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Die Untermieter
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Rena Moises
Die Untermieter
Kriminalroman
Impressum
© 2017 Rena Moises
Bernadottestr. 9
22763 Hamburg
www.rena-moises.de
Coverbild:
7161539 © kitzkorner – fotolia.com
Vertrieb: neobooks, ein Service der neopubli GmbH
Inhaltsverzeichnis:
Die Entscheidung
Die Glasvitrine
Das Jammertal
Das Kompliment
Die Annonce
Die Zauberflöte
Die Ausdünstung
Der Anfall
Die Hoffnung
Die Freiheit
Nicht eine Sekunde hat Hedda Siebert es bereut, sich die Leute damals ins Haus geholt zu haben. Irgendwie musste sie ihrem tristen Dasein ja allmählich eine Art Beschäftigung zukommen lassen. Wie wäre es sonst weitergegangen? Und schließlich waren auch ein paar Nette dabei gewesen, die ihr Leben wirklich bereichert hatten, von den kleinen Fehlschlägen mal abgesehen. Aber welche zwischenmenschlichen Beziehungen verlaufen schon reibungslos? Ihre Chance auf ein friedliches Zusammenleben hatten jedenfalls alle bekommen.
Es war auch allerhöchste Zeit, das hatte sie wohl bemerkt. Wenn man so ganz allein in einer Wohnung lebt, nichts zu tun und über lange Zeit zu niemandem Kontakt hat, außer, dass die Mutter mal anruft, besteht schon die Gefahr, wunderlich zu werden und nach einiger Zeit gar nicht mehr zu wissen, wie die eigene Stimme überhaupt klingt. Womöglich würde man das Sprechen noch ganz verlernen.
Manchmal war sie extra zum Fleischer gegangen, um ihre eigene Stimme wieder zu hören. „Ein Stück Leberwurst, bitte“, bedurfte allerdings keiner großen Wortakrobatik, aber sie hatte als Nebeneffekt für einen kurzen Moment das angenehme Gefühl, jemandem begegnet zu sein. Im Supermarkt hingegen war alles völlig anonym. Wer nicht wollte, brauchte keinen Ton von sich zu geben und ging trotzdem mit voller Einkaufstasche nach Hause. Alles abgepackte Ware. An der Kasse redete auch nur die Kassiererin. Sie nannte den zu zahlenden Betrag, und Hedda zückte wortlos das Geld aus dem Portemonnaie. Wenn sie unbedingt wollte, konnte sie bei der Entgegennahme des Wechselgeldes „danke“ sagen, konnte es aber auch lassen, es wäre gar nicht aufgefallen.
So konnte es für Hedda nicht weitergehen. Ihr wurde klar: Der Mensch braucht Kontakt und etwas um die Ohren.
Nachbarn klingelten nie bei ihr. Anscheinend holten die ihr fehlendes Salz überall im Haus, nur nicht bei Hedda. Teilweise kannte sie nicht einmal deren Namen, begegnete sie ihnen unverhofft im Hausflur.
Hedda hatte keine Freunde. Das war schon früher so, wie sollte es jetzt anders sein. Ihre Mutter lebte ganz am anderen Ende der Stadt, ihr Vater war tot, Geschwister hatte sie nicht.
Wenn Heddas Leben nicht völlig trostlos enden sollte, musste etwas geschehen.
Früher hatte sie ihre Arbeit. Sie war Versicherungsfachangestellte in einer großen Firma gewesen. Zusammen mit sechs anderen Kolleginnen saß sie in einem Büro. Zu ihrem Aufgabengebiet gehörten die Schadensersatzansprüche, die sie entgegennehmen, prüfen und weiterleiten musste. Alles schriftlich. Mit Kunden kam sie nicht in Berührung, dafür waren andere zuständig.
