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Das Jammertal

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Wie sollte es jetzt weitergehen? Das Zimmer war wieder frei, und Hedda stand vor der Entscheidung, weiter alleine zu leben oder neu zu vermieten.

In sich versunken saß sie an ihrem Küchentisch und grübelte. Sie hatte sich einen Tee gekocht. Eigentlich hasste sie derartige Überlegungen, die von lebensentscheidender Bedeutung waren. Ob richtig oder falsch stellte sich ja leider immer erst hinterher heraus; nur war es dann bereits zu spät und sie musste mit den Konsequenzen leben. Und die waren meist nicht ohne. Aber das vorher schon genau abwägen und beurteilen zu können, war für Hedda schier unmöglich, da sie mit allen Entscheidungen endlos zauderte. Blitzeinfälle hatte sie leider nur sehr selten. So plagte sie sich oft sehr lange mit solchen grundsätzlichen Fragen wie dieser jetzigen Klärung ihrer weiteren Lebensplanung.

Hedda nahm die wärmende Teetasse in beide Hände und ließ den heißen, aromatischen Dampf in die Nase strömen. Sie dachte zurück an die Zeit, als ihr die Arbeit gekündigt wurde, an dieses öde Leben in Einsamkeit und Schwermut, völlig isoliert von allem, was lebendig war. So wie es jetzt aussah, war sie bedauerlicherweise zurückgekehrt an genau diesen Punkt. Die Aussicht allerdings, die Gefühle dieser Zeit würden wieder Besitz von ihr ergreifen, bestärkten sie in der Entscheidung, sich der drohenden Einsamkeit nicht wieder auszusetzen. Nie wieder wollte sie in einer derartigen Monotonie des tristen Daseins, in der die Sinne verkümmerten, weil das natürliche Licht an Bedeutung verlor und sie nur noch von starrer Finsternis umgeben war, dahinvegetieren.

Also hielt sie sich noch einmal vor Augen, welche Vorteile ihr die Zimmervermietung einbrachte. Das Zusammenleben mit Elke war eigentlich - unterm Strich betrachtet - für Hedda eine positive Erfahrung gewesen. Gut, es hatte einen Bruch zwischen ihnen gegeben, und das plötzliche Ende war auch nicht vorauszusehen gewesen; doch die gemeinsame unbeschwerte Zeit davor mochte sie auf keinen Fall missen. So vergnügliche Stunden wie mit Elke waren ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie vergönnt gewesen. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie mit Elke eine sehr glückliche Zeit hatte, auch wenn sie die Kränkung später aufs Tiefste getroffen hatte.

In Erinnerung an die mit Frohsinn erfüllten Tage ergriff Hedda ein starkes Verlangen, wieder in einen Taumel von Glückseligkeit und heiterer Stimmung mitgerissen zu werden. Da sie aber keine Person war, die sich auf den Weg gemacht hätte, das Glück zu suchen, geschweige denn, sich irgendwelchen anderen Menschen aufzudrängen oder gar selbst die Initiative zu ergreifen, jemand Fremden anzusprechen, musste sie einen unüblichen Weg beschreiten, um Kontakte zu knüpfen. Die Idee mit den Untermietern schien ihr daher nach wie vor am geeignetsten. Sie musste lediglich wieder ihr Zimmer in der Zeitung anbieten. Dann konnte sie in aller Ruhe zu Hause abwarten, bis sich die Interessenten von sich aus meldeten und zu ihr kamen.

Hedda nahm einen Schluck Tee. Doch es sollte schon wohldurchdacht sein, diesen Schritt ein zweites Mal zu wagen, wollte sie nicht noch so einen Reinfall erleben.

Unaufhörlich kreisten die Gedanken durch ihren Kopf. Eigentlich - wenn sie es so recht überlegte - hatte bei der Sache doch zweifelsohne sie die bessere Position. Genau genommen handelte es sich hier nämlich um ein Machtverhältnis zu ihren Gunsten. Schließlich war sie diejenige, die das Zimmer vermietete, in ihrer Wohnung. Vielleicht müsste sie nur an ihrem bisherigen Auftreten etwas verändern, damit ihre Untermieter sich ihr gegenüber nicht so respektlos verhielten, wie Elke es getan hatte.

Hedda saß da und überlegte weiter. Der Schlüssel lag für sie in dem Wort Untermieter. Wenn also die Personen, die bei ihr einzogen, ihre Untermieter waren, dann müsste Hedda ja logischerweise die Obermieterin sein.

Sie stellte ihre Teetasse auf den Tisch und richtete sich kerzengerade auf. Ihre Augen funkelten. Wieso war sie da nicht schon früher drauf gekommen? Die Fakten waren so eindeutig und klar. Die anderen waren demnach abhängig von dem, was sie ihnen gewährte, wen und was sie in ihrer Wohnung duldete. In dem Wort Untermieter lag die genaue Zuordnung unten, demnach wäre sie oben. Das musste sie sich von nun an immer vor Augen halten und denen, die hier einziehen wollten, ganz klar zum Ausdruck bringen.

Ein leicht hämisches Grinsen lag in ihren Mundwinkeln. Es hatte schon etwas Erhabenes, diese neue Sichtweise der Verhältnisse: Endlich einmal zu denen gehören, die auf der Oberseite sind. Und außerdem, die monatlichen Mieteinnahmen wollte sie bei ihren Überlegungen nicht ganz außer Acht lassen. In ihrer jetzigen Situation war es nicht unerheblich, neben den bescheidenen Bezügen, die ihr das Arbeitsamt gewährte, ein paar Euro zusätzlich im Portemonnaie zu haben.

Also setzte Hedda wieder eine Annonce in die Zeitung.

Verena Martens gefiel das Zimmer sofort. Sie machte auch gleich beim ersten Kennenlernen einen sehr netten Eindruck. Hedda konnte sich gut vorstellen, diese Frau in ihrer Wohnung um sich zu haben: Eine ruhige freundliche Person, Nichtraucherin, nicht aufdringlich, die gerne mit einer anderen Frau zusammenwohnen möchte, um auch mal jemanden zum Plaudern zu haben. Besser hätte Hedda es gar nicht treffen können.

In dem ersten Gespräch erzählte sie Hedda, dass sie aus Berlin, aus Ostberlin stamme. Dort hätte sie ehemals eine eigene Zweizimmerwohnung gehabt, damals, als sie noch Arbeit hatte, in einem Konstruktionsbüro für Maschinenbau. Eine Liebe hätte sie dann vor zwei Jahren in diese Stadt geführt. Leider wäre diese vor ein paar Monaten zerbrochen, und somit sei das Leben in der gemeinsamen Wohnung unerträglich geworden. Von daher wäre es ihr sehr dringlich, etwas anderes zu finden. Beruflich hätte sich zum Glück schon eine Veränderung ergeben.

„Ich bin total froh, dass das Arbeitsamt mir eine Umschulung angeboten hat“, sagte Frau Martens. „Sonst würde ich wahrscheinlich nur frustriert herumhängen.“

„Und was lernen Sie da für einen Beruf?“ erkundigte sich Hedda.

