Читать книгу Falsche Wiederkehr der Religion - René Buchholz - Страница 6
Оглавление„Das Übel gedeiht nie besser,
als wenn ein Ideal davorsteht.“
Karl Kraus
Einleitende Bemerkungen
El sueño de la razon produce monstruos. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer; die bekannte Radierung Goyas (1797/98)1 ist zur Mahnung der Aufklärer geworden. Bild und Titel lassen sich allerdings nicht auf die schlichte Dichotomie von Aufklärung/Humanität einerseits und Irrationalität/Barbarei andererseits festlegen. Die Vernunft schläft, aber die Monster kommen nicht etwa von außen, die mangelnde Wachsamkeit nutzend, sondern werden von der Vernunft selbst produziert. Das Organon der menschlichen Orientierung, des autonomen Subjekts und des Fortschritts bringt all das hervor, was der Aufklärung nicht ohne Grund ein Gräuel ist und so oft in der menschlichen Geschichte sein destruktives Potenzial entfaltete. Hat die Vernunft selbst ein Unterbewusstsein, dem all das entsteigt? Ist ihre Überlegenheit bloßer Schein, mehr schlecht als recht kaschierter Schrecken über die irrationalen Abgründe und archaischen Erbschaften in ihr selbst? Denkbar, dass es die Dämonen der Vergangenheit sind, die hier die Vernunft und ihren Träger (den schlafenden Künstler selbst?) heimsuchen als Wiederkehr des Verdrängten. Vielleicht liegt sogar in der kontrollierenden, beherrschenden Gewalt der Rationalität etwas Irrationales, das sich fortschreitend mit der Vernunft entfaltet. Was geschieht, wenn die Vernunft die Contenance verliert?
Goyas meisterhafte Radierung, welche ursprünglich die Caprichos eröffnen sollte, die, in den Worten Paul Nizons, „in monströsen Angstträumen eine dem Irrsinn verfallene Gesellschaft spiegeln und gleichzeitig den Raum des Irrationalen und Dämonischen aufbrechen“2, entscheidet zwischen diesen Möglichkeiten nicht. Goyas Werk verarbeitet an der Schwelle zur Moderne bereits deren sich abzeichnende Ambivalenz. Nach Spanien gelangt der Fortschritt 1807 im Zeichen des Krieges. Der Export der Freiheit mit Kanonen und Bajonetten durch die Truppen Napoleons bereitet keineswegs ungetrübte Freude. Sie bringen nicht Aufklärung und Reformen in ein politisch hoffnungslos rückständiges Land, sondern Schrecken und Gewalt, als hätten die Menschen unter der Herrschaft des alten Regimes davon nicht schon genug erlebt; in den Desastres de la Guerra findet dies auch seinen künstlerischen Ausdruck.3 Goya bewegte sich zwischen dem spanischen Hof und den Kreisen der stets von der Inquisition bedrohten Aufklärer in Spanien, und in beide, nur schwer versöhnbare Sphären wurde er fast zeitgleich eingeführt. Seine Karriere begann 1773 unter der Protektion des Hofmalers Francisco Bayeus und setzte sich unter dem aufgeklärten Absolutismus Karls III. fort.4 Der bald zum Hofmaler avancierte Goya musste, um zu überleben, „ein feines Gespür haben für das Ränkespiel und das politische Klima“, das in seinem Leben häufig wechselte.5 Nicht immer gelang ihm die Kunst der vorsichtigen Balance oder der klandestinen Subversion wie etwa im Portrait der Familie Karls IV. (1798),6 die ungeschönt dargestellt wird, als wären sie der Unterwelt entstiegen.
