Читать книгу Blütenteppich - Reinmund Anton Frommer - Страница 3
SCHMERZGRENZE
ОглавлениеAls Busch am nächsten Morgen unter dem Lärm der Müllabfuhr die Augen öffnet, schaut er in die Mündung einer Pistole.
Wenn wir nicht nur dieses Leben, s ondern auch alle folgenden zusammenbleiben wollen, müssen wir gemeinsam diesen Wunsch in den Himmel schicken.
Ja, er weiß es! Sie haben ihren Bund immer noch nicht geschlossen! Müde fällt sein Gesicht zurück in die Falten des Mantels, ertasten die Fingerkuppen einen Dielenboden. Das Holz fühlt sich kalt und staubig an, die Nase ist erfüllt von der Appretur der Reinigung. Hat man ihn vielleicht verschleppt?
Busch hebt erneut den Kopf, schaut über das Metall hinaus in ein leeres Zimmer mit zerfetzten Tapeten. Aber nein - die Erinnerung kommt wieder. Vorsichtig tippt er die Mündung am Korn an, dreht den Pistolenlauf Richtung Tür. Es ist die eigene Waffe, die dort vor ihm liegt. Er atmet auf.
Busch dämmert einem neuen Tag, einem möglichen Plan, wie er Jiska zurückerobern und Jäger Geld für eine neue Bar entlocken könnte, entgegen - in der leeren Wohnung im zweiten Stock, gegenüber der von Fräulein Meyer. Sie war es auch gewesen, die ihn gestern Abend eingelassen hatte. Oder vielmehr, Busch war ihr heimlich gefolgt, nachdem er vergeblich mehrmals die Klingel der eigenen Wohnung betätigt hatte. In ihrer panischen Angst vor einem nächtlichen Überfall bemerkte Fräulein Meyer ihn nicht einmal.
Er dreht sich behutsam auf den Rücken, lauscht, ob sich in der Wohnung über ihm etwas bewegt.
Nichts. Alles ist still. Totenstill. Genau wie in der Nacht.
War Jiska überhaupt zu Hause gewesen?
Busch quält sich hoch, tastet die Wange ab, in der ein Knopf sein Muster hinterlassen hat. Dann wankt er zum Fenster, schaut hinunter auf die Straße, die Stirn gegen die kühle Scheibe gepresst. Nach der Nacht auf dem Parkett fühlt er sich wie gerädert. Abermals sticht es im Rücken, der Mund ist völlig ausgetrocknet, die Luft in der Wohnung muffig und abgestanden. Doch er traut sich nicht, ein Fenster zu öffnen, will nicht die falsche Frau auf sich aufmerksam machen. Von oben sieht Busch zu, wie Passanten im Morgengrauen zur Arbeit hetzen, beneidet sie um ihr Ziel, ihre klaren Vorgaben. Er hingegen kann nichts vorweisen, gar nichts.
Wie stellst du dir denn nun deine berufliche Zukunft vor?
Was für eine dämliche Frage. Jiska kennt die Antwort, ganz genau. Indem Busch abdrehen will, entdeckt er auf dem Balkon nebenan einen kleinen Vogel, der schon fleißig unterwegs ist. Sein Terrain ist begrenzt. Gegebenenfalls würde ein Stuhl oder eine Zimmerpflanze hier Platz finden. Dennoch scheint der morgendliche Racker, der so groß ist wie ein Spatz, aber keiner ist – so viel erkennt Busch immerhin – irgendwo oberhalb des Fensters ein Nest zu bauen. Er versucht es zumindest. Über sämtliche Fliesen des Balkonbodens liegen Teile von Moos, Grashalme und andere Elemente eines Vogelnestes verstreut. Wie besessen fliegt der kleine Schwerstarbeiter von der Brüstung zum Boden, sammelt mit dem Schnabel seine Bauteile ein, um sie nach oben zu transportieren. Busch glaubt Enttäuschung, ja Frust im Angesicht des Vogels zu erkennen, als er das nächste Mal auf dem Boden landet. Der Wichtigtuer wendet den Kopf hektisch hin und her, zerrt das Moos mit der Schnabelspitze auseinander. Fatalerweise macht der nächste Windstoß sein frisch geknüpftes Werk wieder zunichte, wird der wirre Haufen am Boden mit jedem Frühjahrshauch größer. Aber warum ist Busch sich so sicher, dass das ein Männchen ist?