„Na ja, Beruf ist wohl etwas hoch gegriffen“, meinte Frau Martens. „Das Ganze läuft ja nur über ein Jahr, dafür aber total intensiv. Es ist eine Umschulung im Graphikbereich, sehr vielschichtig. Vielleicht habe ich ja damit eine Chance, mir hier eine neue Existenz aufbauen zu können. Wer weiß? In der Werbebranche oder ähnliches, das wär’ schon toll.“

Hedda überlegte: „Aber dann wissen Sie noch gar nicht, wo Sie hinterher arbeiten werden, oder?“

„Nein, leider nicht. Man könnte sagen, dass ich mich derzeit in einem Schwebezustand befinde“, versuchte Frau Martens ihre momentane Situation zu erklären. „Es ist leider noch alles völlig ungewiss, wie es genau weitergeht, sei es beruflich oder auch privat. Und da ich vom Arbeitsamt nur auf Sparflamme gehalten werde, bleibt mir auch nichts anderes übrig, als so ein einfaches Zimmer wie dieses zur Untermiete zu nehmen, sozusagen als Übergangslösung.“

„Heißt das, Sie wollen hier nur kurz wohnen?“ fragte Hedda etwas besorgt.

„Das kann ich nicht genau sagen“, antwortete Frau Martens ehrlich. „Es ist, wie gesagt, alles offen, wie es weiter gehen wird. Ob ich später eine Arbeit finde oder nicht, das kann ich heute auch noch nicht abschätzen. So rosig sieht es im Moment jedenfalls nicht aus, das haben sie mir schon verkündet. Na ja, und was das Wohnen betrifft, zurzeit fände ich es jedenfalls ganz schön, mit jemandem zusammenzuwohnen, da ich mich in dieser Stadt noch nicht so eingelebt habe, dass ich mich alleine wohl fühle.“

„Aber hatten Sie nicht gesagt, Sie leben schon seit zwei Jahren hier?“ fiel Hedda ein.

„Ja schon, aber mein Freund und ich haben uns leider immer sehr abgekapselt von allem. Heute bedauere ich das natürlich“, gab Frau Martens zu verstehen.

„So, wie das klingt, was sie da erzählen, wird es wohl doch noch einige Zeit dauern, bis sich bei Ihnen eine Lösung gefunden hat, oder?“ versuchte Hedda ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen. Sie hatte eigentlich gehofft, dass sich bei ihr eine melden würde, die vorhatte, länger bei ihr zu wohnen.

„Ja, ich denke schon.“ Frau Martens nickte wohlwollend mit dem Kopf. „So wie es aussieht, bleibt mir nichts anderes übrig. Grundsätzlich möchte ich ja doch großzügiger leben, als nur einen kleinen Raum zur Verfügung zu haben. Aber was soll ich machen? Also, Frau Siebert, wenn Sie damit leben können, dass es unklar bleibt, wie lange ich bei Ihnen wohne, dann würde ich das Zimmer gerne nehmen.“

Hedda war einverstanden. Am ersten September sollte der Einzug sein. Ein paar Tage vorher wollte die neue Untermieterin noch einmal vorbeikommen, um das Zimmer genau auszumessen. Bei dieser Gelegenheit - Hedda hatte ihr einen Kaffee angeboten - einigten sich beide darauf, sich bei ihren Vornamen zu nennen. Und da die neue Mieterin auch schon auf die fünfunddreißig zuging, und beide somit altersmäßig nicht allzu weit auseinander lagen, bereitete es Hedda keine Probleme, Verena zudem noch zu duzen.

„Ich würde gerne ein paar eigene Möbel mitbringen, wenn du nichts dagegen hast“, bat Verena, als sie sich noch einmal in dem Zimmer umschaute. „Die brauche ich unbedingt zum Arbeiten. Viel passt hier ja sowieso nicht mehr ‘rein. Die restlichen Sachen lasse ich dann im Keller bei meinem Freund ... äh ... Exfreund natürlich“, grinste sie Hedda für den Versprecher an.

Hedda hatte zwischenzeitlich die Glasvitrine aus dem Zimmer genommen und bei sich aufgestellt, so dass der Platz jetzt wieder frei war. Warum sollte die Neue also nicht auch etwas Eigenes hineinstellen? Hedda fand zwar, dass ihre Möbel ausreichen müssten, aber gegen ein wenig Individualität war natürlich nichts einzuwenden.

Verena brachte einen Schreibtisch und Stuhl, einen kleinen Schrank, eine Art Vertiko, einen Fernseher, ein etwas älteres Modell, dessen Rückwand sich bereits zum Teil gelöst hatte, und ein paar Topfpflanzen mit. Obwohl sie den runden Tisch von Hedda in den Keller stellten, wurde es doch etwas enger in dem Zimmer.

„Eigentlich entspricht es ja gar nicht meinem Lebensstil, so klein, so eng. Aber das wenige Geld. Wohl oder übel muss ich mich dem leider fügen“, seufzte sie laut vernehmbar.

Hedda ging durch den Raum und schaute sich um. „Wieso, ich finde es ganz hübsch.“

Am nächsten Morgen musste Verena gleich wieder ihrer Arbeit nachgehen, also zur Schule. Sie dürfe nur äußerst selten fehlen, da waren die Auflagen vom Arbeitsamt sehr streng, andernfalls hätte sie das Pensum nicht erfüllt und müsse zudem die Kosten rückwirkend erstatten, erzählte sie Hedda. „Es ist unwahrscheinlich anstrengend, aber ich muss zugeben, auch absolut interessant“, fügte sie noch schnell hinzu, bevor sie die Wohnung verließ.

Als Verena die Tür ins Schloss fallen ließ, saß Hedda immer noch am Küchentisch und trank ihren Morgenkaffee. Wie beim ersten Mal, als Elke eingezogen war, stellte sich wieder dieses wohlige Gefühl ein. Sie holte tief Luft und gab einen zufriedenen Laut von sich. Die wärmende Kaffeetasse in beiden Händen haltend, lächelte sie in sich hinein. Ja, sie freute sich, nicht mehr alleine zu sein. Ihr Entschluss, es noch einmal zu versuchen, war doch der Richtige gewesen.

Sie träumte ein wenig vor sich hin. In ihrer Phantasie stand ihr eine interessante, erlebnisreiche Zeit bevor. Sie träumte davon, mit Verena nachmittags gemütlich zusammen zu sitzen, ein paar selbstgebackene Kekse zu essen, Tee zu trinken und ein wenig über die Welt und das Leben im Allgemeinen zu plaudern. Sie stellte sich gemeinsame Ausflüge vor oder dass sie auch mal gemeinsam ins Kino gehen würden. Hedda war noch nie in einem Kino gewesen, alleine traute sie sich nicht und könnte es wohl auch nicht genießen. Aber zusammen mit Verena! Hedda erinnerte sich an das erste Gespräch, in dem Verena selbst betont hatte, dass sie alleine wäre und Kontakt suche. Sicherlich wäre sie sonst auch nicht in ihrem Alter noch zu einer Fremden in die Wohnung gezogen. In den prächtigsten Farben malte sich Hedda einen gemeinsamen Sonntag aus: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, saftige Wiesen, ein Blumenmeer wie im Bilderbuch – und mittendrin Verena und sie, vertieft in anregende Gespräche. Eine schöne Vorstellung. Mit verklärtem Blick verweilte sie in ihren Träumen.