Sind Goyas Monster und Dämonen gebannt, seine Albträume verflogen? Wohl kaum. Angesichts fortbestehender totalitärer und regressiver Tendenzen, die sich im Gewande der Emanzipation ebenso wie der Religion zeigen, scheint die Frage ihre Aktualität nicht verloren zu haben. Die Vernunft scheint auch den Schlaf im Wachen, ja in scheinbar höchster Aktivität zu kennen. Dort, wo sie in den Augen der Strategen und Eroberer ihre stärkste Seite hat, in ihrer instrumentellen Form, produziert sie jene Ungeheuer neu, die zu vertreiben sie sich einst anschickte. Das Ineinander von Humanität und Grausamkeit, Kultur, Rationalität und Barbarei ist in der Moderne nicht etwa aufgelöst, sondern eher verstärkt worden bei allem Fortschritt von Technik und Ökonomie, ja gerade durch ihn hindurch. Zu den Dämonen, die wiederkehren, gehören auch der religiöse Fanatismus und Fundamentalismus, den Aufklärung einst überwinden wollte und dessen Quellen möglicherweise tiefer liegen, als es dem Siècle des Lumières erscheinen mochte. „Der Fundamentalismus“, heißt es zu Beginn der Studie Strong Religion, „ist einer der charakteristischsten politischen Phänomene unserer Zeit“7. Noch wenige Jahrzehnte früher hätte in den politischen und kulturellen Debatten der 1960er Jahre ebenso wie in der Aufbruchsstimmung des II. Vatikanischen Konzils kaum jemand einen solchen Satz formuliert. Für Teile der Linken stand Religion auf verlorenem Posten, und für den Fundamentalismus war eher die Psychotherapie zuständig. Das hat sich seit der Revolution im Iran 19798 und den Entwicklungen im Sudan, in Afghanistan und Indien, vor allem aber seit den medienwirksam inszenierten Attentaten vom 11. September 2001 in New York und Washington geändert.9 ‚Le fanatisme‘, das Schreckgespenst der Aufklärung und Goyasche Monster, geht wieder um, und zwar nicht als säkularer Wahn wie im 20. Jahrhundert, sondern erneut als explizit religiöse Erscheinung.
„Der Fanatismus“, schrieb Alexandre Deleyre (1726–1797) für die von d’Alembert und Diderot herausgegebene Encyclopédie, „hat weitaus mehr Unglück über die Welt gebracht als die Gottlosigkeit. Worauf gehen die Gottlosen aus? Sie wollen sich von einem Joch frei machen, wohingegen die Fanatiker die ganze Welt in ihre Ketten legen wollen.“10 Man wird zögern, Fundamentalismus, ein Begriff, den die Aufklärer noch nicht kannten, und Fanatismus als synonyme Begriffe zu verwenden, aber ein fanatischer Zug eignet dem Fundamentalismus durchgehend, wo er mehr oder weniger stark sozial organisiert auftritt.11 Dass allerdings auch Deleyres Gottlose den Fanatismus kennen, zeigte bereits der Verlauf der Französischen Revolution spätestens seit Beginn der grande terreur im Jahr 1793. In der Russischen Revolution und dem Terror des Stalinismus einerseits und im Nationalsozialismus andererseits erwiesen sich dezidierte Atheisten als Fanatiker. Hinter Deleyres Ausführungen stehen Erfahrungen mit religiöser und (damit oft verbunden) politischer Intoleranz, die Aggressivität nicht scheut. Religionskriege und Verfolgung von Dissidenten hatten dem Image der Religion erheblich geschadet, und so wundert es nicht, dass Deleyre als erste Ursache des Fanatismus die Dogmen angibt. „Wenn diese der Vernunft widersprechen, so untergraben sie die Urteilskraft und unterwerfen alles der Einbildungskraft, deren Mißbrauch das größte aller Übel ist.