Jede machte ihre Arbeit und war dennoch nicht alleine. Das gefiel Hedda. Manchmal brachte eine, anlässlich eines Geburtstages, Kuchen mit. Dann plauderten sie ein wenig in der Runde. Das war nett, auch wenn Hedda zu den Gesprächen im Allgemeinen nichts beisteuern konnte; allein die nette Atmosphäre war es, die ihr gefiel. Sie fing dann auch an, manchmal einen Kuchen oder ein paar Kekse mitzubringen. Nur so. Selbstgebacken natürlich, da sie doch so gerne backte. Aber für sich alleine? Endlich wusste sie für wen. Sie schnitt den Kuchen an und stellte jeder Kollegin ein Stück auf den Schreibtisch. Ob sie sich wirklich darüber freuten? Sie war sich nicht sicher. Ihre Kolleginnen lächelten eher höflich als dankbar. Sonst hatte sie mit ihnen nicht so viel zu tun oder sie nicht mit ihr.
Den Kolleginnen ging es in der Tat so, dass sie Hedda nicht besonders mochten. Für sie war Hedda Siebert eine eher langweilige Person. Obwohl sie mit ihren vierzig Jahren noch nicht als alt zu bezeichnen war, hatte sie dennoch etwas sehr Altes an sich. Sie lebte nach dem Motto: Nur nicht unangenehm auffallen, dann kommst du am besten durch. Das zeigte sich nicht nur in ihrem angepassten, unterwürfigen Verhalten, es spiegelte sich auch in ihrer Kleiderwahl wieder: dezente Farben, unzeitgemäße Röcke und Blusen, schlichte bequeme Schuhe. Ihr mittelbraunes Haar, in dem sich schon ein paar graue Strähnen zeigten, trug Hedda kurz geschnitten, gleichmäßig lang und glatt am Kopf anliegend. Diese strenge Frisur betonte zusätzlich ihre sehr ernsten, nachdenklichen Augen, die ein wenig melancholisch, manchmal auch durchaus misstrauisch wirkten. Die fein geschnittenen Gesichtszüge, die schmalen, farblosen Lippen, die schmächtige Figur und ihre zurückhaltende Art wurden durch ihre schlichte Garderobe ergänzt. Hedda machte sich über ihre Kleidung nicht viele Gedanken.
Die anderen in der Abteilung dagegen legten großen Wert auf modischen Chic. So war auch das Interesse groß, sich regelmäßig über die neuesten Trends auszutauschen. Überhaupt waren sie viel offener untereinander, als Hedda gegenüber. Während die anderen sich den ganzen Tag irgendetwas zu erzählen hatten, saß Hedda still an ihrem Schreibtisch und erledigte ihre Arbeit. Sie spürte die Ablehnung wohl, dafür hatte sie ausgesprochen feine Sensoren, verstehen konnte sie sie jedoch nicht, war sie doch immer bemüht, freundlich und zurückhaltend zu sein. Schon ihre Körperhaltung machte deutlich, dass sie sich keinem unangenehm aufdrängen wollte. Ihr Kopf war immer etwas nach unten geneigt, um den Blick in einer unsicheren Situation schnell wieder abwenden zu können. Sie tat eigentlich nichts, das zu irgendeiner Kritik hätte Anlass geben können.
Schon als Kind war Hedda bemüht gewesen, nicht aufzufallen, damit ihre Eltern ihr ja kein Fehlverhalten hätten nachweisen können. Aber selbst das hatte ihnen nicht genügt.
„Es geht mir auf die Nerven, dein ewiges Herumstehen“, herrschte ihre Mutter sie an. „Hast du nichts zu tun? Dann verschwinde in dein Zimmer und lass mich in Ruhe. Aber räum’ ja wieder auf, was du da ‘rauskramst! Sonst passiert was, das sag’ ich dir. Ich hab’ schon mehr als genug mit dir zu tun.“
In Heddas Familie herrschte ein rauer Ton.
Mit ihrem Vater war es nicht anders.