Mich würde es verrückt machen, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen.
Entschlossen packt er die Pistole zurück in den Mantel, taumelt schlaftrunken ins Bad, schöpft neue Hoffnung, als das Wasser wider Erwarten läuft. Das kalte Nass auf Stirn und Wangen bringt Busch in Schwung, weckt die erstarrten Lebensgeister. Auf Zunge und Zahnfleisch allerdings klebt die Patina vergangener Tage. Wieder und wieder spült er den Mund mit kaltem Wasser aus, der unangenehme Geschmack aber bleibt. Busch wird sich um seine Mundhygiene kümmern müssen, bevor er Jiska begegnet oder zu Jäger geht. Ihm fällt sein Zahnarzt ein. Dort stehen Zahnpasta und Bürste zur freien Benutzung in der Toilette bereit.
Man muss nur seinen Kopf anstrengen, und schon findet sich eine Idee! In der Euphorie dieses Geistesblitzes, dem wieder erstarkten Trieb kreativer Gedanken, der zu DDR-Zeiten Lücken und Hindernisse überwinden half, reißt sich Busch das Unterhemd vom Leib und beginnt Brust, Hals und Achseln mit kaltem Wasser zu waschen. Er zittert vor Kälte, doch er genießt die Reinigung.
Es wird alles gut werden, Jiska und er ein Paar bleiben, schwört er sich ein. Er wird einen Weg finden zu zeigen, wie ernst es ihm mit ihr und einer neuen Bar in Berlin ist. Dann wird sie sich überzeugen lassen. Schließlich liebt sie ihn.
Ja, das habe ich gesagt. Und dazu stehe ich.
Jiska hatte Buschs Entschluss, das Beisel aufzugeben, erstaunlich gelassen hingenommen. Ausgerechnet von ihr hatte er mehr Widerstand, mehr Kampfesgeist erwartet - bei der Energie, die sie zuvor in seine Eröffnung gesteckt hatte. Offensichtlich genoss sie sogar die ersten Wochen, da sie am Abend zu Hause erwartet wurde, er den Haushalt zu führen sich bemühte und auch sonst alles tat, um Funkenschlag zu vermeiden. Fehlte nur noch, dass Carlos sich eine Kittelschürze von Jäger übergestreift hätte. Soweit kam es aber nicht. Als es um den nächsten Urlaub ging, war der Burgfrieden dahin.
Zwar erfreue sie die Aussicht, ein paar freie Tage mit ihm verbringen zu können. Gleichzeitig hob Jiska aber hervor, dass sie leider in der Auswahl beschränkt wären, weil Busch ja momentan kein Einkommen erziele. So könnten sie maximal campen oder in eine Jugendherberge fahren, behauptete sie allen Ernstes mit spitzem Mund.
Busch schluckte. Er wusste zu genau, dass weder Zelt noch Doppelstockbett für seine Freundin je in Frage kämen. Selbst ein Ferienhaus lockt sie nicht, weil Jiska sich im Urlaub nicht mit Alltäglichkeiten wie Einkaufen oder Kochen abgeben will. Während der drei Jahre, die sie sich nun kennen, sind sie einmal gemeinsam in den Urlaub gefahren, fuhren sie von Berlin aus zusammen an die Ostsee. Danach hatte die Arbeit Vorrang gehabt, für beide. Sehnsüchtig denkt Busch zurück an die glücklichen Tage. Jiska kuschelte sich im Strandkorb an ihn, als der Wind in Ankündigung des Herbstes über die Küste blies. Und in der Dämmerung schoben sie einen zweiten Strandkorb hinzu, liebten sie sich in dessen Schutz am Strand.
Busch hält Ausschau nach einem trockenen Tuch. Leider schuldet er dem Zahnarzt noch zweihundert Euro. Fürwahr ein zu hoher Preis für einmal Zähneputzen. Seufzend angelt er ein altes Küchentuch aus der verstaubten Badewanne und tupft sich behutsam damit ab.