“12 Die Kontrolle der Einbildungskraft, an der die ‚Haussmannisierung des Geistes‘ seit Descartes emsig arbeitet, ist unmöglich, wenn statt der Mittel, klare und deutliche Erkenntnisse zu erlangen, nur Dogmen verabreicht werden, die jede Prüfung abweisen und Unterwerfung fordern. Dass die religiösen Lehrgehalte dem Subjekt äußerlich und vernunftfeindlich aufgenötigt werden, führt indessen nicht zu deren Ablehnung, sondern zur Sektenbildung und befördert die fanatische Haltung, mit der sie verteidigt werden. Die Unklarheit der Dogmen bewirke unzählige Spaltungen und Konflikte, während die Wahrheit auf Fanatismus verzichten könne, da sie durch ihre Evidenz überzeuge und intersubjektiv gültig sei.13
Die grundlegenden Geltungsansprüche zumindest der Offenbarungsreligionen sind also nicht evident, sondern problematisch, werden aber in apodiktischem Ton vorgetragen. Die naturwissenschaftliche und historische Problematik der Glaubensinhalte, auf die auch Deleyre anspielt, tritt in ihrer ganzen Schärfe erst seit Beginn der Neuzeit hervor. Während Wissenschaft bescheidener prinzipiell fallible Thesen formuliert, tritt der Glaube mit dem Anspruch einer von Gott geoffenbarten und insofern infalliblen Wahrheit auf, obwohl die Inhalte dieser Offenbarung sich weder historisch noch philosophisch als unfehlbar erweisen. Es genügt nicht, darauf hinzuweisen, dass Wissenschaft und Glaube sich auf völlig disparate, keinen Vergleich duldende Objekte beziehen. Sofern der Glaube seinen Inhalt in der logischen Form des Urteils formuliert und Geltung beansprucht, setzt er sich auch dem Zweifel und der Notwendigkeit einer rationalen Prüfung aus. Solange am Modell einer Verbalinspiration heiliger Schriften festgehalten wird, ist der massive Konflikt mit wissenschaftlichem Denken unvermeidbar, der im Fortgang nicht mehr durch das bessere Argument, sondern seitens der Religion durch Anrufung staatlicher Autoritäten entschieden werden sollte: An die Stelle der Einsicht traten Gewalt, Furcht und erzwungener Gehorsam. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der politische Kampf gegen das ancien régime, den nicht nur die Enzyklopädisten führten, manchen dazu verleiten mochte, die Sicherheit unserer Wahrheitserkenntnis und die Friedlichkeit, mit der die Argumente ausgetauscht werden, zu überschätzen, hat die Aufklärung den Zusammenhang zwischen Glaubensinhalten, die der rationalen Vermittlung (und Prüfung) zunehmend entzogen werden, und einer – zuweilen bis zur Gewaltbereitschaft gehenden – Autoritätsfixierung richtig erkannt.
Dieser Konnex kennzeichnet auch den heutigen Fundamentalismus, von dessen wachsendem Einfluss viele Zeitgenossen ebenso überrascht sind wie umgekehrt manche Theologen von der Persistenz atheistischer Überzeugungen, die nur als ‚neu‘ erscheinen, weil man den Atheismus nach 1989 als ‚überwunden‘ ansah und die Wiederkehr der Religion feierte. Das unbeschreibliche Leid, das die fundamentalistischen Exzesse im Nahen Osten, in Afrika und Teilen Asiens über die Menschen brachten und die selbst noch die Mordquote der Voltaire verhassten Spanischen Inquisition bei weitem übertreffen, zeigt an, dass sich Religion auch heute nicht nur mit Hoffnung, sondern auch mit Furcht und Verzweiflung verbindet. Europa, und gewiss nicht nur Europa, hat durchaus Grund, vor der Religion, genauer: vor bestimmten Formen der Religion, Angst zu haben, um einen Buchtitel José Casanovas14 aufzugreifen und zugleich Widerspruch anzumelden.