„Hedda“, brüllte er durch die Wohnung. An dem Ton, in dem er ‚Hedda’ schrie, hörte sie schon, an welchem Punkt der Schlechte-Laune-Skala er sich gerade befand. „Wo ist die Zeitung? Wieso steht das Bier nicht auf dem Tisch? Und jetzt verzieh’ dich in dein Zimmer.“ Das war der normale Abendgruß. Doch wenn er mit Nachdruck rief: “Hedda! Wo ist deine Schultasche?“, dann drohte ihr Schlimmes, das kannte sie schon. Während sie in böser Vorahnung ihre Schultasche holte, wünschte sie sich aus tiefster Seele inständig Flügel herbei. Gleichzeitig hoffte sie, das Dach des Hauses möge sich auftun, damit sie blitzartig entschwinden könnte, hoch hinaus in die Freiheit, die selig schützende Unendlichkeit des Himmels, doch ihre Beine fühlten sich schwer wie Blei an und hielten sie fest am Boden. Es gab kein Entrinnen. Dem Groll des Vaters war sie von jeher hilflos ausgeliefert gewesen. Mit jedem Schritt wurde ihr Atem schwerer, das Herz pochte zunehmend schneller, die Angst kroch langsam in sie hinein und nahm Besitz von ihr. Stand sie dann mit ihrer Schultasche neben ihm, war sie wie gelähmt, in grässlicher Angst vor dem, das gleich kommen sollte. Er kramte willkürlich ihre Schultasche durch, auf der Suche nach etwas, das nicht in Ordnung war, eine kricklige Handschrift, ein Fehler bei den Rechenaufgaben, ein Eselsohr, eine nicht akkurat angelegte Federtasche, im Grunde völlig einerlei. Er fand immer etwas. Der einzige Grund für seine Durchsicht war: Kontrolle, mit dem Ziel einen Wutanfall inszenieren zu können, um seine angestauten Aggressionen entladen und Hedda ihre Schulhefte und Bücher um die Ohren schlagen zu können, was er dann auch jedes Mal kräftig tat. In einer solchen Stimmung war das bloße Vorhandensein seiner Tochter für ihn die reinste Provokation.
Anfänglicher Protest oder auch ein leises, flehentliches Bitten um Verschonung und Nachsicht wurden ihr schon sehr früh herausgeprügelt. Wehlaute hatten ihn nur noch mehr angespornt, die kleine Hedda soweit mundtot zu machen, bis auch das letzte Wimmern verstummt war. Doch mit den Schmerzenslauten von damals war noch etwas ganz Elementares in ihr abgestorben: die natürliche, kindliche Lebendigkeit. Seit jenem Tag, Hedda war gerade erst vier Jahre alt, als er sie so brutal zusammengeschlagen hatte, dass sie sich drei Tage im Bett vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte, war dann endgültig jegliche Spontaneität und der letzte Rest kindlicher Unbefangenheit und Fröhlichkeit aus ihrem Körper gewichen. Ihr Gesicht hatte sich zu einer grauen, ernsten Maske verändert, und die hohlen, leblosen Augen drückten fortan eine tiefe Kümmernis aus. Ein verstörtes, verschüchtertes Mädchen drückte sich von da an verängstigt durchs weitere Leben, immer im Bemühen, etwaigen Angriffen aus dem Wege zu gehen. Die Gründe für die immer wiederkehrenden Ausbrüche ihres Vaters, deren Narben auf ihrem Körper noch heute augenfällig sind, hatte sie nie verstanden, umso schwieriger war es für sie immer gewesen, einzuschätzen, wann sie warum bestraft werden würde.
Es war anscheinend Heddas Schicksal, sie war der Prellbock der schlechten Laune ihrer Eltern gewesen. Denn auch von ihrer Mutter konnte sie nicht den geringsten Schutz erwarten.
„Deinetwegen musste ich diesen Mann heiraten. Ich hätte weiß Gott etwas Besseres verdient.“ Ihre Mutter nutzte jede Gelegenheit, es ihr vorzuhalten. „Damals war das nicht so einfach mit der Abtreibung. Sonst, das garantiere ich dir, wärst du jetzt nicht auf dieser Welt und würdest mir mein Leben ruinieren.“
Auf der Arbeit ließen sie Hedda in Ruhe. Bis der neue Chef kam, jung, dynamisch und progressiv. Erschreckend progressiv.
