche Menschen kennt man dort schlichtweg nicht. Als Jiska ihrer Mutter von Annemaries Vermutung berichtete, schüttelte sie nur den Kopf: Niemals! Solche abartigen Menschen gäbe es nur in Amerika. Oder eben in Berlin. Wegen der Alliierten.
Leider erkrankte der galante Anwalt einige Monate später schwer. Er musste seine Praxis verkaufen und Jiska, die einfach blieb, wo sie war, weil sie aufgrund ihres pflichtbewusst-fleißigen Naturells beinahe schon zum Inventar gehörte, erhielt als nächstes eine Chefin. Jene war von der Statur her ein recht herber, fast androgyner Typ, litt außerordentlich darunter und neidete Jiska beinahe alles: Die kastanienbraunen, sich bei jedwedem Wettertief sofort kräuselnden Haare, die sie selbst beständig verflucht, weil sie jeden Tönungsversuch erfolgreich abwehren; dazu die leuchtend grünen Augen, der schlanke Hals, die sportliche Figur. Am meisten neidete die Chefin ihrer Angestellten jedoch die Fähigkeit, die Welt mit positiven Augen zu sehen. Und so blieb Jiska trotz aller weiblichen Schikanen in der Kanzlei bis zu dem Tag, an dem ein gutaussehender Musiker sie betrat und um einen Termin bat. Schon der Schatten seines Körpers hinter der Glastür hatte Jiskas Herz seltsamerweise höherschlagen lassen. Sie hörte seine Stimme über die Wechselsprechanlage, ließ ihn entgegen aller üblichen Sicherheitsmaßnahmen sogar ein, obwohl sie allein gewesen war, und erkundigte sich nach seinem Begehren.
Groß, beinahe schlaksig, hatte er vor ihrem Pult gestanden, mit ungewohnt abstehenden Ohren, die diesem Gesicht, selbst wenn es so nervös war wie in diesem Augenblick, etwas schalkhaft Lustiges verliehen. Vielleicht lag es aber auch an den Augen, die sie anstrahlten mit einer Wärme, wie sie sie zuvor noch nie gefühlt hatte. Scheu schaute sie auf den zwischen ihnen stehenden Tisch, auf dessen Platte er ihr seine Karte hinüberschob. Und so waren es letztlich die Hände, die den entscheidenden Anstoß gaben. Stets waren ihr jene am wichtigsten bei einem Mann. Die Hände und die Augen. Sie verrieten, was ein Mann Jiska oftmals nicht mitzuteilen vermochte. Erzählten, was zwischen Himmel und Erde, was zwischen Mann und Frau nicht mit Worten ausgedrückt werden kann. Die Hände des Musikers sahen feinfühlig aus, mit schlanken, sehr gelenkigen Fingern. Schließlich zupften sie den Bass, doch das erfuhr Jiska erst später. Zunächst las sie nur seinen Namen, darunter stand Leader der Band Sowieso. Jiska hatte noch nie zuvor von ihnen gehört. Am ersten gemeinsamen Abend, noch bevor die Chefin Zeit für ihren neuen Klienten fand, saßen beide beim Italiener und teilten sich eine Pizza. Natürlich hätte Jiska ebenso ihn einladen können, aber ihr Gefühl riet ihr, seinen Stolz nicht zu verletzen. Zum Dank vermochte Ben ihr Interesse für seine Musik zu entfachen, sie für seine Band zu begeistern. Sie beschloss noch in der Nacht, Jiska konnte vor Aufregung nicht einschlafen, von der kleinen Kanzleibühne, auf der sie seit Jahren erfolgreich die wichtigste Nebenrolle besetzt hatte, mit aller ihr innewohnenden Konsequenz auf die Rockbühnen dieser Welt zu wechseln, selbst wenn es nur für den Backstagebereich reichen würde.
Alsbald gab sie ihren Platz in der Kanzlei auf, auch das Zimmer in der Wohnung der Mutter. Sie zog zu Ben, organisierte die ersten Touren, entwarf die Plakate, zwang Manager von Plattenfirmen in die Knie, auf das sie ihr anschließend aus der Hand fraßen. Kurzum, sie avancierte zu einer der Säulen, wenn nicht gar des Fundaments dieser Band, welche innerhalb von drei Jahren jeder halbwegs Musikinteressierte unter Dreißig in diesem Land kannte und ihre Lieder auf jeder Party lauthals mitsang.