Die scharfe Religionskritik der radikalen Aufklärung im 18. Jahrhundert war nicht nur ein Zeichen der angestrebten Souveränität diskursiver Rationalität; hinter der Maske der intransigenten Kritik und des Spotts verbarg sich auch Angst vor den Exzessen des Fanatismus und der Grausamkeit naturwüchsiger Herrschaft, die sich auf sakrosankte Tradition berief. Das französische Modell der ‚laïcité‘, das nach 1871 zunehmend Anhänger fand und im Separationsgesetz 1905 sich politisch durchsetzte,15 beinhaltet nicht nur die strikte Trennung von Staat und Religion, sondern ebenso eine Regulierung der Religion und ihrer Institutionen. Die Freiheit der Religionsausübung wird garantiert, zugleich aber sollen durch eine strenge Trennung von religiösen Einrichtungen und Staat die Bevorzugung einer bestimmten Religion oder die Beeinflussung staatlicher Organe durch Religionen verhindert werden. Neben die Religionsfreiheit treten im laizistischen Modell auch Möglichkeiten der Kontrolle und Disziplinierung – in der Türkei nach Atatürk besonders ausgeprägt – bis in die öffentliche Selbstdarstellung von Gläubigen hinein (wie etwa das Burka-Verbot in Frankreich zeigt). Im Katholizismus steht dem Staat eine hochgradig organisierte Religion gegenüber – als Kontrahentin und Verhandlungspartnerin in einem. Auch der Protestantismus und das Judentum verfügen über Organisationsformen, die zwar nicht hierarchisch ‚durchkomponiert‘ sind wie die katholische Kirche, wohl aber dem Staat gegenüber als Ansprechpartner dienen können. Komplizierter wird dies beim Islam, der keine ‚kirchlichen‘ Strukturen kennt und auch Mühe hat, sich in einem repräsentativen Dachverband zusammenzuschließen.16 Auch neureligiöse Gruppen kennen kirchliche Strukturen nicht oder lehnen sie ausdrücklich ab, was eine strenge Unterordnung unter die charismatische Herrschaft nicht ausschließt. Sie hängen eng zusammen mit dem Zerfall institutionalisierter Religiosität, wie sie vor allem das Christentum zunehmend kennzeichnet. Strukturierte Gemeinden und Verbände repräsentieren einen kleiner werdenden Teil der Bevölkerung. So wird das laizistische System mehr und mehr unterlaufen; die neuen Religionen – und Teile des Islam – werden zur „religion ‚incontrôlable‘“17. Die alten Ängste vor der unkontrollierten Religion, die ihr destruktives und autoritäres Potential wieder entfaltet, wachsen entsprechend der zunehmenden Dysfunktion des Laizismus („laïcité ‚en panne‘“),18 und sie lassen sich angesichts der destruktiven Kraft des militanten Fundamentalismus nicht pauschal als unbegründet abtun. Die Diskussion über den Laizismus wird darum mit hoher Emotionalität geführt: Ist er die Lösung des Problems oder trägt er eher zu dessen Verschärfung bei? Ist er unaufgebbarer Teil der bewusst offenen kulturellen und politischen Identität Frankreichs, Möglichkeitsbedingung und Garant weltanschaulicher Pluralität oder nur das Produkt einer bestimmten historischen Phase, das inzwischen eher ein Ballast ist? Die Diskussion dürfte sich angesichts einer andauernden islamistischen Bedrohung eher verschärfen.
Aber auch außerhalb Frankreichs werden ähnliche Fragen diskutiert. Fallen die Sanktions- und Steuerungsinstrumente des laizistischen Staats in die Hände eines noch vor wenigen Jahren als gemäßigt eingestuften Islamismus wie in der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan, so stehen wichtige demokratische Errungenschaften auf dem Spiel, wie sich inzwischen zeigt. Der Siegeszug des Islamismus nach dem Sturz der mehr oder weniger säkularen Diktaturen in Teilen Nordafrikas und im Nahen Osten, der erhebliche Einfluss eines fundamentalistischen Protestantismus in den Vereinigten Staaten, die Priesterbruderschaft St. Pius X. im katholischen Raum nebst einer Reihe von traditionalistischen Gruppen, die den offenen Bruch mit Rom zu vermeiden suchen, die religiöse wie säkulare Siedlerbewegung und ultra-orthodoxe Gruppen in Israel – dies alles müsste den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als Albtraum erscheinen und nährt auch bei heutigen Zeitgenossen die Befürchtung, wir lebten in einer Epoche des Fundamentalismus. Schon die Fatwa gegen Salman Rushdie gab einen ersten Vorgeschmack der antiliberalen, totalitären Tendenz des Fundamentalismus.19 Dieser rechtfertigt sich nicht als legitimer Teil einer multikulturellen Welt. Mit Blick auf die Attentate von Paris im Januar 2015 – man denkt inzwischen auch an andere Anschläge – schrieb der israelische Schriftsteller Amos Oz : „Vielleicht ist es an der Zeit, aufzuhören, Multikulturalismus und Political Correctness mit absolutem moralischen Relativismus zu verwechseln. Mord ist ein absolutes Übel, kein relatives. Manche Verfechter eines radikalen Multikulturalismus, manche Anhänger fanatischer Political Correctness sagen uns: ‚Sie glauben an die Meinungsfreiheit, andere glauben an Allah, wo liegt der Unterschied?