„Nun, meine Damen“, offenbarte er dann auch gleich bei der nächsten Abteilungssitzung, „nach meiner ersten Einschätzung zum augenblicklichen Stand unserer Firma hat sich zweifelsfrei herausgestellt, dass uns bereits in nächster Zukunft eklatante Veränderungen ins Haus stehen werden, wollen wir weiter auf dem Markt bestehen bleiben. Unsere Strukturen sind überaltert, und die Rendite stagniert mit der Tendenz zur Rückläufigkeit. Hier besteht zwingend Handlungsbedarf, bevor unsere Versicherten noch zur Konkurrenz abwandern. Als innovatives Unternehmen dürfen wir uns den neusten Erkenntnissen der Marktanalyse nicht verschließen. Nur durch eindeutig bessere Leistungen können wir uns von unseren Konkurrenten abheben und eine führende Position auf dem Markt einnehmen. Und genau das ist unser Ziel!“
Seine Worte sprudelten wie auf Knopfdruck aus seinem Mund, voll automatisiert. Wahrscheinlich spulte er seine Ansprache in jeder Abteilung des Hauses in genau der gleichen Weise mit genau denselben Worten ab.
„Um das zu erreichen“, näherte er sich langsam dem Punkt, auf den es letztlich ankam und auf dessen Aussage alle mit Spannung warteten, „kommen wir nicht umhin, der Firma auch intern ein neues Gesicht zu geben. Das bedeutet für Sie eine drastische Umgestaltung Ihrer Abteilung, inhaltlich wie personell, da wir einen völlig neuen Modus, was die Betreuung der Versicherten betrifft, entwickeln werden. Kundenorientierung heißt die neue Linie.“
Sich seiner maßgebenden Position wohl bewusst, wippte er bei seinen bedeutungsschweren Ausführungen triumphierend auf seinen Füßen auf und ab, während sein selbstgefälliger, verheißungsvoller Blick die Runde machte. „Die Marketingabteilung ist bereits aktiv, die Außenwerbung auf unser neues Logo auszurichten. Tja, meine Damen . . .“ Er ließ seinen Blick mit hoch gezogenen Brauen in die Runde schweifen. „Das Ganze wird natürlich leider, wie Sie sich denken können, nicht ohne finanzielle Einbußen möglich sein. Neuorientierungen kosten Geld, und irgendwoher muss es ja kommen, nicht wahr? . . .“
Die eingelegte Kunstpause verfehlte nicht ihre Wirkung: Eine atemlose Stille beherrschte den Raum. Sämtliche Anwesenden klebten an seinen Lippen, gespannt, was jetzt kommen würde.
„Also“, fuhr er fort, „ werden wir in nächster Zeit sämtliche Abteilungen auf ihre Effizienz hin überprüfen lassen. Das betrifft natürlich auch Ihre Abteilung. Aber, meine Damen, ich kann Ihnen versichern, je besser Sie Ihre Arbeit machen, umso weniger haben Sie zu befürchten. Konkret gesprochen: Wir brauchen engagierte Mitarbeiter, die sich aktiv für die Firma einsetzen. In diesem Sinne . . .“ Er lächelte noch einmal süffisant in die Runde, machte auf dem Absatz kehrt und verließ gewichtig schreitend den Raum.
Sie waren sprachlos. Es war ein beeindruckender Auftritt, der ihnen geboten wurde. So etwas hatten sie hier noch nicht erlebt. Nach einer kleinen Pause, nachdem sich alle wieder gefasst hatten, überschlugen sich fast die Gemüter, und sie schnatterten aufgeregt durcheinander. Es war eine Mischung aus Anspannung, Neugierde und Verunsicherung.
Hedda stand etwas abseits und schwieg. Den Kolleginnen schien er zu gefallen. Endlich kam neuer Wind in die Firma und damit auch in ihre Abteilung. Hedda gefiel er gar nicht. Sie fühlte sich in ihrer Ruhe gestört und bedroht.
Der neue Chef hatte erreicht, was er erreichen wollte. Ein emsiges Arbeiten begann. Jede wollte aktiv, dynamisch und besonders engagiert erscheinen.