Nein, Jiska ist ihm keineswegs untreu geworden. Sandra muss sich getäuscht haben, und das Püppchen ebenso. Das Tuch ist hart wie ein Brett. Wütend wirft er den stinkenden Lappen auf den Boden. Bestimmt hat seine Freundin ihn in der Nacht gesucht und war deshalb nicht nach Hause gekommen. Oder sie ist erst am Abend in die Schweiz gefahren. Immerhin erhält Busch so eine zweite Chance, aus ihrem Chef die Wahrheit herauszuholen, könnte er herausfinden, warum Jäger Jiska das Bild geschenkt hat, ohne Vorbehalt. Er weiß zwar immer noch nicht, weshalb der Kunstmäzen es verraten sollte, aber wo ein Wille ist, ist schließlich auch ein Weg. Busch packt die Pistole zurück in die Manteltasche.
Nach der verkürzten Urlaubsdebatte hatte Jiska augenblicklich das Thema gewechselt. Da er sich beharrlich weigere, als Lehrer zu arbeiten, so führte sie nun aus, habe sie sich einmal erkundigt, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssten, um als Sicherheitsfachkraft arbeiten zu können. Immerhin würden in dieser Branche beständig Mitarbeiter gesucht.
Busch atmete tief durch, bevor er bissig entgegnete, wer in einer Demokratie Sicherheitsbeamte bräuchte, müsse etwas zu verbergen haben. Als Jiska nicht reagierte, verstieg er sich in die Behauptung, jegliche Anwesenheit von Sicherheitspersonal fordere irgendwann eine Regelübertretung heraus, so wie eine Zielscheibe nach einem Einschuss verlange.
Für den Rest der Gesellschaft möge er sogar Recht haben, erwiderte seine Freundin gelassen. In einem Museum indes würden andere Gesetze herrschen. Er könne sich gar nicht vorstellen, auf was für verrückte Ideen Besucher kämen und welche Fragen sie stellten. Ein Museum wecke gewissermaßen in allen Beteiligten eine kreative Ader, bestimmt auch seine. Sie lächelte geheimnisvoll, kam näher, schob keck ihre Zunge zwischen seine Lippen. Er ahnte, dass sie jeden weiteren Widerspruch im Keim zu ersticken suchte - sanft und entschieden, wie es ihre Art war, und erfolgreich. Denn als sie mit der ganzen Wahrheit herausrückte, wusste er nichts mehr entgegenzusetzen.
Busch möge, selbstverständlich nur so lange, bis er etwas Besseres gefunden habe, seine Aufmerksamkeit dem Schutz von Jägers Sammlung widmen, schlug sie vor.
Ja, er hatte keine Lust auf diesen Job gehabt. Aber was sollte er machen? Zuhause sitzen?
Drei Monate habe Jiska ihn so ertragen. Länger wolle sie nicht mehr, hatte sie gesagt, ihre Geduld sei am Ende. Er habe genug gejammert, über KGB und Schweinesystem.
Und so fügte er sich und bewachte fortan Jägers Kunststücke.
Busch promeniert durch die Allee, unter dem Arm eine Tüte, darin zwei belegte Brötchen vom Bäcker. In der Manteltasche rangeln Pistole und Reiseset aus der Drogerie um den besten Platz an seiner Brust. Er fühlt sich für den Tag präpariert, summt Bens Hymne an Jiska leise vor sich hin. Zunächst will er herausfinden, ob, und wenn ja wann, seine Freundin heute zur Visite im Museum erscheint, um währenddessen ihren Arbeitgeber in der Villa aufzusuchen. Zudem wird er sich in der Gästetoilette die Zähne putzen und einen Kaffee mit den ehemaligen Kollegen trinken, sofern...
"Oh, schickt die Regimentskommandeurin heute ihren Stellvertreter?"
Der morgendliche Besucher, noch an der untersten Stufe des Aufgangs, zuckt zusammen. Ausgerechnet Hoffmann hält Wacht an vorderster Front! Er hätte es wissen müssen. Der linke Fuß zögert, den Aufstieg zu beginnen. Alle Aufsichten nennen ihren Vorgesetzten nur den Major, weil er einstmals als Berufssoldat bei der NVA gedient hat. Er war auch derjenige, der das Hausverbot ausgesprochen hat.
