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1. Kapitel

Manchmal sind es die Dinge, die uns als Fehler erscheinen, die uns dabei helfen, das Richtige zu tun.

Warm schien die Nachmittagssonne über einer Oldtimer-Werkstatt am Rande von Oberhausen. Matthias wischte sich mit einer beiläufigen Bewegung über die Stirn, während er sich über den Motor des Mercedes DB 300 SL beugte und mit ölverschmierten Händen den Vergaser untersuchte.

»Ich mache jetzt Feierabend«, tönte die Stimme von seinem Chef Christoph, vom Büro herüber.

»Mmh«, machte Matthias, ohne aufzusehen. Langsam richtete er sich auf und stemmte seine Hände in sein schmerzendes Kreuz. Seit drei Tagen versuchte er, den Motor des Oldtimers zum Laufen zu bringen – ohne Erfolg. Dabei sagten viele Kunden und die drei anderen Mechaniker der Werkstatt über ihn, dass er magische Hände besäße. Er war für seine Arbeitskollegen immer die erste Anlaufstelle, wenn sie mit einem Fahrzeug verzweifelten. Wer mit Oldtimern arbeitete, musste sehr viel häufiger improvisieren, als einem lieb war. Etwa, weil die notwendigen Originalteile nicht zu bekommen waren oder schlicht nicht mehr produziert wurden, und dennoch galt es, die historischen Lieblingsstücke wieder zuverlässig zum Laufen zu bringen.

»Kommst du voran?« Christoph hatte sich ihm unbemerkt genähert und stand nun hinter ihm.

Matthias schüttelte den Kopf.

»Bisher nicht. Das verfluchte Ding will einfach nicht anspringen. Im Moment bin ich mit meinem Latein am Ende.«

Christoph klopfte ihm auf die Schulter.

»Du wirst das schon hinkriegen. Der Memminger will den Wagen morgen abholen, weil er an einer Rallye irgendwo in der Schweiz teilnimmt. Bis dahin wird dir schon etwas einfallen.«

Matthias schnalzte mit der Zunge.

»Ich bin mir da nicht so sich…«

»Also, dann bis morgen«, unterbrach ihn Christoph und war schon auf dem Weg zur Tür. »Bis morgen!«

Matthias sah ihm mit gerunzelter Stirn nach. Das war so typisch für Christoph. Wenn Kunden in die Werkstatt kamen – und bei Oldtimern handelte es sich meistens um eine sehr wohlhabende Klientel – tat er stets dienstbeflissen und geradezu servil, doch ansonsten saß er am liebsten in seinem Büro herum und machte sich wichtig. Von Oldtimern und deren alter Technik hatte er nur insofern Ahnung, als dass er sie gedanklich sofort mit Preisetiketten versehen und so abschätzen konnte, wie wohlhabend ein Kunde war, wenn er mit einem bestimmten Auto in der Werkstatt aufkreuzte. Sein Vater hatte die Werkstatt einst gegründet und war bis heute eine Legende in der Oldtimer-Szene, doch sein Sohn Christoph hatte sich lieber damit begnügt, die Früchte der Arbeit seines Vaters zu ernten und gewinnbringend zu verwalten. Für die »Drecksarbeit«, wie er es nannte, die Arbeit an den Karosserien und Motoren, hatte er seine »Jungs«, die angestellten Mechaniker, allen voran Matthias. Schon seit seiner Kindheit tat er nichts lieber, als an alten und hoffnungslosen Autos herumzuschrauben und sie wieder auf die Straße zu bringen.

»Es ist eine Frage der Hingabe«, hatte sein Vater stets gesagt, wenn sie wieder gemeinsam einen ihrer Schrottplatzfunde nach Hause in die Werkstatt in ihrem Hinterhof gebracht hatten. Sie schraubten in jeder freien Minute, bis der Motor wieder schnurrte wie ein kleines Kätzchen und die Karosserie wieder makellos dastand.

»Mit diesen alten Autos ist es wie mit den Frauen. Du musst sie lieben und ihre ganze, versteckte Schönheit erkennen. Sie werden von der Leidenschaft regelrecht in Feuer gesetzt und versprühen dann einen Glanz, von dem niemand seinen Blick abwenden kann. Jeder mit genug Geld kann sich ein modernes Auto kaufen, aber einen Oldtimer, Matthias, den kann nur ein Mann mit Hingabe und echter Leidenschaft für jedes noch so kleine Detail wieder zum Leben erwecken. Mein Sohn, genauso ist es auch mit Frauen: mit Leidenschaft und Hingabe zweier Menschen erweckt man die wahre Liebe zum Leben.«

Wie immer versetzte Matthias der Gedanke an seinen Vater einen schmerzhaften Stich ins Herz. Kein Tag verging, an dem er ihn nicht vermisste. Fast 20 Jahre war es nun her, dass seine Eltern bei dem schrecklichen Zugunglück von Eschede ums Leben gekommen waren. Damals war Matthias gerade 13 Jahre alt gewesen, fast noch ein Kind. Das Ereignis hatte sein ganzes Leben in seinen Grundfesten erschüttert und manchmal hatte er das Gefühl, danach hätte er nie mehr festen Boden unter den Füßen gespürt.