Dann stand sie auf, ging über den Flur und öffnete die Tür zu Verenas Zimmer. Es sah wirklich gemütlich aus. Der Schreibtisch und die passende Kommode dazu, die jetzt Bürosachen enthielt, waren alte Möbel, aber noch gut erhalten. In die Türen waren feine Intarsien eingearbeitet, und die Schlösser hoben sich durch ausgefallene Messingbeschläge hervor. Verena hatte beim Einzug erwähnt, dass diese Möbel alte Erbstücke von ihrer Oma seien.

Hedda stand mitten im Zimmer. Ein sonderbarer Geruch stieg ihr plötzlich in die Nase. Sie konnte ihn nicht genau definieren, irgendwie durchdringend, stechend, vielleicht auch etwas modrig, jedenfalls sehr unangenehm. Ob es die Möbel der Oma waren? Hedda verzog ein wenig das Gesicht. Sie würde sich schon daran gewöhnen, beschloss sie dann und verließ den Raum.

Verena kam erst gegen Abend nach Hause. Hedda saß in der Küche am Küchentisch und schmierte sich ihr Abendbrot. Sie bot Verena höflich an, mit ihr zu essen, was diese auch dankend annahm, da sie bisher noch nicht dazu gekommen war, etwas einzukaufen und sich in der Küche einzurichten.

Verena hatte Lust, ein wenig zu plaudern. Die beiden kannten sich ja noch kaum, und so eine Gelegenheit, gemütlich beim Essen, war günstig, sich ein wenig näher zu kommen.

Sie erzählte von ihrer Schule, von den interessanten Fächern, den neuen Möglichkeiten, auf dem Computer graphische Zeichnungen und Trickfilme produzieren zu können. Und sie erzählte von ihrer Heimat, vom Osten, wie es früher war noch zu DDR-Zeiten und wie sich alles mit der Wende verändert hatte. Von den Hoffnungen auf ein freies, großzügiges Leben, die sich augenscheinlich für sie nicht wirklich erfüllt hatten, betrachtete man ihre gegenwärtige Situation, mit der sie sich nur schwer abzufinden schien. Ihr leidender Gesichtsausdruck bei ihren Worten machte es deutlich. Er brachte etwas Anklagendes zum Ausdruck, als wenn die Welt doch sehr ungerecht mit ihr verfahren würde. Andererseits erlebte Hedda Verena bisher als eine Frau, die sehr klar ihre Wünsche und Forderungen aussprach.

„Und was machst du immer so den ganzen Tag?“ fragte Verena nach einer Weile. „Du bist doch auch arbeitslos. Gibt es für dich keine Stelle?“

„Nein, leider nicht“, gab Hedda wehmütig zurück.

„Und hast du schon mal an eine Umschulung gedacht?“ brachte Verena als Idee.

„Eine Umschulung? So wie du?“ Hedda schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich wüsste auch gar nicht, was mich da interessieren würde.“

Verena runzelte skeptisch die Stirn. „Kannst dich ja mal erkundigen, irgendwas haben die bestimmt für dich.“

Insgeheim spürte Hedda eine innere Abneigung, alleine sich vorzustellen, sich noch einmal der schrecklichen Tortur einer Lehrzeit mit verbundenem Prüfungsstress unterziehen zu müssen. Mit Grauen dachte sie an die angstbesetzte Zeit zurück, damals nach dem Schulabgang, als sie täglich mit Magenschmerzen zur Arbeit ging, immer mit der Sorge im Bauch, den Anforderungen der Lehrstelle und der damit verbundenen Berufsschule nicht zu genügen, immer mit den Zweifeln im Kopf, irgendetwas falsch zu machen und den Abschluss nicht zu schaffen.

Als sie mit dem Abendbrot fertig waren, stand Verena auf. „Vielen Dank für das Essen“, sagte sie. „Morgen gehe ich dann endlich einkaufen und besorge mir selbst was.“

Hedda lächelte ihr nach, als sie aus der Küche ging. Es war wirklich schön, nicht mehr alleine zu sein.

In der Tür wandte Verena sich dann noch einmal kurz um.

„Ach, bei der Gelegenheit, ich wollte dir noch etwas zu heute Morgen sagen“, begann sie einleitend. „Ich habe eine viertel Stunde warten müssen, bis du im Bad fertig warst. Das geht nicht. Weißt du, es kann absolut nicht sein, dass du hier morgens um die Zeit das Bad besetzt hältst, wenn ich zur Schule muss. Das müssen wir anders regeln.“

Hedda lief es heiß und kalt den Rücken herunter. „Äh, ja“, stotterte sie etwas irritiert, „ja natürlich, daran habe ich nicht gedacht. Ich gehe dann eben nach dir ins Bad, wenn du fertig bist. Morgens habe ich es ja nicht so eilig.“

„Außerdem“, fügte Verena mit Nachdruck hinzu, „das habe ich dir noch gar nicht gesagt: Ich brauche einen Platz im Keller für mein Fahrrad. Letzte Nacht hat es draußen gestanden. Das geht auf keinen Fall, mein Fahrrad muss unbedingt in den Keller.“ Und damit verließ sie die Küche.

„Mach’ sofort die Tür auf und komm da ‘raus!“ Heddas Vater donnerte mit der Faust an die Badezimmertür. „Hast du mich verstanden? Ich sagte sofort!“

Einen bitterbösen Blick einfangend, schlich sie sich an ihm vorbei.

„Verdammt noch mal“, passte Heddas Mutter sie an der Küchentür ab, ehe sie wieder in ihr Zimmer verschwinden konnte. „Was fällt dir ein, das Bad zu besetzen, wenn du genau weißt, dass dein Vater zur Arbeit muss? Wie oft soll ich dir das eigentlich noch sagen? Du hast gefälligst zu warten, bis er fertig ist. Wie siehst du eigentlich aus?“ Ihre Mutter hielt sie an der Schulter fest und betrachtete mit finsterer Miene Heddas Kopf. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Soll das ‘ne neue Frisur sein? Das eine sage ich dir: So gehst du mir nicht aus dem Haus!“

In Heddas Klasse waren zurzeit alle Mädchen auf einem Kosmetiktrip. Sie schminkten sich, lackierten ihre Fingernägel und stylten ihre Haare neu. Die Lehrer schmunzelten nur über diese neue Modewelle in der Klasse. „Vorpubertäre Phase“, blinzelten sie sich zu. Den Mädchen ging es weniger darum, den Jungen zu gefallen, als mehr um den Spaß, etwas Neues an sich auszuprobieren und sich großartig und vielleicht auch ein wenig erwachsener zu fühlen. Und wenn Hedda schon kein Geld für Schminksachen bekam, so wollte sie doch zumindest ihre Frisur etwas verändern, um nicht ganz abseits zu stehen. Es bereitete ihr sogar großen Spaß, sich im Spiegel zu betrachten und verschiedene Frisuren auszuprobieren. Sie entschied sich für einen ausgefallenen Zopf, so einen wie sie ihn bei einem Mädchen aus den höheren Klassen gesehen hatte. Sie band einen Teil ihrer Haare mit einem Gummiband schräg oben am Kopf zusammen. Wie ein Springbrunnen teilten sich die Haare und fielen zur Seite herunter.