Ach, was soll’s! Busch hat nichts mehr zu verlieren. Zum Glück ist ihm Hoffmanns eigenwilliger Humor einstmals schon beim Vater begegnet. Es ist der Esprit ostdeutscher Wendeverlierer, die mit Vorliebe die Schmerzgrenzen ihrer Adressaten schrammen - im Versuch, das Gefühl der Niederlage in Zynismus zu ertränken. Busch kann die Reaktion nachvollziehen. „Ich hatte erwartet, dass alle Bediensteten einen militärischen Kurzhaarschnitt vorweisen und die Füße an den Linien des Parketts ausgerichtet sind!"
Verdutzt schaut ihn der Major an. Der Besucher weist auf die schwarzen Sportschuhe, dann auf die graue Mähne, welche - von hinten nach vorn gezogen und mit einem Gel in Form gebracht - mehr einem Schutzhelm als natürlichem Haupthaar gleicht. Die Ähnlichkeit mit einem amerikanischen Schreckgespenst stört Hoffmann dabei nicht. Angesprochen darauf, behauptet er stets, Altkommunisten und Neumilliardäre seien wie Zwillingsbrüder in verschiedenen Kleidern. Deshalb würden sie ja auch so gern Geschäfte miteinander machen. Nach dem ersten Schock entspannt sich das von roten Äderchen durchzogene Gesicht: "Paraden auf Augenhöhe - die habe ich hier wirklich vermisst."
Buschs zum Gruß entgegengestreckte Hand verschwindet zwischen zwei Pranken, der Arm wird durchgeschüttelt. "Schön, dich wiederzusehen."
Der Gast ist überrascht von Hoffmanns herzlichem Empfang. Das hatte er nicht erwartet - nach seinem überstürzten Abgang vor wenigen Wochen, der den ehemaligen Vorgesetzten in Schwierigkeiten gebracht haben dürfte. "Wie läuft es denn ...so ohne mich?", stottert Busch unbeholfen.
Hoffmanns Augenpaar pendelt derweil ruhelos zwischen ihm und einer beistehenden Seniorengruppe, die auf den Beginn ihrer Führung wartet. Der Major gehört zu den wenigen Mitarbeitern, denen die Sicherheit des Hauses über alles geht. Deshalb schätzt Jiska ihn auch, trotz aller sonstigen Differenzen. "Es ist keineswegs besser geworden, seitdem du weg bist", flüstert er. "Eher schlechter."
Busch hebt die Augenbrauen. Bei Jiska klang das stets anders, oder nicht? Wenn er ehrlich ist, haben sie wenig miteinander geredet in der letzten Zeit, schon gar nicht über das Museum. Er wollte nichts mehr hören von ihrer Arbeit, die ja für einige Zeit auch seine gewesen war. Doch jetzt packt ihn die Neugier. Da nähert sich der erste Pensionär, fordert die Kontrolle seiner Eintrittskarte, im Schlepptau die gesamte Reisegruppe.
Egal, Busch wird später weiterbohren. Er eilt zur Toilette, bevor die Rentnerhorde sie kapert. Während die Bürste hektisch über die Zahnreihen kreist, grübelt er, welche Veränderungen es im Museum geben könnte, die Jiska ihm partout verschwiegen hat. Busch kennt ihren Stolz. Vielleicht hat sie ernsthafte Schwierigkeiten, will Olga sie gar ganz loswerden. Verwunderlich wäre es nicht. Freundinnen sind beide nie geworden. Jägers Frau hat keinerlei Interesse am Alltag eines Museums, überlässt die zermürbenden Kämpfe mit Behörden, Leihnehmern und Angestellten der Assistentin, wodurch Fehler natürlich nur Jiska passieren. Lieber erkundet die Chefin die Angebote auf Auktionen und Kunstmessen, flirtet mit den Künstlern oder feiert private Partys inmitten von Jägers Bildern. In der Stadt kursieren die wildesten Gerüchte, über Action-Painting mit Aktmodellen unter einem mannshohen Sowjetstern.
Busch spuckt aus. Sein Zahnfleisch hat sich gegen den Druck gewehrt. Er starrt in die blutrot gefärbte Speichellache. Mit fahrigen Bewegungen spült die Hand das Becken aus, das Wasser spritzt auf den frisch gereinigten Boden. Stille Genugtuung ist jetzt fehl am Platz. Er wird dennoch Jiska überzeugen müssen, mit ihm nach Berlin zu gehen.