Hedda machte weiterhin ihre Arbeit, pflichtbewusst und zuverlässig, wie sie es immer getan hatte. Doch sie war verunsichert. Sie merkte schon sehr bald, dass ihre Kolleginnen sich nicht nur durch gezielten Übereifer anders verhielten als früher, auch ihr gegenüber hatten sie sich verändert. Was sie früher noch mit gespielter Freundlichkeit zu verbergen bemüht waren, zeigten sie jetzt ohne Hemmungen. Sie grenzten Hedda ganz offensichtlich aus und ließen sie ihre Abneigung unverblümt spüren. Gemeinsame Gespräche und ein sachlicher Informationsfluss fanden für Hedda nicht mehr statt.
Sie wollen mich nicht mehr haben, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn eine gehen soll - dann ich. Die missbilligenden Blicke und das neuerliche Getuschel hinter ihrem Rücken machten ihr deutlich, dass sie ihre Empfindungen nicht getäuscht hatten. Also hatte sie es gelassen, das mit dem Backen. Sie wussten es ohnehin nicht zu schätzen.
Sie gaben ihr mehr Arbeit, aber sie hatte nicht gemuckt, sondern sich bemüht, es zu schaffen und sie zufrieden zu stellen. Auch der Chef zitierte sie wiederholt zu sich und sah ihre Arbeiten durch. Ein bekanntes Gefühl durchflutete sie und trieb ihr den Angstschweiß unters Hemd.
Eine schreckliche Zeit.
Und wie war es ihr gut gegangen, vorher. Morgens war sie zur Arbeit gegangen, hatte etwas zu tun gehabt, ein paar Menschen um sich, und abends war sie dann wieder nach Hause gegangen in ihre kleine Wohnung. Dieses Leben genügte vollkommen ihren Ansprüchen zur inneren Zufriedenheit, es war genau das richtige Verhältnis von Kontakt zu anderen und der Zeit des Alleinseins in ihrer Wohnung. Und Hedda hatte eine schöne Wohnung. Nur für sich alleine. Es hatte schon seinen Grund, warum sie diese Wohnung ganz am anderen Ende der Stadt genommen hatte. Hier konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Mit ihrem ersten Gehalt war sie aus der elterlichen Wohnung ausgezogen. Mit der Distanz hoffte sie, sich endlich der Übermacht der Mutter entziehen zu können. Die Besuche hatte sie dann auch mit der Zeit auf ein Minimum reduziert. Zuletzt bestand der Kontakt nur noch in telefonischer Hinsicht, was eigentlich das Maß des Erträglichen schon reichlich überstrapazierte.
Schließlich wurde Hedda entlassen.
Obwohl es nicht unbedingt überraschend war, irgendwie hatte sie es kommen sehen, tief im Inneren hatte sie es geahnt, ja befürchtet, und dennoch fühlte sie sich im ersten Moment wie ohnmächtig. Sie waren nicht nett zu ihr gewesen, sie hatten sie missachtet und gedemütigt. Ein gemeines Gefühl. Eine große Ungerechtigkeit war ihr hier widerfahren, das spürte sie deutlich. Gleichzeitig war sie wie gelähmt, unfähig zu protestieren oder sich in sonst einer Form zur Wehr zu setzen. Immer schon hatte sie sich ihnen gegenüber klein und gehemmt gefühlt, wie sollte sie gerade jetzt, wo sie ihr den Rest gaben, sich stark und kämpferisch zeigen? Sie hatte gegen sie nicht die geringste Chance. Es waren einfach zu viele.
Eine dumpfe, bleierne Leere tat sich in ihr auf. Es war eine Mischung aus Enttäuschung, Versagen und einer ungewissen Vorahnung auf eine nebulöse, missmutige Zukunft.
Nun war sie allein. Zu Hause. Wo auch sonst? Nur die Arbeit hatte sie hinausgeführt und für Abwechslung gesorgt. Sie kannte niemanden, wo hätte sie also hingehen sollen?