‘ Nun, der Unterschied liegt darin, dass die, die an Meinungsfreiheit glauben, nicht diejenigen ermorden, die an Allah glauben, während einige wenige, die an Allah glauben, diejenigen abschlachten, die an Meinungsfreiheit glauben.“20 Abgesehen von der nicht unwichtigen Frage, ob die Meinungsfreiheit Gegenstand eines – wie auch immer definierten – ‚Glaubens‘ ist oder, was näher liegt, analytisch aus der Würde des Menschen folgt, ist die hier markierte Differenz genau zu beachten. Um möglichen Missverständnissen und Applaus von der falschen Seite vorzubeugen, schreibt Amos Oz: „Die Plage des 21. Jahrhunderts ist nicht der Islam, sondern der Fanatismus. Die Morde von Paris haben viel mehr gemein mit gewalttätigen Christen und jüdischen Rassisten als mit friedlichen Muslimen.“21
Der religiöse Fanatismus ist – auch und bewusst nach Europa – zurückgekehrt. Er erweist sich kaum noch als „maskierter Nihilismus“ – wie es im Titel von Christoph Türckes Studie heißt22 –, sondern als offener. Das Übermaß an Grauen, Absurdität und Destruktion, mit dem er sich verbindet, ist offensichtlich, es hat nichts Kryptisches mehr. Der Fundamentalismus kann im 21. Jahrhundert nicht mehr als ‚Schrulle‘ und zu tolerierende Besonderheit einiger harmloser Narren angesehen werden. Auch dort, wo er nicht zu gewaltsamen Aktionen übergeht – und dies betrifft glücklicherweise immer noch den größten Teil seiner Anhänger –, verbindet er sich mit Geistfeindschaft, oft mit autoritären politischen Programmen oder – wie in weiten Teilen des protestantischen Fundamentalismus in den USA – mit einem Begriff von Freiheit, der sich auf das Recht des ökonomisch Stärkeren reduziert und eher an Nietzsches Idee des Übermenschen erinnert.
Die Bezeichnung ‚Fundamentalismus‘ hat, wie Sébastien Fath schreibt, „eine stigmatisierende Wirkung“23; the „dirty 14-letter word“ oder gar the „F-word“, wie auch Malise Ruthven es provokativ nennt,24 ist durchaus geeignet, Individuen wie Gruppen zu diskreditieren. Es wird zum Stigma sowohl in politischen als auch in religiösen Auseinandersetzungen. Aus einer positiven Selbstbezeichnung bestimmter christlicher Gruppen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts über einen summarisch gebrauchten religionswissenschaftlichen, soziologischen und kulturtheoretischen Terminus bis hin zum Schimpfwort reicht das Spektrum. Gerade in seinem pejorativen Sinne zielt es auf Leute, die als unsympathisch, humorlos, fanatisch, ja bedrohlich eingestuft werden. Und vor allem: Fundamentalistisch und fanatisch sind immer die anderen;25 eben jene, die bestimmten Maßstäben von Aufklärung und Pragmatismus nicht zu genügen scheinen.
Diese selbstsichere Zuordnung eines hässlichen Etiketts provoziert allerdings ihrerseits Fragen: Ist etwa jeder ein Fundamentalist, der zögert zugunsten kurzfristiger Erfolge in Politik und Wirtschaft zentrale Grundsätze und Überzeugungen preiszugeben? Müssen Religionsgemeinschaften sich ihrem säkularen Umfeld unbegrenzt assimilieren? Ist gar die Alternative zum Fundamentalismus nur grenzenloser Opportunismus? Zudem ist die Gleichsetzung von Säkularismus und Demokratie angesichts der Diktaturen im ehemaligen Ostblock, des Schah-Regimes und der Bath-Regimes im Irak und in Syrien problematisch. Umgekehrt entfalteten gerade die monotheistischen Religionen seit ihren Anfängen in ihrer Geschichte ein von ihren Verächtern unterschätztes oder übersehenes kritisches Potenzial. Die Krisenbewältigung und ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit der Geschichte sind ihrer Genese eingeschrieben. Die Reduzierung dieser Religionen auf eine harmlose theologische Überhöhung des Alltags würde ihr vielleicht das Gefahrenpotenzial nehmen – aber auch jegliche Relevanz, die über die Bestätigung des ohnehin Bestehenden hinausgeht. Der Fundamentalismus beansprucht gerade die nonkonformistische, produktive Seite des Monotheismus für eine verhärtete Pietät und bringt ihn so um sein Bestes.