Hoffmann erwartet ihn bereits. "Was ist eigentlich mit deiner Freundin los?", fällt er mit der Tür ins Haus, sobald der erste Besucherstrom abgefertigt ist. "Habt ihr euch gestritten?"
"Wie kommst du denn darauf?" Busch spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht schießt. Leugnen dürfte zwecklos sein.
"Sie ist so anders geworden!" Hoffmann winkt Busch Richtung Pausenraum. "Früher kam sie häufiger vorbei. Hat gelacht, auch mal einen Scherz gemacht." Er hält ihm die Tür auf. "Jetzt wirkt sie oft traurig, hört kaum zu, wenn ich etwas erzähle. Was hast du angestellt mit ihr?"
"Ich?" Busch fällt auf den dargebotenen Stuhl. "Nichts stelle ich an."
"Dann sind das wohl Entzugserscheinungen?" Der Major zwinkert verschwörerisch.
Was soll er darauf antworten? Busch pustet die Wangen auf.
Unser Privatleben geht niemand etwas an.
Er schüttelt den Kopf.
"Was treibst du denn so, momentan?", wechselt Hoffmann augenblicklich das Thema, als der Besucher schweigt.
"Was soll ich schon treiben?" Eigentlich wollte er die Fragen stellen. Buschs Blick wandert durch den Umkleideraum. Jiska hatte die Spinde einem in Konkurs gegangenen Malermeister abgeschwatzt, der das Beisel hätte renovieren sollen. Nun ja, Jäger hat wohl auch hier am meisten profitiert. "Ich... ich plane eine neue Bar."
Hoffmann zieht die grauen Augenbrauen hoch. "Hast du noch nicht genug Lehrgeld bezahlt?"
Busch beißt sich auf die Lippen. Wäre er nur nicht hergekommen. "Du, du hörst ja auch nicht auf, den Beschützer zu spielen. Trotz Rentenalter", sucht er sich zu rechtfertigen.
"Ich muss, ich muss!", lacht Hoffmann süffisant. "Ein leerer Magen schläft nicht gut."
Ein unruhiges Herz ebenso wenig, denkt Busch und weiß nicht, wo er mit seinen Fragen ansetzen soll. Er nippt, um Zeit zu gewinnen, am Kaffee. Er weiß sehr wohl, dass Hoffmann mit dem geringen Entgelt als Sicherheitsfachkraft kaum über die Runden kommt, von der geringen Rente ganz zu schweigen, während Busch dank Henriettes Erbe und Jiskas Einkommen im Vergleich hierzu in Luxus schwelgt. Aber dennoch, ein ganzes Leben lang Wache schieben?
"Wolltest du nie etwas anderes machen?"
Hoffmann rührt in seiner Tasse. "Ich habe mir verboten darüber nachzudenken. Sonst fiele mir auf, dass ich stets die Falschen, die Undankbaren beschützt habe. Zuerst meine kleine Schwester", sein Blick wandert zur Decke, "weil sie mit einem Trinker durchgebrannt ist. Später ein ganzes Land, weil es…"
"Und jetzt?" unterbricht Busch. Er hat keine Lust über olle Kamellen zu diskutieren.
"Jetzt...?", Der Major lacht hämisch auf, "...jetzt rede ich mir ein, dass wenigstens die Bilder meine Arbeit schätzen. Wenn es schon die Eigentümer nicht tun."
Oh, eine würde Busch schon einfallen...
Wenn du auch nur mit einem Wort irgendjemand verrätst, dass das Bild mir gehört, sind wir geschiedene Leute.
"Und wie spürst du ihre Dankbarkeit? Redest du mit den Bildern?" Busch weiß, dass das stundenlange Stehen an die Substanz geht.
Hoffmann nickt voller Überzeugung. "Am liebsten mit Stella."
"Stella?!" Hoffentlich hat er wenigstens keinen dauernden Schaden davongetragen.
Ein verlegenes Lächeln huscht über Hoffmanns Gesicht. "'Mäusemädchen' finde ich blöd." Er schaut auf die Kaffeetasse in seinen Händen. "Außerdem erinnern mich ihre Gestalt, ihr Gesicht, die schlanken Beine beständig an unsere Zarin. Da ist Stella unverfänglicher."