»Du wirst schon sehen, auch du findest schon noch deinen Platz im Leben«, pflegte seine Oma Lotte zu sagen, zu der er nach dem Tod seiner Eltern ziehen musste. Nun war er 33, doch noch immer hatte er keine Ahnung, wo genau dieser Platz eigentlich war.

»Du musst dich selbstständig machen«, hörte er Hannas Stimme in seinem Kopf sagen, während er den Werkzeugwagen aufräumte und sich danach die Hände am Waschbecken in der Ecke der Werkstatt wusch.

»Du kannst viel mehr als Christoph. Stell dein Licht nicht immer so unter den Scheffel! Wie willst du sonst je deine Träume verwirklichen? Um nach den Sternen zu greifen, muss man sich anstrengen, Matthias.«

Hanna liebte solche Sätze. Sie stammten aus den unzähligen Büchern und CDs, die sie unablässig las und hörte. Sie trugen Titel wie »Die 10 Geheimnisse des Erfolgs«, »Werden Sie zum Superstar« oder »Shine bright«. Sie hatten alle so ziemlich den gleichen Inhalt: Selbstoptimierung. Hanna stand total auf solche Sachen. Ständig war sie darauf aus, sich selbst zu verbessern, äußerlich, wie in ihren Leistungen. Ehrgeizig war sie, perfektionistisch, fokussiert und unglaublich stark. Und dafür liebte Matthias sie, auch wenn es ihm manchmal so vorkam, als wirkte er neben ihr wie der geborene Versager. Anders als sie hatte er weder einen beeindruckenden Lebenslauf noch unzählige Weiterbildungen und Auszeichnungen vorzuweisen. Aber ihm genügte es, in seinem Job gut und glücklich zu sein. Er liebte, was er tat, das war auch jedem, der ihn kannte bewusst. Auch selbst wenn ihm die Kunden zuweilen gehörig auf die Nerven gehen konnten, ballte er die Faust in der Tasche und lächelte. Als sei das ein Stichwort gewesen, erschien eine Gestalt in der offenen Werkstatttür.

»Hallo?« Eine sonore Stimme war zu hören. Matthias trocknete sich die Hände ab und trat aus dem Schatten der Waschecke.

»Ja, bitte?«

»Wo ist der Chef?«, rief die Stimme wütend, so laut, dass sich alle Mitarbeiter erschraken und ihre Arbeit unterbrachen.

Der hat schon Feierabend, da müssen Sie…«

»Sie können Ihrem Chef sagen, dass ich ihn das nächste Mal vor Gericht sehe, wenn er mir noch einmal so eine Scheiße liefert«, knurrte der Mann und machte einen energischen Schritt auf Matthias zu. Nun konnte Matthias erkennen, um wen es sich handelte. Es war Dr. Steiner, seines Zeichens ein ehemaliger Hautarzt, der es zu Geld gebracht hatte, das er am liebsten für Luxus und alte Autos ausgab. Der Kunde trug stilecht eine Schiebermütze, ein teuer aussehendes Jackett mit aufgenähten Patches an den Ellenbogen und hielt in der rechten Hand den Knauf eines Stockes. Matthias hätte schwören können, dass dieser aus echtem Elfenbein gemacht war und im Inneren vermutlich eine rasiermesserscharfe Klinge führte.

»Ich habe keine Ahnung…«, setzte Matthias an, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

»Dass hier niemand eine Ahnung von Autos hat, das weiß ich bereits«, blaffte Steiner. »Mein Auto habt ihr mir angeblich repariert und dann bin ich ausgerechnet an der Promenade von Sylt mit ihm liegengeblieben. Zum Gespött der Leute habe ich mich dank eurer Unfähigkeit gemacht. Ich wette, man lacht von Hamburg bis Berlin über mich.«

»Herr Dr. Steiner, ich verstehe…«

»Was versteht einer wie du schon? Das Auto kostet mehr, als du in zehn Jahren verdienst und trotzdem hast du nicht genug Ehrfurcht, deine Arbeit wenigstens richtig zu erledigen.«

Matthias verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Schwierige Kunden zu beruhigen, war normalerweise Christophs Aufgabe, doch in der letzten Zeit verschwand dieser immer häufiger schon am Nachmittag aus der Werkstatt und überließ unangenehme Begegnungen wie diese Matthias. Doch dieser hasste nichts mehr, als Kunden Honig um den Bart zu schmieren, damit sie sich wieder beruhigten. Im Grunde hatte er für die »Schnösel« und »Geldsäcke«, wie er sie insgeheim nannte, nur Verachtung übrig. Sie hatten keine Ahnung von den Autos, die sie da fuhren. Sie empfanden weder Hingabe noch Leidenschaft für diese einzigartigen Wagen, sondern betrachteten sie lediglich als Statussymbole, mit denen sie ihre prall gefüllten Bankkonten zur Schau stellen konnten.