„Das sieht ja richtig lächerlich aus“, setzte Heddas Mutter noch hinterher. „Und dafür besetzt du stundenlang das Badezimmer.“ Unsanft stieß sie Hedda von sich. „Sieh’ ja zu, dass du das wieder wegmachst. Du bist noch nicht mal zwölf und fängst schon an, dich den Männern anzubiedern. Muss ich dir das auch noch austreiben? Erledige lieber deine Sachen hier zu Hause. Du hast gestern die Küche nicht gewischt. Meinst du, ich merke das nicht? Die Wäsche ist auch noch nicht fertig gebügelt. Mach nur so weiter. Ich werd’s dir schon zeigen, wie du hier zu parieren hast. Du weißt genau, ich brauch’ nur ein Wort zu deinem Vater zu sagen, und er prügelt dich windelweich.“

Verena kam jetzt zwar regelmäßig nachmittags nach Hause, aber zu den ursprünglich angedachten Plauderstündchen kam es leider nicht mehr. Das ausführliche Gespräch am ersten gemeinsamen Abend hatte somit eine Ausnahme gebildet, sehr zum Bedauern von Hedda. Einzig, wenn Hedda ihr am Nachmittag oder Abend etwas anbot, ein Stück Kuchen oder einen Salat, setzte sich Verena zu ihr und sie unterhielten sich ein wenig. Mit der Zeit stellte Hedda allerdings fest, dass ihre Angebote Verena weniger zur Kommunikation dienten, als mehr dem Zwang Geld zu sparen, da sie ihre eigenen Vorräte dann nicht anzurühren brauchte.

Schon nach kurzer Zeit war Hedda es jedoch leid, ihre Untermieterin durchzufüttern, da auch die Gespräche sich sehr schnell als äußerst belanglos herausstellten. Verena fiel leider nicht viel mehr ein, als in erster Linie wiederholt ihre bescheidene Situation zu beklagen oder sich über irgendwelche ungerechten Behandlungsweisen von Behördenmenschen zu beschweren, von denen sie meinte, es seien einzig und alleine Schikanen, die sie an ihr ausübten, weil sie aus dem Osten käme. Als wenn das Thema nicht langsam hinfällig wäre. Schließlich ist die Mauer ja nicht erst gestern gefallen. Auch war Hedda es mittlerweile leid, die ständigen Zipperlein ihrer Untermieterin in aller Ausführlichkeit dargestellt zu bekommen, seien es nun Kopfschmerzen, Erkältungen oder Monatsblutungen. Derartige Jammertiraden hatte sie schon zur Genüge von ihrer Mutter ertragen müssen.

Um sich derlei unerquicklichen Gesprächen nicht mehr freiwillig auszusetzen, nahm Hedda ihre Mahlzeiten nur noch alleine ein, wenn nötig sogar in ihrem Wohnzimmer. Der leidende Ausdruck in den Augen und die betont vorgeschobene dicke Unterlippe in Verenas Gesicht, wenn sie zur Tür hereinkam, ließen Hedda jeweils schon vorher erahnen, welch ein Gejammer heute wieder auf sie zukommen würde, setzte sie sich erneut einem Gespräch aus. Sie zog es dann lieber vor, nach einem kurzen Gruß auf dem Absatz kehrt zu machen und das Weite zu suchen.

Abends zog Verena es vor, sich vor den Fernseher zu setzen. Da sie nur über wenig Geld verfügte, wie sie unverblümt wiederholt bemerkte, könnte sie sich nicht leisten auszugehen. Sie zog ihre Feierabendkleidung an, eine etwas unästhetische, alte, hellbraune, völlig ausgebeulte Trainingshose, legte sich auf das Bett, verteilte ihr Knabberzeug um sich herum und zapte sich durch die Fernsehprogramme. Somit stand sie Hedda nicht mehr zur Verfügung. Sie widmete sich voll und ganz ihrem Fernseher. Die Zimmertür ließ sie dabei allerdings offen stehen.

Hedda spürte deutlich ein Gefühl von Aversion gegen die permanente Berieselung durch diese verdammte Flimmerkiste. Sie suchte nach einer Erklärung dafür, schließlich hatte sie sich doch eigentlich mehr Leben in ihrer Wohnung gewünscht. Bedeutete der Fernseher gar eine Konkurrenz für sie? Da Hedda aber die Unterhaltungen mit Verena von sich aus mied, konnte es das eigentlich nicht sein. Es war eher die Unmöglichkeit, sich den Abend selbst gestalten zu können. Somit war der Fernseher samt Untermieterin als Störenfried und Eindringling zu bezeichnen, weil er, aufgrund der herüber schallenden Lautstärke, schlichtweg nicht zu ignorieren war.

„Hast du die Tür eigentlich immer offen stehen?“ wagte Hedda einmal an einem frühen Abend einen Vorstoß, als sie erneut befürchtete, in ihrer Ruhe gestört zu werden. Sie hatte sich gerade in eine Zeitschrift vertieft, die sich ausführlich mit den heutigen Sicherheitsstandards technischer Geräte im Haushalt, insbesondere von Heizstrahlern, Fernsehgeräten und Toastern und den möglichen Gefahren bei falscher Anwendung, befasste. Verena war wie üblich nach Hause gekommen, hatte etwas gegessen und wollte gerade, nachdem sie in ihre grässliche Hose geschlüpft war, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und sich ihrem Fernseher widmen. Ihre Zimmertür ließ sie weit geöffnet.

„Die Tür muss immer offen bleiben, zumindest wenn ich nicht schlafe“, gab sie zur Antwort. „Sonst habe ich in diesem kleinen Raum noch das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und ausschließlich darauf beschränkt zu sein, in so einem winzigen Zimmer leben zu müssen, finde ich ziemlich furchtbar.“

So winzig fand Hedda das Zimmer gar nicht, und sie hatte nicht den Eindruck, an Wahrnehmungsstörungen zu leiden. Elke hatte sich über die Größe des Zimmers jedenfalls nie beklagt. Allmählich betrachtete Hedda Verena mit einiger Skepsis. Vielleicht arbeitete sie daran, die Miete drosseln zu können, so penetrant, wie sie auf dieses ach-so-kleine Zimmer, gekoppelt mit ihrer bemitleidenswerten finanziellen Situation hinwies. Ihr Verhalten deutete ganz offensichtlich daraufhin. Oder wurden jetzt langsam die Ellbogen ausgefahren? Merkte Verena tatsächlich nicht, wann sie den Bogen überspannte?

Leider sollte diese Ruhestörung nur der Anfang einer misslichen Wohnsituation sein, wie sich schon sehr bald herausstellte.