Es gibt also eine ganze Reihe von Fragen, deren Beantwortung in einem Grenzgang zwischen Religionswissenschaft, Philosophie, Theologie, Soziologie und Politikwissenschaft versucht werden soll. Der Fundamentalismus ist ein modernes Phänomen,26 nicht einfach eine Rückkehr in das Mittelalter, von dem seine Verehrer und Verächter sich ohnehin ein wenig zutreffendes Bild machen. Es gab – in vielen Regionen sogar bis Ende des 19. Jahrhunderts – eine Tradition, in die man hineingeboren wurde, in die man innerhalb der Familie hineinwuchs und die nicht mit allen Mitteln verteidigt werden musste, weil sie selbstverständlich galt und das gesamte Leben prägte. In einem nicht geringen Umfang waren Differenzierungen möglich, welche der auf Homogenität achtende Fundamentalismus verwirft. Ihm gegenüber erscheint das Mittelalter geradezu als ‚aufgeklärt‘. Im Raum mittelalterlicher Städte zeichneten sich mit der zunehmenden Rationalisierung von Wirtschaft und Politik erste Transformationsprozesse der Gesellschaft ab, ohne die Geltung religiöser Überlieferungen prinzipiell infrage zu stellen. Eher förderte die urbane Gesellschaft des Mittelalters weitere Differenzierungen der Religion. So waren – anders als es der Sehnsucht modernitätsskeptischer Zeitgenossen behagt – vormoderne Gesellschaften, Kulturen und Religionsgemeinschaften keineswegs in sich einheitlich und geschlossen, was sich nicht zuletzt in den unterschiedlichen Ausprägungen der Tradition niederschlägt. Schichtenspezifische Interessen, diverse Bräuche, Mentalitäten, reformorientierte wie konservative Gruppen und nicht zuletzt starke regionale Unterschiede arbeiteten intensiv an der Ausgestaltung der Tradition, von der man nicht ohne Bedenken im Singular sprechen kann. So ist bereits prima facie der unbefangene Traditionalismus vom Fundamentalismus, der auf die immer schnelleren Modernisierungsschübe und die dadurch ausgelöste Erosion der Tradition reagiert, zu unterscheiden, auch wenn die Übergänge oft fließend sind. Identität – religiöse wie kulturelle – gerät mehr und mehr zu einem aufwendigen Projekt, sobald deren Fragilität im historischen Prozess offenbar wurde und die einstige Unbefangenheit verloren ging.