Matthias war diese Oberflächlichkeit zuwider, doch er liebte die Arbeit an den alten Autos so sehr, dass er den Kontakt mit dieser Sorte Mensch üblicherweise gezwungenermaßen in Kauf nahm. Ein Auftritt, wie ihn Dr. Steiner gerade hinlegte, kam hingegen eher selten vor und er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg.

»Wir haben Ihnen gesagt, dass die Reparatur lediglich ein Provisorium ist, bis die Teile aus England eingetroffen sind, was erfahrungsgemäß einige Zeit dauert. Sie haben darauf bestanden, dennoch mit dem Wagen nach Sylt zu fahren, auch wenn wir Sie davor eindringlich gewarnt haben…«, sagte Matthias mit fester Stimme, während er Dr. Steiner mit den Augen fixierte. Der Geldsack sollte ja nicht denken, dass er sich von ihm einschüchtern ließ.

»Papperlappap«, fiel ihm Steiner ungehalten ins Wort. »Wenn ich eine Reparatur in Auftrag gebe, dann erwarte ich, dass sie zu 200 Prozent erledigt wird, immerhin zahle ich Ihrem Boss eine Menge Geld dafür… wo ist er überhaupt?«

»Das sagte ich Ihnen bereits, er hat…«

»Sagen Sie ihm, dass ich meinen Anwalt informiert habe und dass er sich auf gehörigen Ärger gefasst machen kann. Ich erwäge, ihn auf eine empfindliche Summe Schmerzensgeld zu verklagen…«

»Wissen Sie was, machen Sie das«, unterbrach ihn Matthias, dem es nun endgültig zu bunt wurde. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss noch eine Reparatur fertig stellen, da habe ich keine Zeit für solch einen Tullus.«

Mit diesen Worten schob er Steiner unsanft aus der Werkstatttür und knallte ihm selbige vor der Nase zu. Er hörte, wie Steiner noch eine Weile vor der Tür herumtobte und eine Reihe von aberwitzigen Drohungen ausstieß, bis schließlich ein Motor aufheulte und er verschwand.

Matthias blickte aus dem Fenster. Wie so oft in der letzten Zeit kam ihm der Gedanke, wie satt er das alles hier hatte. Er fühlte sich, als steckte er fest. Dabei konnte er selbst nicht erklären, woher dieses Gefühl kam. Immerhin hatte er einen guten Job, den er gern machte und auch wenn Christoph ein ziemlicher Geizhals sein konnte, bezahlte er ihn verhältnismäßig gut.

Trotzdem meldete sich in der letzten Zeit immer wieder eine Empfindung von Unzufriedenheit. Matthias warf das Handtuch, mit dem er sich die Hände abgetrocknet hatte, in die Ecke und blickte sich in der Werkstatt um. Verschiedene Autos standen aufgebockt oder mit geöffneten Motorhauben herum, jedes von ihnen ein Schatz von unbestimmtem Wert.

»Jedes dieser Autos steht für einen Traum«, hörte er die Stimme seines Vaters in seinen Gedanken. »Jeder von uns hat einen Traum und wenn er von so einem Auto träumt, dann träumt er nicht nur von dem Wagen, sondern auch von dem Gefühl, mit dem Auto über die Straße seines Lebens zu fahren. Jene Straße, die nur er befahren kann und auf der er weder jemandem folgen muss noch von jemandem verfolgt werden kann.«

Damals, als Junge, hatte Matthias nicht verstanden, was sein Vater ihm mit diesen Worten sagen wollte. Doch inzwischen ahnte er, dass diese Sätze mehr als nur eine Liebeserklärung an die alten Autos waren, sondern vielmehr eine Metapher, in der eine tiefe Wahrheit über das Leben steckte. Ein Geheimnis, das zu erkunden er sich immer sehnsüchtiger wünschte, ohne zu wissen, wie er es angehen sollte.

Matthias ging in den Aufenthaltsraum, wo sich sein Spind befand, um sich die graue Latzhose, die graue Weste und das schwarze T-Shirt auszuziehen, sich den Dreck des Tages unter der Dusche abzuspülen und in seine Alltagskleidung zu schlüpfen. Heute wollte er auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen, immerhin war es der Jahrestag mit Hanna. Seit nunmehr zwei Jahren waren sie ein Paar. Perfekt füreinander, wie alle, die sie kannten, stets behaupteten - und es stimmte. Hanna war seine Traumfrau: schön, selbstbewusst, ehrgeizig und voller Träume. Er konnte es kaum erwarten, ihr genau das heute Abend mit einem romantischen Geschenk zu zeigen. Er griff nach seinem Handy und tippte Christoph eine Nachricht, um ihn über das Auftreten des Kunden zu informieren. Zu seiner Überraschung erhielt er sofort eine Antwort.

DER TYP REAGIERT STÄNDIG ÜBER, TOTAL NERVIG. LUST NOCH ETWAS TRINKEN ZU GEHEN? MEINE PLÄNE FÜR HEUTE HABEN SICH SPONTAN GEÄNDERT. Matthias starrte auf die Nachricht, dann schrieb er: SORRY, DU WEIßT DOCH, HANNA UND ICH HABEN HEUTE JAHRESTAG. EIN ANDERES MAL.