Das Arbeitsamt hatte nichts für sie. In der ersten Zeit musste sie sich zwar in einigen Firmen vorstellen, aber genommen hatten sie immer andere. Dann hörte das Arbeitsamt auf, ihr Angebote zu schicken. Anscheinend wollte sie keiner haben. Diese Erkenntnis war sehr bitter.
Überflüssig und wertlos kam sie sich vor. Mit der Arbeit hatte sie eine Aufgabe und sich zumindest als nützlich erweisen können. Jetzt hatte sie ausgedient. Man brauchte sie nicht mehr, und zwar ganz und gar nicht. Eine Vision von zugewachsenen Schienen eines stillgelegten Abstellgleises zeigte sich ihr in ihren Tagträumen. Unkraut und Gras überwucherten die Schienen, so dass sie nur noch flüchtig zu erkennen waren. Sie wurden nicht mehr benötigt und wuchsen langsam zu. So nahm dann auch bald niemand mehr Notiz von ihnen. Die Existenz des vorher Dagewesenen war nicht mehr sichtbar, man konnte sie nur noch erahnen, wenn es überhaupt jemanden interessierte. Und auch Heddas Existenz interessierte niemanden.
Heddas Glück war es wohl, dass der Mensch sich zwangsläufig bewegen muss. Er muss essen, trinken, Nahrung organisieren und entsorgen. Da ihr Selbsterhaltungstrieb noch funktionierte, erledigte sie die lebenswichtigen Notwendigkeiten und war so vielleicht dem Schicksal der verstaubten, mit Spinnweben überzogenen Mumie entkommen.
Es war eine trostlose Zeit.
Aber was sollte sie auch den ganzen Tag machen? Jeden Tag Staub wischen, wo keiner lag?
Jeden Morgen stand sie brav auf, wusch sich, zog sich an und machte sich ihr Frühstück. Alles schön langsam. Damit war schon mal ein Teil des Tages herum. Und dann? Dann war nichts. Und es war vielleicht gerade erst halb zehn am Vormittag.
Manchmal musste sie auch einkaufen gehen. Das waren dann die interessanteren Tage. Aber natürlich nicht jeden Tag. Schließlich konnte sie sich die Wurstscheiben ja nicht einzeln kaufen.
Die Nachmittage verliefen in ähnlicher Weise. Blumen gießen, aus dem Fenster schauen, Wasser aufsetzen, Kaffeepause, durch die Wohnung gehen, um zu schauen, ob noch alles in Ordnung war, wieder aus dem Fenster schauen, die Kaffeetasse spülen und in den Schrank stellen, aus dem Fenster schauen.
So fristete Hedda ihre Tage, orientierungslos und ohne jegliche Perspektive.
Wo sollte das hinführen? Langsam spürte sie wieder diese Schwere durch ihren Körper ziehen, diese bedrohliche, innere Lähmung, die sie so oft in ihrem Leben zur unerträglichen Bewegungsunfähigkeit niedergedrückt hatte und der sie nur hin und wieder mal entrinnen konnte durch spontane, impulsive Handlungen, die, wie von Geistesblitzen gelenkt, der Ausweglosigkeit die Stirn boten. Dieses aufgehende Licht, dieser Hoffnungsschimmer in letzter Not führte sie glücklicherweise immer weiter und ließ sie nicht aufgeben, auch wenn das Aufleuchten oftmals nur von kurzer Dauer war.
In dieser leidvollen Situation, keine Arbeit, keine menschliche Nähe, der schweren Gedanken müde, dem inneren Zerbrechen ausgeliefert, gab es nur zwei Alternativen: dem Ende resigniert ins Auge sehen oder selbst aktiv etwas bewegen. Und wie durch einen rettenden Wink des Schicksals durchfuhr Hedda glücklicherweise noch im rechten Moment einer jener besagten Geistesblitze, der ihr in Form einer alles entscheidenden Eingebung eine grandiose Idee zuführte, und dessen praktische Umsetzung ihr Leben von Grund auf verändern sollte.
„Wenn mich keiner bei sich haben will“, sprach sie laut und bestimmt zu sich selbst, „dann hole ich sie eben zu mir!“