Es ist also kein Zufall, dass ein aggressiver, militanter Fundamentalismus gerade in Staaten und Gesellschaften anzutreffen ist, die einen mehr oder weniger rasanten Modernisierungsprozess mit unterschiedlichem Erfolg durchlaufen haben (das trifft auch auf eine Reihe nahöstlicher Staaten zu). Entsprechend ist zunächst der Kontext des Phänomens ‚Fundamentalismus‘ zwischen Säkularisierung, Modernisierung und postsäkularer ‚Wiederkehr der Religion‘ zu erschließen. Dabei sollte die vielen Theologen so sympathische These von der ‚Wiederkehr der Religion‘ nicht ungeprüft übernommen werden. Was genau kehrt hier wieder? Oft sind es Phänomene und Bewegungen, die jeden denkenden Menschen mit Abscheu und Scham erfüllen. Aber auch harmlosere ‚Wiederkehrer‘ provozieren unter nachdenklichen Zeitgenossen Skepsis. So diagnostiziert Herbert Schnädelbach, „dass Religion heute vor allem als Religiosität im Sinn einer besonderen Erlebnisqualität nachgefragt wird, sei es im Zusammenhang religiöser Großevents wie Kirchen- oder Katholikentage, seien es Bilder, Kirchenbauten oder konzertante Aufführungen bedeutender Messen oder Passionen. Religion in prämodernen Zeiten war hingegen eine Macht, die das ganze Leben bestimmte, und davon finden sich heute nur noch Spuren bei kleinen Minderheiten, die wie Ordensleute bereit sind, ein durch und durch geistliches Leben zu führen.“ Für die Mehrheit decke Religion, „nur mehr ein kulturelles Subsystem“ ab. Die These einer ‚Wiederkehr der Religion‘ verwechselt also nach Schnädelbach Religion und Religiosität, identifiziere die Nachfrage nach spirituellen Erlebnissen mit Religion als realer Macht im täglichen Leben. Religion werde lediglich „als ein Lebensbereich unter anderen wahrgenommen und genutzt“, so dass wir uns nicht in einer ‚postsäkularen‘, sondern eher „in einer postreligiösen Phase der kulturellen Entwicklung befinden“27. Zu beachten ist, dass auch Schnädelbach nicht davon spricht, Religion verschwinde völlig aus dem gesellschaftlichen Leben, sie verlor vielmehr ihre alles prägende Kraft und bildet nur noch einen Teilbereich, der mit anderen um Geltung und Beachtung konkurriert. Demnach hat auch Max Webers Theorie einer fortschreitenden Säkularisierung und Entzauberung der modernen Gesellschaft keineswegs ausgedient, wie man zuweilen lesen kann, sondern Aufklärung, Säkularisierung, Rationalisierung und ‚Wiederkehr der Religion‘ gehören einem einzigen komplexen Prozess an, dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Mit Luhmann möchte ich dafür plädieren, „den Begriff der Säkularisierung nicht ersatzlos zu streichen. Gravierende Veränderungen, die seit 1800 offen zutage treten, lassen sich schwerlich bestreiten.“28 Eben diese Veränderungen sollen vorab genauer analysiert werden, wobei einzuräumen ist, dass sie einen regional unterschiedlichen Verlauf nahmen und heute nicht notwendig jede Selbstbezeichnung als ‚säkular“ eine dezidiert a- oder antireligiöse Sicht impliziert29 (Kapitel 1).
In einer ersten Annäherung wird sodann das ‚hässliche Phänomen“ beschrieben und ein Definitionsversuch unternommen, dessen Tauglichkeit im Fortgang zu erweisen ist. Eine Definition setzt voraus, dass es, bei allen religiös-kulturellen Differenzen und regionalen Ausprägungen, doch ‚Familienähnlichkeiten‘ gibt, die es gestatten, von ‚Fundamentalismus‘ zu sprechen, und zwar über den nordamerikanischen Kontext hinaus, wo das Wort geprägt wurde, das heute im amerikanischen Diskurs religiöse Gruppen mit einer „aktiven Opposition zu Liberalismus, Säkularismus und Kommunismus“ bezeichnet.30 Die Beschränkung auf die drei monotheistischen Religionen soll nicht suggerieren, dass in Hinduismus und Buddhismus fundamentalistische Strömungen unbekannt seien; das Gegenteil trifft zu.31 Selbst dezidiert säkulare, atheistische Positionen werden zunehmend in einer jeden Zweifel ausschließenden Form vorgetragen und mit missionarischem Eifer verbreitet, als müsste man sich an der offenbar erfolgreichen fundamentalistischen Propaganda orientieren. Um den Stoff aber einigermaßen überschaubar zu halten, stehen fundamentalistische Tendenzen in den vertrauteren monotheistischen Religionen im Zentrum der Überlegungen (Kapitel 2).