Dann schob er das Handy in die Tasche seiner Jeans und machte sich auf den Heimweg. Während er seinen Wagen durch die vom Feierabendverkehr verstopften Straßen lenkte, dachte er daran, wie er und Hanna sich vor genau zwei Jahren kennengelernt hatten. Es war ein lauer Frühsommerabend gewesen, ganz ähnlich wie der heutige. Christoph hatte ihn in letzter Sekunde, bevor Matthias Feierabend machen wollte, damit beauftragt, einen Wagen an einen Kunden auszuliefern. Matthias war bereits seit guten 10 Stunden in der Firma, dadurch müde, zerstreut, hungrig und mit seinen Gedanken schon beim nächsten Auftrag, der auf ihn in der Werkstatt wartete. Er war in so in seine Gedanken vertieft, dass er eine rote Ampel und einen davorstehenden kleinen, aber moderneren Mini Cooper übersehen hat. Er erinnerte sich nur zu gut an den Schock und den Schmerz an der Stirn, den das Lenkrad aus Wurzelholz mit bronzefarbenen Nieten und verchromten Streben in der Mitte hinterlassen hat, gefolgt von einem Gefühl von Ärger. Das war das Letzte, was er kurz vor Feierabend hatte gebrauchen können.

»Können Sie nicht aufpassen? Oder sind Sie zu blöd zum fahren? Brauchen sie eine Brille? Sie müssen mich oder die rote Ampel doch gesehen haben!«, hatte Hanna wutentbrannt gerufen, kaum, dass sie aus dem Wagen gestiegen war.

Der Unfall hatte die sonst so perfekte Frisur ein wenig aus der Form gebracht, das kleine schwarze Kostüm, das an anderen Tagen wie angegossen an ihrer schlanken, dezent wohlgeformten Figur saß, war verrutscht.

»Die Ampel war orange«, hatte Matthias ihr geantwortet, dessen Ärger bei ihrem Anblick auf einmal wie verflogen war. Ihr Gesicht war wunderschön, so ebenmäßig wie bei einem Model, mit großen, makellos geschminkten Augen, hohen Wangenknochen und dezentem Make-Up. Ihm waren sofort der entschlossene Gesichtsausdruck und das Funkeln in ihren Augen aufgefallen. Er konnte die Augen nicht mehr von ihr lassen. Nachdem sie den Schaden an ihrem Auto begutachtet hatte, fiel es ihr natürlich auf, dass sie Matthias‘ Augen für sich gewonnen hatte und legte ihren Kopf zur Seite, während sie ihn anschaute. Ihre Stoßstange hatte zwar eine Beule und der Lack einige Kratzer, aber die Motorhaube des Oldtimers war erheblich stärker beschädigt.

Matthias erinnerte sich noch gut daran, wie er Christoph später von dem Unfall erzählte und auch jetzt erinnerte er sich an jedes Detail, als sei es erst gestern gewesen. Er musste nur die Augen schließen und plötzlich befand er sich wieder auf der Straße, mitten im Feierabendverkehr, umgeben von hupenden Autos, die sich ihren Weg an ihnen vorbei bahnten.

»Ist das überhaupt Ihr Auto?«, fragte sie misstrauisch und Matthias zog die Augenbrauen hoch.

»Wieso, glauben Sie, ich könnte mir den Wagen nicht leisten? Aber nein es ist nicht meiner!«, antwortete Matthias spöttisch und lächelte sie dabei an. Obwohl Hanna noch immer wegen des Unfalls sichtlich aufgebracht war, konnte auch sie ein Grinsen nicht unterdrücken. Es war sofort spürbar, dass es eine Anziehung zwischen ihnen gab, auch wenn Hanna es ihm zunächst nicht leicht machte und sie von Polizei, Versicherung und Gutachten faselte. Matthias hat ihr trotzdem angeboten, den Schaden sofort in der Werkstatt zu beseitigen. Es kostete ihn einiges an Überzeugungskraft, sie dazu zu bewegen, mit ihrem Wagen in die Werkstatt zu kommen. Den Oldtimer konnte er grade so mit Ach und Krach zurück zur Werkstatt fahren, da der Kühler einen Riss hatte. Christoph machte ihm natürlich ebenfalls eine Szene. Er hatte keine Ahnung, wie er das dem Oldtimer-Besitzer erklären sollte. Matthias hatte gerade noch Zeit, Christoph zu beruhigen und den Kunden anzurufen, um ihm irgendeine Geschichte aufzutischen, weshalb der Wagen nun leider noch einige Tage länger in der Werkstatt verbleiben musste, bevor Hanna aufkreuzte. Christophs Zorn war wie verflogen, als er sie in ihrem kleinen Schwarzen aus dem Auto steigen sah, doch Hanna hatte aus irgendeinem Grund nur Augen für ihn, für Matthias. Um sie zu informieren, wann ihr Wagen wieder einsatzbereit war, notierte Matthias ihre Nummer. Nachdem sie mit einem Taxi zu ihrem nächsten, wichtigen Termin abgefahren war, dachte Matthias lange darüber nach, ob es richtig wäre, sie anzurufen und ihr ein Abendessen als Wiedergutmachung anzubieten. Schließlich entschied er sich dafür und rief sie einen Tag später an.