Nun, gut. Auch Busch hat mit dem Mäusemädchen geflirtet, in zähen Stunden der Zweisamkeit, hat vergeblich versucht, ihr ein Lächeln abzuringen. Aber einen Namen hat er der Tussi nie gegeben. Das wäre ja noch schöner. "Das Modell hieß nicht Stella. Sie war..."
Hoffmann presst seine Pranke auf Buschs Lippen.
"Ok, ok", gibt er klein bei, als er wieder sprechen darf. "Mir ist die Ähnlichkeit nie so aufgefallen."
"Weil du dich nicht für Kunst interessierst!"
"Mag sein." Dabei, Olga interessiert ihn noch weniger als Jiskas Bild.
Hoffmann holt ein Taschentuch hervor, reibt sich umständlich die Hände ab. "Ich habe Angst, dass deine Freundin alles hinwirft. Große Angst", bekennt er unerwartet.
Busch horcht auf. "Aber warum?"
"Weil irgendwas faul ist in diesem Laden!"
Das Herz klopft schneller, er spürt, Hoffmann meint es ernst. Er kennt diesen Anblick. Der Major presst die Lippen aufeinander. Die Augen werden schmaler, die buschigen Brauen raufen sich zusammen. Dennoch zweifelt Busch. Jiska und Hinwerfen? Eher geht die Welt unter. Er denkt an die Band. Oder etwa doch?
Ein flüchtiges Lächeln huscht über sein Gesicht.
Hoffmanns Gesicht erstarrt darüber.
"Selbst wenn...", glaubt Busch ihn trösten zu müssen, "...selbst, wenn Jiska gehen sollte..." Er hält Schwierigkeiten im Museum plötzlich für eine höchst interessante Möglichkeit, um Jiska für Berlin zu gewinnen. "...allzu lange musst du doch hier nicht mehr rumstehen." Die freie Hand weist auf die graue Haartolle.
Der Major lacht hämisch. "Länger, als ich möchte!"
"Der Job macht dir doch Spaß, oder?" Busch kichert leise. "Kannst endlich wieder kommandieren."
Damit hat er den Bogen überspannt.
"He, du Rotzlöffel", Hoffmann springt wütend auf. "Im Gegensatz zu dir muss ich für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen!"
Busch zuckt unter einem Speichelschauer zusammen. "Und was hat dein Frust mit mir zu tun?"
Anstatt zu antworten stürzt Hoffmann den Kaffee hinunter, knallt den leeren Becher auf den Tisch. Das Porzellan verliert über die Wucht des Aufpralls seine Fassung.
Busch versteht die Welt nicht mehr. Was wirft Hoffmann ihm denn nun vor? Dass er eine Freundin hat, die mehr verdient als beide zusammen? Oder, dass er auf seinen Traum von einer eigenen Bar beharrt? Sein Ex-Chef weiß genau, dass mangelnder Arbeitseifer keineswegs die Ursache seiner Entlassung war - auch wenn ein Körnchen Wahrheit in der Unterstellung steckt. Aber warum sagt er dann so etwas zu ihm? Will er ihn verletzen, ihn fertig machen?
"Ich mag dich, wirklich!", fährt Hoffmann ruhiger fort, klaubt dabei die über den Tisch verstreuten Scherben zusammen. "Vielleicht regt es mich deshalb so auf, wie du dich hängen lässt."
"Aber ich will doch arbeiten..." Busch springt auf, "...als Barkeeper." Er bückt sich, hebt eine Scherbe vom Boden auf, reicht sie dem ehemaligen Vorgesetzten. War es ein Fehler hierher zu kommen? Sicher, Hoffmann ist ein guter, verantwortungsvoller Chef. Die Kollegen schätzen, dass er für sie eintritt, ihre Rechte gegenüber Jiska und Jäger verteidigt. Genauso wie er sie vor Anfeindungen unzufriedener Besucher schützt, manchmal etwas Ungestüm. Hoffmann unterscheidet nicht, ob die Kritik berechtigt ist oder nicht. Er hält zu seinen Anvertrauten; redet im Anschluss, unter vier Augen, über fehlerhaftes Verhalten. Nur bei Busch, da war er machtlos.