Die Frage nach dem Ursprung des Fundamentalismus und nach seinen Formen lässt sich nur mit Blick auf die Stellung des Subjekts als Träger religiösen Bewusstseins innerhalb moderner Gesellschaften beantworten.32 Wie ist es um den ‚Hörer des Wortes‘ (K. Rahner), und sei es des autoritär an ihn ergehenden, in der späten Moderne bestellt? Wie unter einem Brennglas lassen sich am Schicksal des Subjekts gesellschaftliche Prozesse und Tendenzen ablesen. Möglicherweise ist der Fundamentalismus „ein Indikator globaler sozialer Spannungen, die auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Bereiche berühren“,33 die im individuellen Bewusstsein ihren (verqueren) Ausdruck finden (Kapitel 3). Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Religion: „Es wäre weit besser, überhaupt keine Vorstellung von Gott zu haben, als eine, die seiner unwürdig ist“, schreibt Francis Bacon in den Essays34. Gleich zwei Weisen solch ‚unwürdiger Vorstellungen‘ von Gott finden wir in den hier zu besprechenden Ausprägungen des Fundamentalismus, von denen meist nur die zweite in der Literatur diesem Begriff zugeordnet wird: nennen wir die erste den ‚lächelnden‘ Fundamentalismus kulturindustrieller Religiosität (oder soft religion), die zweite den ‚grimmigen‘ Fundamentalismus (strong religion), dessen nihilistische Implikationen und Konsequenzen auch weitaus deutlicher zutage liegen (Kapitel 4).
Schließlich ist in selbstkritischer Reflexion nach dem Verhältnis von Kirche(n), Glaube und Fundamentalismus zu fragen. Dieses Kapitel mag auf manch einen irritierend wirken, befasst es sich doch nicht mit ‚Randgruppen‘, scheinbar skurrilen Formen der Religiosität, verhärteten Identitäten und Fanatismus, sondern mit der kirchlichen Verunsicherung angesichts der Erfolgsbilanz fundamentalistischer Gruppen – und vor allem ausgerechnet mit des Theologen liebstem Kind: dem Glauben. Enthält der moderne, spätestens seit Kierkegaard von evangelischen und katholischen Theologen formulierte Begriff des Glaubens mit seiner Entscheidungsemphase, welche den aufkeimenden Zweifel suspendiert, eine kryptische Affinität zum Fundamentalismus, insofern auch er problematische Urteile apodiktisch formuliert – und wo sind die notwendigen Korrekturen vorzunehmen? (Kapitel 5)
„Der Fundamentalismus“ schreibt Susan Neiman, „ist in allen größeren Religionen auf dem Vormarsch, weil er etwas Wertvolles anzubieten scheint, das man weder kaufen noch verkaufen kann. Selbst wo er nicht zur Gewalt führt, liegt seine Tragödie in seiner Unfähigkeit, die Würde zu bieten, nach der er sucht. An einem von religiöser Autorität diktierten Verhalten ist nichts Erwachsenes. Aber welche Alternativen bieten wir an?“35
Zumindest einer möglichen Alternative widmet sich das Kapitel 6. Denn keine Dialektik der Aufklärung rechtfertigt einen fideistischen Kultus der Unmittelbarkeit oder die Rückkehr zu unerhellten Autoritäten. Hier ist an Diderots bissigen Aphorismus aus der Addition aux Pensées philosophiques zu erinnern:
„Des Nachts, verirrt in einem riesigen Wald, habe ich nichts als ein kleines Licht, um mich zu leiten. Da erscheint ein Unbekannter, der mir sagt: ‚Mein Freund, blase deine Kerze aus, um den Weg besser zu finden. Dieser Unbekannte ist ein Theologe.‘“36
Im Zeitalter des Fundamentalismus ist dies durchaus aktuell. Jenseits dieser ‚guten Ratschläge‘ hatte einmal die monotheistische Aufklärung den Menschen ein Licht entzündet – nicht ausgeblasen. Deren biblische Genese und Aktualität ist im letzten Kapitel herauszuarbeiten. Diese fatalismuskritische „Religion für Erwachsene“, wie Emmanuel Levinas sie nennt, bildet eine Alternative zum Fundamentalismus und zur kulturindustriellen Infantilreligion als destruktive Reaktionen auf die Verwerfungen der späten Moderne. Beginnen wir aber zunächst mit einer genaueren Erhellung der historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen der Fundamentalismus allmählich Gestalt gewonnen hat, die seine Voraussetzungen bilden und auf die er primär reagiert.
Bonn, im Januar 2017