Eigentlich war er sich sicher, dass sie ablehnen würde, doch zu seiner Verwunderung stimmte Hanna der Verabredung zu. Zwei Tage später trafen sie sich bei einem entzückenden, kleinen Italiener, der nicht weit von der Werkstatt entfernt war. Sie tranken Wein, aßen Pasta und landeten noch in der gleichen Nacht im Bett. Ab dem Zeitpunkt ging alles ganz schnell, vielleicht, weil Hanna von da an die Dinge in ihre Hand nahm: der erste Urlaub, nach sechs Monaten die gemeinsame Wohnung, die sie alleine einrichtete, das erste gemeinsame Weihnachten und alles, was ein gemeinsames Leben ausmachte. Alles lief wie nach einem Drehbuch ab und Matthias akzeptierte es aus Liebe zu ihr. Sie war wunderschön, erfolgreich, zielstrebig und konnte knallhart sein. Er wusste, dass sich alle Männer nach ihr umdrehten, wenn sie nur über die Straße ging und ihn viele für diese tolle Frau beneideten. Er wusste selbst nicht genau, was Hanna eigentlich an ihm fand, immerhin war er das ziemliche Gegenteil von ihr. Weder trug er gerne einen Anzug oder unverschämt teure Kleidung, noch trieb er sich gerne in schicken Restaurants herum. Er liebte seine Arbeit, keine Frage, doch eine Karriere strebte er eigentlich nicht an. Viel lieber verbrachte er die Abende in seiner Lieblingskneipe oder vor dem Fernseher und sein liebstes Outfit waren noch immer Jeans und Longshirts.

Für Hanna versuchte er, sich anzupassen, auch wenn er sich nicht wohlfühlte. Aber da würde man sich schon noch dran gewöhnen, dachte er. Matthias seufzte. Liebe ließ sich eben nicht erklären, dachte er sich. Daran, dass er Hanna liebte, konnte kein Zweifel bestehen. Heute waren sie zwei Jahre zusammen und er wusste, dass so langsam der nächste Schritt anstand. Welcher das war, darüber konnte kein Zweifel bestehen: Er musste ihr einen Antrag machen. Insgeheim fragte er sich, weshalb er das nicht schon längst getan hatte. Es war nicht so, dass er sie nicht heiraten wollte. Doch, das wollte er unbedingt, aber er fürchtete, Hanna zu enttäuschen. Eine Perfektionistin wie Hanna erwartete mindestens einen Heiratsantrag wie aus einem Kitschroman - mit Kerzen, Tauben und tausend anderen Dingen. Damit war Matthias schlichtweg überfordert und es gab auch niemanden, der ihm in dieser Sache einen guten Ratschlag geben konnte. Seine Oma Lotte war ihm keine Hilfe. Lotte war der einzige Mensch, der von Hanna nicht so begeistert war, wie alle anderen. Sie nannte sie »das Püppchen« und das war keineswegs positiv gemeint. Zwar riss sie sich ihm zu liebe zusammen, wenn er, was selten genug vorkam, mit Hanna gemeinsam bei ihr auftauchte. Wenn er mit ihr allein war, wurde sie nicht müde, ihm zu erklären, dass Hanna nicht die Richtige für ihn war.

»Diese Frau hat einfach kein Herz. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht ein Roboter ist. Ich habe gelesen, dass sie jetzt Roboter erfinden, die wie Menschen aussehen. Sie kann noch nicht einmal kochen«, sagte sie dann etwa, was Matthias schmunzelnd ignorierte.

»Hanna hat viele andere Qualitäten«, war seine Antwort darauf. »Sie hat Geschmack und weiß, was sie will, und das ist auch viel wert.« Bei diesen Gelegenheiten sah ihn Oma Lotte mit diesem durchdringenden Blick an, als fragte sie ihn, ob er denn wisse, was er wollte. Das wusste Matthias: Er wollte Hanna und dass sie mit ihm, aber auch mit ihrem gemeinsamen Leben zufrieden sei, denn dann würde er es auch sein. Das Problem war nur, dass Hanna ziemlich schwer zufrieden zu stellen war, was ihn zum heutigen Abend brachte. Ob sie sich über seine Überraschung freuen würde? Was, wenn ihr sein Geschenk gar nicht gefiel und sie mit etwas ganz anderem rechnete? Bei dem Gedanken daran bekam Matthias schweißnasse Hände und eine Art Übelkeit überkam ihn. Er umklammerte das Lenkrad ein wenig fester und beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Hanna liebte ihn und sie würde sich über seine Geste freuen, daran musste er einfach glauben.