„Überleg doch mal", beginnt Hoffmann erneut, "was ist daran verkehrt, in einen Beruf zurückzukehren, der dir ein sicheres Auskommen bietet? Bewirb dich doch als Lehrer! Dann wirst du sehen, ob sie dich überhaupt haben wollen."
Busch sucht die Scherbe in seiner Hand zu zerdrücken. Er hätte nicht herkommen sollen. "Was hat sie dir geboten?"
„Wie, geboten?" Hoffmann schaut überrascht auf. "Ich kann allein vernünftige Gedanken fassen. Noch bin ich nicht senil, noch nicht!" Er ist bleich geworden im Gesicht, packt Busch mit beiden Händen an den Schultern. "Ein Glückspilz wie du", setzt er zu einem letzten Ausbruch an. "Einer, der von einer derart wundervollen Frau geliebt wird... Der sollte es spielend schaffen, ein paar ungezogene Kinder zu bändigen!"
Busch unterdrückt ein Schmunzeln. Daher weht also der Wind. Ist der alte Knabe eifersüchtig. Wer hätte das gedacht?
Allein, den Gedanken als Lehrer zu arbeiten, kann er nicht unkommentiert lassen: "Ich werde nie den Hanswurst machen, nie! Nicht einmal Jiska zuliebe!"
Hoffmann stößt ihn von sich.
"Als Lehrer bist du doch der Depp!", verteidigt Busch seine Haltung. "Weil du heutzutage Kindern Regeln beibringen sollst, von denen alle - Eltern, Lehrer und Schüler - wissen, dass sie im wirklichen Leben niemals eingehalten werden. Genauso gut könnte ich von der unbefleckten Empfängnis erzählen. Ich kann nun mal nicht lügen!"
Hoffmann hebt die Augenbrauen: "Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, in diesem System. Außerdem...", er schnauft, "verlernt man so etwas nicht." Er wendet sich ab, geht zum Fenster hinüber.
Busch will etwas sagen. Aber er kommt nicht dazu.
"Zufrieden könntet ihr sein, Tag für Tag!", schneidet ihm der Major das Wort ab. "Aber beständig glücklich? - Glück, ... Glück ist eine Momentaufnahme."
Hat Hoffmann Recht? Busch mag es nicht zugeben. "Du hättest Priester werden sollen statt Soldat", kontert er. "Und außerdem...", seine Hände zittern, er stützt sich auf den vor ihm stehenden Stuhl, "...mein Glück, meine Zufriedenheit besteht in einer eigenen Bar, am besten in Berlin. Und Jiska!"
Hoffmann resigniert. "Mir musst du das nicht sagen", lenkt er ein, "mir nicht!" Er lacht auf, schreitet Richtung Ausgang. "Aber wie wäre es mit deiner Freundin? Rede mit ihr. Vielleicht haust du ja auch einfach mal auf den Tisch. Dann hört sie dir womöglich zu." Der Major steht in der Tür. Sein Handy blinkt. "Frauen wollen jeden Tag neu erobert werden, wie fremdes Terrain. Aber rede mit ihr!"
Es scheint sein letzter Ratschlag zu sein.
"Ich möchte ja mit ihr reden", beteuert Busch kleinmütig. "Aber ich weiß nicht, wo sie ist."
"Bitte!?" Hoffmann wird schlagartig blass im Gesicht. Er schließt die Tür hinter sich, kehrt zurück. "Sag’ das noch mal!"
Sie stehen sich gegenüber. Busch bemerkt, wie Hoffmanns Muskeln unterhalb der Augenränder zucken.
"Ich habe Jiska seit Tagen nicht mehr gesehen", bekennt er mit hochrotem Kopf. "Ich, ich... komme nicht einmal in die Wohnung."
"Wie?" Hoffmann pumpt sich auf. Sein ohnehin breiter Brustkorb wirkt jetzt noch voluminöser. "Hat Jiska das Schloss auswechseln lassen?" Ein Mann wie er würde sich nie von einer lächerlichen Wohnungstür aufhalten lassen.