Jiska beteuert stets, dass sie Ben geliebt habe und er liebte sie. Doch beide wollten mehr. Sie dachte ans Heiraten und ein Kind, er glaubte noch schnell mit seiner Musik die Welt erobern zu müssen. Sie tourten durch ganz Europa, gaben im Durchschnitt drei Konzerte pro Woche und landeten völlig ausgelaugt in Amerika. Hier mussten sie feststellen, einem Schwindler aufgesessen zu sein, der mit dem vorgeschossenen Geld nach Brasilien durchgebrannt war, statt im Vorfeld Werbung, Konzerte und PR-Termine zu vereinbaren. In einem Akt der Verzweiflung beschlossen Ben und Jiska nach heftiger Diskussion mit den übrigen Bandmitgliedern, dennoch vier Wochen durch die Clubs von New York zu touren. Gemeinsam zogen sie los und innerhalb von zwei Tagen hatten sie das Kunststück vollbracht, sechs Gigs sowie eine Loftwohnung in Queens zu organisieren, welche gleichzeitig als Unterkunft und Proberaum gedacht war. Angestachelt von diesem Erfolg bot Jiska an, vom übrig gebliebenen Geld durch die Staaten zu reisen und weitere Termine zu organisieren.
Ihr gefiel dieses Land. Zumindest das, was sie bisher hiervon gesehen hatte. Gemeinsam mit Ben träumte sie in der Nacht vor ihrer Abreise von der Westküste und einem entspannten Leben dort. Sie lieh sich ein Wohnmobil, für mehr reichte das Geld nicht mehr, und durchquerte das Land tatsächlich damit, im Gepäck gerade einmal zwölf Adressen möglicher Interessenten für ihre Musik. Nach der ersten Nacht allein auf einem Camp Ground verzichtete Jiska fortan auf das Frühstück und kaufte sich einen Revolver. Beinahe hätte sie ihn gezückt, als einer der möglichen Interessenten glaubte, sie wäre zu allem bereit, für den Verkauf ihrer Musik. Bevor sie rechtzeitig verschwand, trat sie ihn immerhin dorthin, wo es am meisten wehtut.
Ja, Jiska erlebte einiges auf dieser Reise. Die Jungs würden große Augen machen, so wie Busch später auch, wenn sie davon erzählte und nicht alle Träume hatten sich erfüllt. Beschwingt stieg sie in San Francisco in den Flieger zurück nach New York. Sie hatte vier Termine vereinbaren können, zwei davon auf angesagten Festivals, worauf sich sicherlich aufbauen lassen konnte sowie in der schlichten Gewissheit, dass "Bob‘s Country Bunker" nicht zu den gebuchten Auftrittsorten gehörte. Sie landete an einem Sonntagabend gegen sieben Uhr an der Ostküste. Leider wartete Ben nicht am Flughafen wie vereinbart. Bestimmt hatten sie noch weitere Termine buchen können, redete sich Jiska ein. Sie verspürte große Sehnsucht nach ihm und irgendwo auch nach den übrigen Jungs, dem Klang der vertrauten Sprache. Ben und sie hatten gerade einmal während der letzten vier Wochen miteinander telefonieren können. Zum Glück trug Jiska die Adresse der Wohnung in Queens auf einem Zettel bei sich. Der Taxifahrer, ein netter Inder, war ein Meister seines Fachs und sehr fürsorglich. Er schickte Jiska vor, versprach die beiden Taschen hinterherzubringen, in das alte Fabrikgebäude, in den vierten Stock, ohne Fahrstuhl.
Als Mark, der Schlagzeuger und Spaßvogel der Band, schließlich auf ihr mehrmaliges Klopfen hin mit glasigen Augen die Tür öffnete, schlug ihr ein eigentümlicher Geruch entgegen. Ob er sie in diesem Moment erkannt hatte, bezweifelte Jiska später. Aus der Wohnung drang laute Musik. Sie vernahm das unsichere Kichern viel zu junger Mädchen, stieg fassungslos über wild ineinander verschlungene Beine, sah in unbekannte, teilweise blöd vor sich hin grinsende Gesichter. Von den Jungs aus der Band entdeckte sie niemand weiter. Am Ende des Raumes fand sie Ben auf einer Sitzecke liegend vor, ein dunkelhäutiges Mädchen im Arm. Er stellte sie Jiska ungeniert lächelnd als neue Backgroundsängerin vor. Natürlich mit dem Potential, den neuen Leadsänger, nämlich ihn, nachdem der alte aufgrund von künstlerischen Differenzen in der Zwischenzeit ausgestiegen war, eines Tages zu ergänzen und ihre Musik damit noch abwechslungsreicher, noch interessanter für den amerikanischen Markt zu machen.
Jiska schaute konsterniert Ben an, dann das Mädchen. Das scheu lächelnde Kind mit seinen bleckenden Zähnen, das Bens Erklärungen in einer ihr fremden Sprache nicht verstand, erhob sich vom Sofa, wollte Jiska zur Begrüßung herzlich umarmen, Ben ebenso. Beide glotzten völlig verblüfft, als sie sich stattdessen jeweils eine Ohrfeige von ihr einfingen. Anschließend räumte Jiska mit einem Wisch sämtliche Gläser von ihrem Koffer, der zuvor als Tisch und als Fußablage für beide gedient hatte. Er, der Koffer, hatte ihr mehr zu denken gegeben als das Mädchen. Ihre persönlichsten Dinge waren zum Möbelstück degradiert, musste ihr Ledergepäck, ein großmütterliches Familienerbstück, wie Ben ganz genau wusste, als Abstellfläche für mindestens ein Besäufnis herhalten, dass es in ihrem Beisein so sicher nicht gegeben hätte. Immerhin hatten die Jungs sie manchmal scherzhaft die Mutter der Kompanie genannt. Die Mutter der Kompanie desertierte nun, verstört vom unübersichtlichen Schlachtgetümmel.