»So eine verfluchte Scheiße!« Entgeistert blickte Hanna an ihrer Strumpfhose herunter, an der sich eine ziemlich große Laufmasche vom Knie bis zum Knöchel zog. Sie war an dem Tisch hängen geblieben, auf dem sie das neueste Produkt neben der regulären Produktpalette von »YourBestSelf« präsentierte, eine Tagescreme, die jede Frau binnen sechs Wochen garantiert um Jahre jünger aussehen ließ. Neben dem Tisch standen rechts und links zwei Werbebanner, die mit großen Lettern die zahlreichen Vorteile der »StayYoung«-Tagescreme verkündeten. Vor knapp einer Stunde war die Präsentation in dem kleinen Einkaufszentrum am Stadtrand zu Ende gegangen. Ein C-Sternchen der lokalen Prominenz, die durch zahlreiche Schönheits-OPs zu einer erstarrten Mimik verdammt war, hatte die Creme vorgeführt. Dabei schwärmte das Model davon, wie viel »natürliche Schönheit und Jugendlichkeit« ihr dieses Produkt verliehen hatte und dass ihr gutes Aussehen einzig und allein auf die Wunderwirkung dieser Creme zurückzuführen war. Alles schien genau nach Drehbuch zu verlaufen und nach der Präsentation scharrten sich dutzende Frauen mittleren Alters um den Verkaufsstand, um »StayYoung« zum Einführungspreis zu erwerben. Gut, dass sie alle nicht wussten, dass dieser nur wenige Cent unter dem tatsächlichen Preis lag. Jetzt war es ruhiger geworden, am Abend eilten nur noch einige berufstätige Frauen für den letzten Einkauf durch die Shopping Mall und hatten kaum einen Blick für Hanna. Eine Frau näherte sich dem Verkaufsstand. Hanna scannte sie mit geübtem Blick. Ihre Jacke war sicher mehr als zehn Jahre alt, ihre Schuhe bequem, aber sicher nicht modisch. Sie mochte noch nicht sehr alt sein, doch ihr ganzer Look verriet, dass sie den Kampf gegen das Alter viel zu früh aufgegeben hatte und scheinbar auch nicht das nötige Kleingeld besaß, um dauerhaft eine Kundin von »YourBestSelf« zu werden. Vermutlich hatte sie es lediglich auf ein paar kostenlose Proben abgesehen. Hanna gelang es kaum, ihre Verachtung für diese Sorte Frau im Zaum zu halten.

»Hallo«, sagte die Frau und lächelte unsicher. Hanna entblößte ihre makellos weißen Zähne zu einem perfekt einstudierten Lächeln. Performance war, wenn man es auch dann durchzog, wenn es nicht darauf ankam, das hatte sie in einem der endlosen Verkaufsseminare zu Beginn ihrer Arbeit bei »YourBestSelf« gelernt.

»Haben Sie Interesse an einer Creme, die Ihr Leben verändern wird?«, zwitscherte sie mit gekonnter Freundlichkeit. Die Frau nickte und blickte mit großen Augen auf die Tiegel, die Hanna sorgsam zu einer Pyramide aufgeschichtet hatte.

»Lässt einen die Creme denn tatsächlich jünger aussehen?«, fragte die Frau, während sich ihre Hände an ihre Einkaufstüte, die von einigen Äpfeln ausgebeult wurde, klammerten. Hanna gelang es, ihre wachsende Verachtung für die Frau niederzuringen und ein professionelles Verkaufsgespräch zu führen. Immerhin, so sagte sie sich, konnte diese Frau eine Testkäuferin sein, die die Zentrale in der letzten Zeit immer wieder losschickte, um die Arbeit der Sales Agents zu überprüfen. Sie lächelte noch eine Spur breiter und begann, der Frau mit gespielter Liebenswürdigkeit all die Vorteile und Wunderwirkungen ihres Produkts aufzuzählen. Hanna bot ihr sogar an, sie hier und jetzt auszuprobieren. Sie atmete erleichtert auf, als die Frau mit einem Lächeln endlich abzog, natürlich ohne auch nur eine Creme gekauft zu haben.

»Puh«, machte Hanna und warf einen Blick auf die Uhr. Endlich, es war so weit. Sie konnte den Stand abbauen und nach Hause fahren. Ein missmutiger Blick auf ihr Bein verriet ihr, dass die Laufmasche inzwischen bis hinauf zu ihrer Hüfte reichte.