"Ich denke nicht. Ich habe einfach meine Schlüssel liegen gelassen", gibt Busch zu. "Und wenn ich klingele, ist sie nicht zu Hause oder lässt mich nicht ein." Er weiß, dass es unglaubwürdig klingt. Aber es ist die Wahrheit. Er wühlt die Hosentaschen durch, auf der Suche nach einem Taschentuch, um die Schweißperlen von Stirn und Hals zu wischen.
"Ist sie weg? Oder verreist?" Der Major lässt einfach nicht locker.
Das ungebrochene Interesse macht Busch noch nervöser. "Reisen? Sie wollte eigentlich..."
Halt die Klappe!
Busch beißt sich auf die Lippen. "Weshalb machst du dir so viel Sorgen um sie? Willst du sie mir etwa ausspannen?" Er muss lächeln bei diesem Gedanken. Jiska schätzt Hoffmanns Arbeit als Wachmann. Sein Äußeres jedoch gibt immer wieder Anlass zu heimlichem Spott. Mal mokiert sie sich über die Haartolle. Dann wieder über die dichten, über der Nase ineinander wuchernden Augenbrauen oberhalb von misstrauisch zusammengezogenen, sich wie Raubtiere in ihre Höhle zurückziehenden blassblauen Augen. Augen, die eine Kränkung erahnen lassen, von der er sich nie erholt hat. Diese Augen blicken nun sehr besorgt.
"Jiska leidet" behauptet er. "Sie leidet sehr. Beim letzten Mal wollte sie alles hinwerfen. Wollte fort von hier, ganz weit weg. Am liebsten nach Amerika - und ganz von vorn anfangen."
Busch erschreckt. Jiska? Nach Amerika? Aber warum? – Sie hat ihm nie davon erzählt. Wollte sie etwa...ohne ihn...?
"Sie fühle sich bedrängt, hat sie gesagt", berichtet der Major weiter. "Bedrängt und verfolgt. Sie könne aber nicht sagen, von wem. Es sei eher so ein ungutes Gefühl."
"Meinst du, sie ist... abgehauen?"
Hoffmann schüttelt den Kopf. "Man kann nur hoffen", er seufzt bedeutungsvoll, "dass niemand ihr etwas zuleide tut, meiner Sternschnuppe."
Busch will so etwas nicht hören. "Kommt denn heute jemand vorbei aus der Verwaltung? Jiska, oder Jäger?"
Hoffmann lacht auf: "Jäger? - ein seltener Gast." Er schüttelt den Kopf. "Es gibt Mitarbeiter, die würden eine Eintrittskarte von ihm verlangen." Hoffmann winkt ab. "Ist doch alles nur Geldwäscherei, das mit der Kunst."
Hoffmann ist eine alte Quatschtante!
Busch schaut auf die Uhr. Er hat es plötzlich eilig. "Es war schön, mal wieder hier zu sein."
"Komm doch einfach vorbei, wenn dir danach ist. Und grüß Jiska, sobald du sie findest. Ich vermisse sie!" Hoffmann grinst.
"Und was ist mit meinem Hausverbot?"
Busch will es dann doch genau wissen.
"Welches Hausverbot?" Der Major lächelt. "Hängt hier irgendwo ein Steckbrief von dir? Der Typ von damals kommt eh nicht wieder. Und andere interessiert es nicht." Hoffmann schlägt zum Abschied freundschaftlich gegen Buschs Brustkorb. Vor Schmerz schreit er auf, reibt sich den Handrücken. "Was hast du denn da drin?"
"Eine Zahnbürste!"
"Aus Metall?" Der Major tastet verwundert seine Handknöchel ab.
"Eine elektrische", Busch schiebt sich vorsichtig an ihm vorbei, hin zur Tür. "Wahrscheinlich hast du die Spitze getroffen."
Hoffmann mustert ihn von den Haarspitzen bis zu den Schuhen und zurück. Die Knie schlottern, Busch weiß es. Es scheint, als scheitere er an der ersten läppischen Kontrolle.
"Hau ab und mach keinen Blödsinn!" Hoffmann selbst schiebt ihn zur Tür hinaus. "Vor allem finde Jiska, auch mir zuliebe."
Busch lässt sich so etwas nicht zweimal sagen. Schwer zu glauben, denkt er noch, als er das Foyer durcheilt ohne sich umzusehen, dass der Major einstmals bei den Grenztruppen war. Aber vielleicht ändern sich Menschen ja auch.