Eigentlich hatte Hedda sich das Zusammenleben mit dieser Untermieterin ganz anders vorgestellt: freundliche Gepflogenheiten, wenn man sich begegnete, anregende Gespräche bei Tisch, gemeinsame Spaziergänge ... Aber nichts von dem hatte sich eingestellt. Nicht nur, dass die gemeinsamen Unterhaltungen nicht richtig zustande kamen, von Ausflügen ganz zu schweigen, auch die allgemeinen Modalitäten des miteinander Wohnens hatte Hedda so nicht geplant.

Schon nach kurzer Zeit musste Hedda in Zweifel ziehen, ob sie hier noch die Hauptmieterin war oder die Rollen sich vertauscht hätten. Verena besaß keinerlei Skrupel, die Wohnung nach und nach für sich zu vereinnahmen. Immer weiter breitete sie sich über ihr Zimmer hinaus aus. Nicht nur, dass sie, zusätzlich zu den zwei Fächern, die ihr Hedda im Küchenschrank zugewiesen hatte, die freien Flächen in der Küche - wie auf dem Kühlschrank, der Fensterbank, dem Regal und einem Teil des Tisches - mit ihren Sachen belegte, sie nutzte auch im Flur den Fußboden, um leere Flaschen und alte Zeitschriften unterzubringen. Was nun nicht gerade zur Verschönerung des Flures beitrug, abgesehen von der Behinderung beim Vorbeigehen. Ihre leeren Vasen stellte sie ebenfalls in den Flur oben auf die Kommode. „Du kannst ja wohl kaum erwarten, dass ich die auch noch in mein klitzekleines Zimmer stellen soll.“ Im Badezimmer spannte sie eine Wäscheleine über die Badewanne, die dann fast täglich mit ihrer Wäsche voll hing. „Extra jedes Mal in den Keller laufen, finde ich doch recht umständlich“, begründete sie dann ihr Tun. „So geht’s doch auch.“

Verena machte Hedda völlig sprachlos. Es machte sie sprachlos, wie eine Frau sich, in der für sie doch eigentlich fremden Wohnung, einfach eigennützig mehr und mehr Raum verschaffte. So völlig selbstverständlich. Es hatte den Anschein, als würde sie Stück für Stück allmählich ihre ganze Wohnung in Beschlag nehmen. In ihren eigenen vier Wänden konnte Hedda sich nicht mehr frei bewegen. Die Wohnung war quasi besetzt von ihrer Untermieterin.

Selbst als Hedda eines Tages in der Küche beim Kuchenbacken war, wurde sie verdrängt. Verena kam nach Hause, als sie gerade den Kuchenteig auf dem Tisch durchknetete.

„Mann, bin ich kaputt“, ließ Verena zur Begrüßung verlauten. „Den ganzen Tag haben wir nur am Computer gesessen. Mir dröhnt vielleicht der Kopf. Aber jetzt muss ich erst mal was essen.“ Demonstrativ holte sie Geschirr und Besteck aus dem Schrank und packte ihre Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Tisch. „Brauchst du noch lange hier?“ Sie wies abschätzig mit dem Kopf auf den Tisch, während sie eine Scheibe Brot aus der Tüte nahm. „Ich habe wahnsinnigen Hunger.“

„Es dauert noch ein bisschen, ich habe gerade erst angefangen“, gab Hedda zu verstehen. Etwas betreten beobachtete sie Verenas Treiben auf dem Küchentisch, der ja eigentlich mit ihren Kuchenzutaten belegt war. „Kannst du nicht heute mal ausnahmsweise in deinem Zimmer essen? Ich wusste ja nicht, dass du so früh kommst.“

„In meinem kleinen Zimmer? Das kannst du wohl kaum erwarten. Womöglich noch an meinem Schreibtisch?“ Unnachgiebig schob sie Heddas Mehl- und Zuckertopf beiseite und packte ihren Käse auf einen Teller, den sie dann zur Mitte schob.

Verenas allgemein fordernde Haltung wurde noch bekräftigt durch ihre massive, körperliche Ausstrahlung. Sie war eine kräftige Frau von großer Statur. Ihr relativ großer Kopf wies deutlich grobe Gesichtszüge auf. Sie hatte große Augen, eine etwas dicke Nase und einen breiten Mund, dessen wulstige Lippen deutlich vorstanden. Die kantige und doch füllige Form ihres Gesichtes wurde noch dadurch hervorgehoben, dass sie ihre glatten strähnigen Haare gerne mit einer Spange nach hinten am Kopf befestigte. Zudem wurde ihr allgemeines Erscheinungsbild noch untermauert durch den klagenden Ausdruck ihrer Augen und die betont herunterhängenden Mundwinkel, die unmissverständlich ihr jeweiliges Anliegen offen zutage trugen. Und wenn Verena, so wie jetzt, in der Küche hantierte, tat sie dies mit ausladenden Bewegungen, so dass kaum noch Platz für andere war.

Hedda sah sich genötigt, das Feld zu räumen. Sie machte den Tisch frei, wusch sich ihre mehligen Hände in der Spüle, legte ihre Schürze über den Stuhl ab und verließ die Küche. Im Vorbeigehen kam ihr wieder dieser sonderbare Geruch, den sie immer vernahm, wenn Verenas Zimmertür offen stand, in die Nase. Mit einem Male wurde ihr klar: Es waren nicht die Möbel, die so merkwürdig rochen, es war Verena selbst, die diesen Geruch verbreitete. Sie hatte eine Körperausdünstung, die Hedda zutiefst unangenehm war. Automatisch öffneten sich ihre Nasenflügel, gleichzeitig hielt sie die Luft an, um so wenig wie möglich von dieser gärenden Penetranz einzuatmen. Angewidert verzog sie das Gesicht.

Hedda war, als wenn ihr zunehmend die Luft zum Atmen genommen wurde. Nicht nur, dass sie Verena nicht riechen konnte, überall, wo sie auch hinschaute, hatte diese Person sich ausgebreitet. Wollte sie baden, war dies nicht möglich, weil das Badezimmer voller Wäsche von Verena hing. Ging sie etwas eiliger über den Flur, stolperte sie über Verenas Kisten. Wollte sie abends ein Buch lesen, fand sie keine Ruhe, weil Verena den Fernseher eingeschaltet hatte, dessen Lautstärke durch die offen stehende Tür unweigerlich in Heddas Zimmer drang. Meinte sie dann, endlich ihre Nachtruhe gefunden zu haben, wurde sie jäh aus dem Schlaf gerissen, da Verena des Nachts häufig auf die Toilette ging und jedes Mal die Badezimmertür unsanft zuknallen ließ.

Ein scheußliches Gefühl erklomm auf leisen Sohlen Schritt für Schritt Heddas Gemüt. Alles deutete darauf hin - und so langsam rückte es auch schleichend in Heddas Bewusstsein -, dass Verena dazu imstande war, sich so einzunisten, dass die Machtverhältnisse in dieser Wohnung sich umzukehren schienen. Und Hedda war augenscheinlich dabei, dies auch noch zuzulassen. Sie selbst fühlte sich in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr wirklich präsent, höchstens noch als leere Hülse. Hier drehte sich alles nur noch um Verena. Hedda war ganz und gar in den Schatten dieser Frau gedrängt.