»So ein billiger Scheiß«, fluchte sie und beschloss, nie wieder eine Strumpfhose von einer billigen Marke zu kaufen, auch wenn es ein Notfall wäre. Vielleicht würde sie dem Hersteller online eine Beschwerde tippen, die sich gewaschen hatte. Wenn der Hersteller etwas von Kundenbetreuung verstand, würde er ihr mindestens zwei Gratis-Strumpfhosen zukommen lassen, um sie als aufgebrachte Kundin wieder zu besänftigen. Hanna räumte die Tiegel und die anderen Produkte zurück in den kleinen Metallkoffer, klappte den Tisch zusammen und wuchtete alles zusammen in ihren Mini. Dann wischte sie sich, vorsichtig, um ihr Tages-Make-Up nicht zu zerstören, den Schweiß von der Stirn. Ihr Magen knurrte und sie hatte Durst. Doch da Matthias sie mit Sicherheit heute Abend, an ihrem Jahrestag, zum Essen einladen würde, war es ausgeschlossen, dass sie vorher etwas essen würde. Seit ihrem morgendlichen Eiweiß-Shake hatte Hanna nichts gegessen, immerhin hatte man eine Figur wie die ihre nicht ohne die entsprechenden Anstrengungen. Ihr Blick wanderte zu dem Supermarkt-Schild auf dem Parkplatz. Ein Smoothie wäre drin, dachte sie sich, klappte den Kofferraum zu und stolzierte auf ihren Stilettos in Richtung Supermarkt. Hier herrschte ziemliches Gedränge, doch erfreulicherweise hatte jemand daran gedacht, die Obsttheke aufzufüllen, so dass sie nun die Wahl zwischen gleich fünf verschiedenen Smoothies hatte. Eigentlich hatte sie Lust auf Erdbeeren, Kiwi und Banane, doch der grüne Smoothie enthielt mehr Antioxidantien, auch wenn er eher wie etwas schmeckte, das man im Garten auf den Kompost warf. Hanna seufzte, griff nach dem Smoothie und ging zur Kasse, wo sie sich mit kühlem Blick in die Schlange der Wartenden einreihte. Routiniert ließ sie ihren Blick über die vollen Einkaufswagen der anderen Kunden wandern. Es gehörte zu ihrem Job, sofort zu erkennen, welche Bedürfnisse jemand hatte und wie man ihn dazu brachte, diese in Form eines bestimmten Produkts zu befriedigen. Dazu gehörte auch, schnell abzulesen, wie viel Geld jemand zur Verfügung hatte und wofür er bereit war, es auszugeben. Der Typ mit dem Anzug vor ihr etwa, gab sich große Mühe, den Eindruck zu erwecken, er hätte viel Geld, doch sein Anzug war von der Stange und die Schuhe hatten eine Plastiksohle. Er befand sich noch ganz unten auf der Karriereleiter und gab vielleicht Geld für irgendwelche Coachings und Seminare aus, ganz sicher aber nicht für Kosmetik. Ganz anders die Frau vor ihm. Ihr hochtoupiertes Haar und die dichte Parfümwolke, in die sie gehüllt war, waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie gerne und viel Geld für sich ausgab und Wert auf Luxus legte. Zu gern hätte Hanna sie in ein Gespräch verwickelt, doch heute Abend war sie dafür definitiv zu müde und außerdem musste sie nach Hause, wo Matthias auf sie wartete. Beim Gedanken daran stieß sie einen kurzen Seufzer aus. Vermutlich hatte er sich wieder eine ebenso romantische wie einfallslose Geste für sie ausgedacht, die weder individuell noch kostspielig war. Das würde ihr wieder alle Mühe abverlangen, dazu eine gute Miene aufzusetzen. Seit zwei Jahren war sie nun schon mit ihm zusammen und Matthias hatte seine guten und schlechten Seiten. Er verfügte sogar eindeutig über Potenzial, doch sein Problem war, dass er nicht einmal im Entferntesten daran dachte, dieses auch auszuschöpfen. Wenn er sich nur ein klein wenig anstrengen würde, dann könnte er längst eine eigene Werkstatt haben, anstatt immer noch für einen Hungerlohn bei Christoph zu arbeiten. Er hatte sogar das Zeug dazu, es zu einer echten Koryphäe im Bereich Oldtimer zu bringen, wenn er sich nur ein wenig mehr anstrengen würde. Hanna verzog das Gesicht und zückte ihr Handy.

BIN GLEICH ZU HAUSE, SCHATZ, ICH FREUE MICH AUF DICH, verkündete eine Textnachricht von Matthias. Hanna beschloss, sie zu ignorieren. Alles, was sie wollte, war ein großes Glas Wein und eine heiße Badewanne. Danach war sie vielleicht bereit, sich Matthias und ihrem Jubiläum zu widmen. Damals, als er ihr aus heiterem Himmel in den Wagen gefahren war, hatte sie etwas in ihm gesehen, in diesem großen, etwas schlaksigen Kerl, mit den langen Beinen und dem zerzausten Haar. Matthias sah auf eine unkomplizierte und zugleich unglaublich interessante Art und Weise gut aus. Er hatte jene Art von Körper, die man weder für zu muskulös noch zu dünn oder zu dick beschreiben könnte, mit den blitzenden Augen eines kleinen Jungen, die immer ein wenig verträumt dreinblickten. Er sah tatsächlich aus wie ein Rohdiamant, der geformt werden will. Mit dem Motoröl an den Händen und den leichten Falten an den Wangen, aber auch an den Augen, wenn er lächelte, wirkte der 3-Tage-Bart zwar sehr rustikal, aber dieser könnte ja sehr leicht entfernt werden. Als sie ihn dann in der Werkstatt gesehen hatte, hatte sie begriffen, dass Matthias tatsächlich über eine Menge Know-How verfügte, aber dass es ihm an jemandem mangelte, der sein Potenzial zur Geltung brachte. Sofort hatte Hanna durchschaut, dass obwohl Christoph der Chef der Werkstatt war, in Wirklichkeit Matthias die Dinge in der Hand hatte, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich entschieden, Matthias zu ihrem Projekt zu machen, ein Rohdiamant, den sie zum Glänzen bringen würde. Leider musste sie nach der bisherigen Zeit mit ihm zugeben, dass sich ihr Projekt als sehr viel komplizierter herausstellte, als sie es eingeschätzt hatte. Und dann waren da noch die Gefühle. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund empfand sie etwas für Matthias, auch wenn sie nicht definieren konnte, woran das lag. Natürlich hätte sie andere Männer haben und an sich binden können, jede Menge Männer sogar, doch etwas an Matthias hinderte sie daran, ihn für einen anderen zu verlassen. Vielleicht war es die Wärme, die von ihm ausging, wenn sie sich nachts mit ihren notorisch kalten Füßen an ihn kuschelte oder er mit einem Lächeln jeden noch so schlechten Tag erhellte.