Jiska schnappte den Lederkoffer, bei aller Enttäuschung froh, dass sie nicht lange ihre Habseligkeiten unter den verdutzten Blicken von Fremden zusammenklauben musste, und kämpfte sich durch die Wohnung zurück zur Tür. Am Rockzipfel Ben, welcher auf Knien rutschend seine Unschuld beteuerte. Etwas, was Jiska ihm nur zu gern genommen hätte, auf der Stelle, wenn nicht der Koffer etwas völlig anderes erzählt hätte. Als sein Gejammer ihr auf die Nerven zu gehen begann, verpasste sie ihm kurzerhand einen Tritt. Ben, aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte über einen ausgestreckten Fuß, landete mit dem Gesicht im entblößten Gesäß von Mark, der sich derweil bemühte, mit seinem Stick das jungfräuliche Fell eines drallen Latina Mädchens durchzustoßen. Dank Bens Hilfe war es nun vollbracht. Doch als Jiska endlich den Ausgang erreicht hatte, stand der nette Inder vor ihr, mit den Reisetaschen in der Hand und starrte in ihr von Tränen überströmtes Gesicht. Sein Antlitz zeigte keine Regung. Er setzte die Taschen ab, schaute über Jiskas Schulter hinweg in die Wohnung. Dann reichte er ihr ein Taschentuch, schob sie stumm beiseite. Was mochte er in jenem Moment von ihr gedacht haben? Sie, die ihm noch im Taxi das Lied vorgesungen, das Ben für sie komponiert, es ihr mit der Veröffentlichung ganz offiziell gewidmet hatte und das jedes Kind in Deutschland mitsingen konnte.
Lange war er nicht weggeblieben. Jiska hörte nur einen kurzen Schrei aus der Wohnung. Er erinnerte sie an eine Karate-Vorführung, der sie einstmals als Kind beigewohnt hatte, draußen auf dem Marktplatz, hinter der katholischen Kirche. Dann kam der Inder zurück, mit unbewegter Miene, ging mit dem Koffer sowie einer Reisetasche in den Händen voran, schwankte unter der schweren Last, die die Welt ihm auferlegt, die Stufen hinab zum Taxi und fuhr Jiska direkt zum Flughafen. Längst zeigte das Taxameter einen dreistelligen Betrag an, drückte sie ihm alles Geld in die Hand, was sie noch hatte. Doch er lehnte ab. Stattdessen gab er ihr seine Adresse. Sie überwies ihm die Summe noch am selben Tag, nachdem sie wieder in Deutschland angekommen war. Trotzdem hat sie nie wieder etwas von ihm gehört. Ebenso wenig, wie die zahlreichen Fans jemals wieder etwas von der Band Sowieso gehört haben. In den einschlägigen Blogs wird gemunkelt, jemand hätte Ben als Pagen im Waldorf Astoria gesichtet, doch wer sucht schon das Waldorf Astoria auf, um dieses Gerücht nachzuprüfen. Eine andere Legende lautet, er würde einen Bauernhof im Allgäu betreiben, mit glücklichen Milchkühen auf der Weide und häuslicher Zithermusik am Samstagabend im schwiegerelterlichen Dorfladen.
Busch glaubt keine der beiden Varianten. Einmal hörte er Jiska heimlich auf der Toilette weinen, nachdem er ihr die neuesten Gerüchte über die Band aus dem Internet vorgelesen hatte. Sie war mit verschmierter Schminke im Gesicht zurückgekehrt, überschüttete ihn mit begierigen Küssen. Seitdem lässt er das Stöbern in den Klatschspalten sein.
Wenn ich es nicht besser wüsste, glaub te ich, mein Leben sei einem Hollywood-Film entsprungen.
Er hört ihr stets aufmerksam zu, wenn sie erzählt von früher. Von ihrer Fahrt durch Amerika, den Londoner Clubs oder den Festivals, wenn sie in irgendeinem schäbigen Wohnwagen sich die Stunden mit Flaschendrehen vertrieben hatten, bis es Zeit war für die Jungs, auf die Bühne zu gehen und Jiska den Mädchen noch schnell einen Stapel Autogrammkarten zum Abschied in die Hand drückte, damit sie endlich verschwanden.
Stundenlang vermag sie so zu erzählen. Sein früheres Leben kommt ihm dagegen langweilig vor. Doch seitdem er Jiska kennengelernt hat, scheint es Fahrt aufzunehmen. Manchmal erfasst ihn gar ein Schwindel.