Es gab Tage, da war es besonders schlimm. Verena vereinnahmte dann nicht nur die gemeinsam genutzten Räumlichkeiten, sondern auch Hedda als Person. Seit einiger Zeit hatte sie sich nämlich angewöhnt, direkt, wenn sie nach Hause kam, bei Hedda hereinzuschauen, egal, ob diese gerade in der Küche beschäftigt war oder am Bügelbrett in ihrem Zimmer stand. Verena gesellte sich unvermittelt dazu, um bei Hedda ihren Alltagsballast abzuladen und sich so von den Anspannungen des Tages zu lösen. Hedda war ihr dazu gerade recht. In einem unermüdlichen Redeschwall ergoss sie ihren Frust, oder was sie sonst loswerden wollte, auf Hedda herab. Meistens ging es darum, allgemein die Welt, die ihr das Leben so schwer machen würde, zu beklagen. Nebenbei wurde Hedda dann noch mit weiteren Forderungen bombardiert, was sie für sich in der Wohnung geändert haben wollte. Zum Beispiel bräuchte sie eine längere Telefonschnur, wenn sie schon so ein altes Modell hätte, damit sie das Telefon mit in ihr Zimmer nehmen könnte, oder einen Fernsehkabelanschluss an die Hausantenne, damit sie einen besseren Empfang hätte, und so manches mehr. Ihre Ansprüche führten langsam ins Unermessliche. Sie verteilte auch gerne unaufgefordert Ratschläge, wie Hedda alles Mögliche noch besser oder anders machen könnte. Mit Unterhaltung oder Plauderstunde hatte das Ganze bei weitem nichts zu tun. Dazu war es schlicht zu einseitig. Nicht nur, was den Inhalt betraf, sondern auch durch die Art, wie unermüdlich Verena auf sie einredete, ohne auch nur im Entferntesten auf Heddas Bedürfnisse einzugehen. Hedda fühlte sich hingegen außerstande, sich in irgendeiner Form einzubringen, etwas dagegen zu setzen oder auch das Gespräch zu beenden, um Verena in ihre Schranken zu weisen. Im Gegenteil, Verenas Anwesenheit erdrückte sie und ließ sie selbst sich immer elender und kleiner fühlen.

Nachdem diese Attacken mit der Zeit alltäglich wurden, stellte sich bei Hedda der Effekt ein, dass sie innerlich abschaltete. Sie hörte einfach nicht mehr hin auf das, was ihr da aufgezwungen wurde. Sie versuchte es zumindest. Doch leider schaffte sie es damit nicht, den Ansturm völlig an sich abprallen zu lassen. Denn, was Verena an Anspannungen abbaute, das gewann Hedda im Gegenzug hinzu. Je mehr Verena auf sie einredete, desto angespannter und unruhiger wurde Hedda tief in ihrer Brust.

Als Verena dann eines Tages krank im Bett lag, sie hatte sich eine Erkältung zugezogen, hatte Hedda eigentlich auf etwas Ruhe gehofft. Doch stündlich schleppte Verena sich aus ihrem Zimmer, um sich in der Küche einen Kräutertee aufzubrühen. Zudem roch die ganze Wohnung nach japanischem Heilpflanzenöl, dem Hedda sich, selbst wenn sie wollte, nicht entziehen konnte. Mit zittrig weinerlicher Stimme klagte Verena Hedda wiederholt ihr Leid.

„Es ist so furchtbar“, schniefte sie jammernd durch die Nase. „Mein ganzer Kopf tut mir weh.“

„Hast du Fieber?“ erkundigte sich Hedda gezwungenermaßen höflich.

„Nein, aber ich fühl’ mich total flau“, antwortete Verena in gedämpftem Ton. „Ich bleibe lieber ein paar Tage zu Hause.“ Mit einer Hand an der Stirn hielt sie ihren kranken Kopf gestützt. „Wenn du wüsstest, wie schwer es mir fällt, mich immer aus dem Bett zu quälen.“

Sie demonstrierte das heulende Elend mit Perfektion. Mit hängenden Gliedern und gesenktem Kopf schlich sie durch die Räume. Vom Bett, zur Toilette, zur Küche und wieder ins Bett. Die glasigen Augen bescheinigten ihr obendrein, dass sie nicht simulierte. Dementsprechend Mitleid erregend war auch unverkennbar ihr Gesichtsausdruck. Und genau das sollte er ja wohl auch sein.

Unzweifelhaft spürte Hedda deutlich die Erwartung Verenas, bedauert und umsorgt zu werden. Wenn nicht gerade ein Husten zu vernehmen war, so hörte sie ein lautstarkes Trompeten ins Taschentuch. Spätestens damit wurde Hedda wieder darauf aufmerksam gemacht, eine Kranke im Haus zu haben. Irgendetwas sträubte sich jedoch in Hedda, auf Verenas Leiden in irgendeiner Form einzugehen und führte sie andererseits in bohrende Konflikte. Sie verwehrte ihre Hilfe und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, sich nicht zu kümmern.

Es stimmte nichts mehr. Das Gefühl der Euphorie mit der erneuten Anzeige in der Zeitung und die Zuversicht auf eine schöne Zeit mit einer netten Mitbewohnerin waren sehr schnell verblasst. Diese Mitbewohnerin hatte sich leider als absolute Fehlbesetzung herausgestellt. Die schöne Stimmung, die Hedda sich mit ihr erhofft hatte, war schon sehr schnell ausgeblieben und hatte sich in eine schwer auszuhaltende Gemütslage verkehrt. Sobald Verena die Wohnungstür aufschloss, war Hedda von einer angespannten Atmosphäre umgeben. Ein schreckhaftes Zucken durchfuhr ihren Körper, woraufhin ihr Magen anfing, verrückt zu spielen. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in ein enges Korsett geschnürt zu sein, das ihr ein freies Atmen unmöglich machte.

Hedda dachte zurück an den ersten gemeinsamen Nachmittag, als Verena sich bei ihr vorgestellt hatte. Hatte sie sich damals so getäuscht? War sie wirklich so geblendet gewesen von der Glückseligkeit, wieder jemanden bei sich einziehen zu lassen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wer sich da hinter der Fassade verborgen hielt? Was hatte sie nur bewogen, ausgerechnet diese Frau aufzunehmen? Wenn sie so recht überlegte, dann war da schon bei diesem ersten Gespräch ein Hauch von Schwermütigkeit in Verenas Gesichtsausdruck zu lesen gewesen. Hedda hatte es auf die gerade zerbrochene Liebe zurückgeführt und nicht als elementare Eigenart betrachtet. Oder hatte sie womöglich gemeint, damit umgehen zu können, es nicht so wichtig zu nehmen, nicht so an sich herankommen zu lassen? Wie konnte sie nur so etwas in Betracht ziehen?