»Du bist albern, Hanna«, sagte sie sich. Erneut meldete sich ihr Telefon, es zeigte eine Nachricht von K.P. an, die Kurzform von »Knuffelpuffel«. Nicht, dass sich Matthias je die Mühe gemacht hätte, ihr Handy zu durchsuchen, auf diese Idee wäre er nie gekommen. Matthias vertraute ihr blind, was auf der einen Seite schön war, Hanna auf der anderen Seite aber auch wütend machte. Traute er ausgerechnet ihr denn keine Affäre zu? ICH WÜRDE DICH HEUTE ZU GERNE IN MEINE ARME SCHLIEßEN, las Hanna. BIST DU DIR SICHER, DASS DU HEUTE ABEND KEINE ZEIT HAST? ICH HABE ETWAS GANZ BESONDERES FÜR UNS VORBEREITET…

Hanna legte die Stirn in Falten, obwohl sie wusste, dass das für ihr jugendliches Aussehen nicht von Vorteil war.

KEINE CHANCE, schrieb sie zurück. MATTHIAS UND ICH HABEN HEUTE ZWEIJÄHRIGES. MORGEN VIELLEICHT.

Sie musste nicht lange auf eine Antwort warten. SEHR SCHADE, wurde ihr mitgeteilt.

Hanna schaltete ihren Bildschirm aus und konzentrierte sich auf die Kassiererin vor ihr, die gerade ihren Smoothie über den Scanner zog. Hanna verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen, während sie die junge Frau musterte. Sie trug das braune Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz, der ihr etwas Mädchenhaftes verlieh, obwohl sie vermutlich nur wenige Jahre jünger war als Hanna. Sie trug kein Make-Up, nur etwas Wimperntusche, die ihre großen Augen betonte, allerdings die kleinen roten Flecken an ihrem Kinn nicht bedeckte.

»Naja«, sagte sich Hanna in Gedanken. Als Kassiererin hat man vermutlich kein Geld für teure Kosmetik. Unfassbar, wie jemand sein Leben so wegwerfen kann.«

Dann setzte sie ihr professionelles Lächeln auf und strahlte die Kassierin an.

»Sie haben eine schöne Haut«, log sie.

»Ich habe noch bis morgen den Beautystand vorne am Rondell. Kommen Sie doch mal vorbei für eine Gratisberatung.« Mit spitzen Fingern zückte sie einen Geldschein aus ihrem roten Lack-Portemonnaie. Die Frau sah sie verwundert an.

»Ähm, danke«, sagte sie stotternd. »Aber ich glaube nicht…«

»Es ist nie zu früh, um damit anzufangen. Glauben Sie mir, was Ihre Haut angeht, ist es viel später, als sie denken«, gab Hanna zurück. Sie liebte diesen Satz, den sie auf einem Seminar gelernt hatte. Nichts versetzte Frauen so sehr in Angst und damit in beste Kaufstimmung, als wenn man ihnen sagte, dass sie älter aussahen, als sie dachten.

Die Frau sah sie irritiert an und insgeheim freute Hanna sich, dass ihre Masche auch diesmal ihre Wirkung nicht verfehlte. Doch zu ihrer Verwunderung verzog die Frau ihre Mundwinkel zu einem strahlenden Lächeln.

»Ach«, sagte sie. »Ich mache meine Kosmetik am liebsten selbst. Da weiß ich wenigstens, was drin ist und funktionieren tut es auch, ohne dass ich Tieren die Falten aus dem Arsch creme.« Strahlend reichte sie Hanna ihr Wechselgeld und Hanna entging nicht, dass der Mann direkt hinter ihr ein unterdrücktes Lächeln ausstieß. Sie funkelte ihn an, dann griff sie nach ihrem Smoothie und verließ hocherhobenen Hauptes den Supermarkt. Manchen Frauen ist eben einfach nicht zu helfen, dachte sie, während sie durch die Abendsonne zu ihrem Wagen ging. Dort schickte sie Matthias vor dem Starten des Motors eine Nachricht, in der sie ihm sagte, dass sie in wenigen Minuten zu Hause sein würde. Zu dem Satz, dass sie sich auf ihn freute, konnte sie sich allerdings nicht durchringen. Dazu war ihre Laune jetzt definitiv zu schlecht.

Herzhaft Verkorkst

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