Ihr ganzes Leben hatte Hedda unter der Bevormundung und dem Jammerbild ihrer Mutter gelitten, war quasi geflüchtet, um sich dem nicht mehr täglich aussetzen zu müssen. Und dann holte sie sich so eine vergrämte und einnehmende Person freiwillig ins Haus.

Dabei hatte Verena sich anfänglich so nett gezeigt. Doch jetzt hatte Hedda sie durchschaut: Verena war nicht nett, sie war unverschämt. Unverschämt mit ihrer präsenten Art, sich zu nehmen, was sie glaubte, selbstverständlich anderen abverlangen zu können und unverschämt mit ihrem leidenden Gesichtsausdruck, in permanenter Erwartung auf Bedauern und Unterstützung. Sie war eine egoistische Frau, die sich nur um sich selbst drehte und nicht den Funken an Sensibilität besaß, zu erkennen, wann die Grenze der Belastbarkeit derer erreicht war, die sie für sich beanspruchte.

Hedda wollte nicht dafür herhalten, dass Verena im Osten so viel hatte entbehren müssen, oder warum auch immer sie sich so verhielt? Schließlich war das schon Jahre her. Sie mochte ihr nicht den roten Teppich reichen, von dem Verena wohl meinte, dass er anderen lange genug gedient hatte und jetzt ausschließlich ihr zustünde. Einer derartigen Anspruchshaltung wollte Hedda nicht weiter Genüge tun. Aber wie sollte sie es anstellen? Wie war das doch gleich mit unten und oben? Auf subtile Weise hatten sich die Verhältnisse verschoben. Nicht Hedda als Obermieterin machte hier die Vorgaben, sondern ihre Untermieterin. Hedda fühlte sich hundeelend. Es fiel ihr unendlich schwer, sich dieser unverschämten Person zu erwehren.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen durch das Klingeln des Telefons. Hedda stieß einen tiefen Seufzer aus. Da sie keinen Anruf erwartete, wusste sie auch ohne Vorankündigung, wer sie sprechen wollte.

„Du hältst es wohl überhaupt nicht mehr für nötig, dich mal bei mir zu melden“, beklagte sich ihre Mutter gleich mit den ersten Worten. „Ich könnte hier in meiner Wohnung tot umfallen, das würde dich gar nicht kümmern.“

„Ach, was redest du denn?“ Hedda verdrehte die Augen. Schon an dem wehleidigen Klang der Stimme war deutlich zu erkennen, in welche Richtung ihre Mutter das Gespräch zum wiederholten Male lenkte.

„Was heißt, was redest du? Mir geht es schlecht, und du rufst nicht ein einziges Mal an“, beschwerte die sich dann auch lautstark.

Hedda verzog den Mund: „Was hast du denn?“

„Was ich hab’? Das weißt du doch ganz genau. Tu doch nicht so scheinheilig. Meinst du, ich merk’ das nicht, wie egal ich dir bin. Du bist und bleibst ein undankbares Luder.“ Heddas Mutter hatte sich wie üblich in Rage gebracht, wenn ihre Tochter nicht sofort spurte, wie sie es gerne hätte. „Mein Rücken bringt mich noch um. Du weißt genau, mit welchen Schmerzen ich mich ‘rumquäle. Die letzten Tage ist es wieder schlimmer geworden. Ich kann kaum stehen und kaum sitzen, und in der Nacht weiß ich gar nicht, wie ich mich drehen soll. Ich war schon bei Dr. Schwarz, aber der gibt mir nur Tabletten und ...“ Sie redete und redete und ihre Stimme wurde dabei zittriger und schwächer. „ ... er meint, dass mir die Erkältung, die ich auch noch hab’, in den Knochen sitzt und mein Rücken deshalb besonders rebelliert ... Kann ja sein ... Auf jeden Fall ist es kaum auszuhalten ... Und du?“ Schlagartig veränderte sich wieder ihr Tonfall und wurde bohrend laut. „Von dir kann ich ja wohl überhaupt nichts erwarten? Wann lässt du dich endlich mal wieder bei mir blicken? Nie bist du da, wenn ich dich brauche. Nicht mal ein Anruf. Nichts!“

Heddas Atem wurde schwerer. „Ich hatte keine Zeit“, entgegnete sie kleinlaut.

„Keine Zeit“, erboste sich ihre Mutter. „Mir platzt hier fast der Kopf, ich kann mich kaum rühren und du hast keine Zeit. Das ist ja wohl lächerlich!“

Tiefe Furchen zeigten sich auf Heddas Stirn, sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Nasenflügel bebten. Nach einer Pause großer Überwindung sagte sie dann: „Ich komme morgen.“

„Morgen. Na gut.“ Ihre Mutter schien besänftigt zu sein. „Aber geh’ vorher einkaufen. Ich hab’ nichts mehr im Haus. Und bring’ Kuchen mit. Oder soll ich mit meinem Rücken auch noch für Kuchen sorgen? Und denk’ ja an das Grab von deinem Vater. Da müssen neue Blumen rauf. Nimm Begonien, die sehen nach was aus. Hörst du? Sonst denken die Leute noch sonst was.“

Seit dem Tod des Vaters achtete ihre Mutter peinlichst genau darauf, dass das Grab immer gepflegt aussah. Wieso, hatte Hedda nie verstanden. Früher hatte sie nicht ein gutes Wort über ihren Vater vernommen und jetzt spielte ihre Mutter die ewig trauernde Witwe. Dabei lag alles schon endlos lange zurück. Hedda war damals gerade zwölf Jahre alt, als ihr Vater starb.

„Du bist ab jetzt für das Grab verantwortlich.“ Mit den Worten war ihre Mutter eines Tages, ungefähr ein Jahr nach dem tragischen Unglück, zu ihr gekommen. „Ich bin es leid, da immer hin zu rennen. Ab heute übernimmst du das, war ja schließlich dein Vater.“ Speiübel war Hedda damals bei dem Gedanken gewesen, einmal die Woche an das Grab ihres Peinigers treten und es auch noch hübsch herrichten zu müssen. Mit den Jahren hatte sie die Friedhofsgänge dann immer weiter hinausgeschoben. Doch leider sorgte ihre Mutter hart und unerbittlich dafür, dass Hedda ihrer „Pflicht“, wie sie es nannte, nachkam und das Grab nicht verwahrlosen ließ.

„Wenn du schon sonst zu nichts nütze bist, das ist das Mindeste, was du mir abnehmen kannst“, setzte Heddas Mutter ihre Vorwürfe am Telefon fort, die Hedda leider zur Genüge kannte und die dennoch niemals spurlos an ihr vorübergingen. „Nach dem Tod deines Vaters saß ich mit allem alleine da und hatte dazu auch noch so ein Gör wie dich an den Hacken. So einen Nichtsnutz. Du hast wirklich schon damals zu nichts getaugt. Warst nur im Weg und hast dich dämlich angestellt.“ Ihre durchdringende Stimme bekam jetzt wieder diesen gehässigen Beigeschmack, der Hedda besonders in den Ohren schmerzte. „Diese verdammte Scheißnacht damals. Wenn ich daran noch zurückdenke. Wenn’s zumindest noch ein Vergnügen gewesen wäre, aber nicht mal das war es. Wie oft habe ich diese Nacht schon verflucht. Besoffen waren wir. Vorher noch nie ein Wort miteinander geredet. Mitgeschleppt hat er mich dann, aus dieser Kneipe, auf seine Bude. Da haben wir es dann miteinander getrieben. Und hinterher, da haben wir uns wie blöd angeschrien. Nie werde ich das vergessen. Meinen Lebtag habe ich dafür büßen müssen. Wer will schon so einen Balg wie dich am Hals haben? Eigentlich war ich damit schon genug gestraft. Aber obendrein noch so einen widerlichen Kerl wie deinen Vater im Haus zu haben, so einen Miesling, dessen brutale Launen ich täglich zu ertragen hatte, das nennt man dann wohl die absolute Krönung von einem verpfuschtem Leben.“ Die ganze Verachtung lag in ihren Worten. „Na ja, den Alten hat’s ja Gott sei Dank irgendwann erwischt. Aber mit dir Miststück hat es leider kein Ende genommen. Mit dir muss ich mich heute noch ‘rumschlagen.“

Hedda stand kreidebleich im Gesicht mitten im Flur. Ihre Mutter hatte es wieder einmal geschafft, dass ihr der Boden unter den Füßen wegrutschte. Den Hörer immer noch am Ohr haltend, starrte sie vor sich auf den Boden und schluckte. Warum musste sie das immer wieder über sich ergehen lassen? Warum konnte ihre Mutter niemals aufhören damit?

„Also, was ist nun?“ raunzte Heddas Mutter durchs Telefon. „Bringst du die Sachen oder was?“

Hedda schluckte nochmals und versuchte sich zu räuspern, um den festsitzenden Kloß im Hals herunterzuwürgen. „Ja, morgen“, kam es gebrochen heraus.

„Und bring’ gefälligst genug Zeit mit“, befahl ihre Mutter noch. „Nicht, dass du wie beim letzten Mal, was schon eine Ewigkeit her ist, nur die Sachen abstellst und gleich wieder verschwindest. Die Treppe muss noch gemacht werden, ich bin diese Woche dran. Es ist wirklich das letzte, mich mit allem hier alleine sitzen zu lassen. Was denkst du dir eigentlich dabei?“

Hedda kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Am liebsten hätte sie mit Wucht den Hörer für immer auf die Gabel geknallt. Stattdessen hielt sie ihn festgekrallt in der Hand, dass ihre Finger weiß anliefen.

„Ich bin ja mal gespannt“, insistierte ihre Mutter jetzt in ihrer bissigen Art, „wann dir überhaupt mal einfällt, mich zu dir einzuladen. Es wird ja wohl langsam Zeit, dass ich mir deine Wohnung ansehe.“

Hedda fiel die Kinnlade herunter. Ihr stockte der Atem. Mit weit aufgerissenen Augen hörte sie die Worte ihrer Mutter, die gnadenlos weiter auf sie einredete.

„Wie lange wohnst du da jetzt schon? Es muss schon eine Ewigkeit sein, ohne dass ich irgendetwas in der Richtung von dir gehört habe.“ Hemmungslos ließ ihre Mutter die Vorwürfe auf Hedda niederprasseln. „Wahrscheinlich waren schon alle möglichen Leute bei dir, bloß deine eigene Mutter, die hast du nicht nötig einzuladen.“

Alle möglichen Leute! Dabei wusste Heddas Mutter ganz genau, dass Hedda niemanden kannte.

Hedda stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Ihre Mutter in ihrer Wohnung. Grauenvoll. Würde diese auch nur einen einzigen Schritt durch die Tür setzen, das Ende der Idylle wäre für immer besiegelt gewesen.

Ihre Wohnung bedeutete ihr alles. Was hatte sie denn auch sonst? In mühevoller Kleinarbeit hatte sie sich ein Heim geschaffen, das ihr die so lang ersehnte Geborgenheit geben sollte. Und diesen lieb gewonnenen Ort, die einzige Rückzugsmöglichkeit von allem, was auf sie einströmte und dessen sie sich nicht erwehren konnte, ihre sichere Burg, wo niemand das Recht hatte, ihr Vorhaltungen zu machen und sie zu reglementieren, diesen Ort wollte ihre Mutter entweihen mit ihrem ständigen Gejammer und ihren permanenten Vorschriften, wie Hedda alles besser zu machen hätte. Absolut alles zerstören würde sie. Es würde Hedda die Luft zum Atmen in ihrer eigenen Wohnung rauben. Oh nein, bitte nicht, flehte sie innerlich.

„Also bis morgen“, war das einzige, was Hedda noch mühsam herausbrachte.

Hedda legte den Hörer wie in Trance, ohne genau zu wissen, was sie tat, auf die Gabel. Sie taumelte in die Küche und lies sich auf einen Stuhl sinken. Reglos starrte sie vor sich auf den Boden. Ihr Atem war deutlich zu hören, er wurde schwerer und schwerer. Sie fasste sich an die Brust. Da war er wieder, dieser beklemmende Schmerz, den sie oft fühlte, wenn ein Besuch bei ihrer Mutter bevorstand. Heute war der Druck besonders stark. Ihre Mutter hatte diesmal den Bogen weit überspannt. Hedda konnte sich kaum noch beruhigen. Ihr Innerstes schien sinnlos gegen etwas zu revoltieren, dessen Macht sich als grenzenlos entpuppte. Der Schmerz wurde immer stärker, als ob etwas anschwoll, das ihre Luftröhre jeden Moment zum Zerbersten bringen würde. Gleichzeitig war ihr Brustkorb wie zugeschnürt. Die eingeatmete Luft war gefangen und konnte nicht mehr heraus. Hedda versuchte aufzustoßen, um wenigstens etwas überschüssige Luft entweichen zu lassen und sich von etwas zu befreien, was den Schmerz verringern könnte. Selbst ein forciertes Gähnen, das manchmal befreiend wirkte, brachte keine Erleichterung.

Der Druck in ihrer Brust nahm weiter zu. Es war grauenvoll, nichts mehr steuern zu können, dem Schmerz gnadenlos ausgeliefert zu sein. Sollte das das Ende sein? Ihre letzten qualvollen Atemzüge? Sie presste mit aller Macht ihre Faust auf die Brust. Was konnte sie nur tun? Sie wusste sich nicht mehr zu helfen. Der Schmerz wurde bohrender, drückender - immer entsetzlicher. Es war nicht mehr auszuhalten. Alles war nicht mehr auszuhalten. Die Verzweiflung stand ihr im Gesicht.

Wie von etwas getrieben, sprang sie plötzlich auf und stürzte hastig aus der Küche. Im Flur stolperte sie über Verenas Zeitungsstapel. Sie fiel zu Boden und stieß mit dem Kopf an den Türrahmen zu Verenas Zimmer. Sie rappelte sich hoch und wankte ins Bad. Wie erstarrt blieb sie regungslos in der Tür stehen. Nur ihre Augen bewegten sich noch. Der ganze Raum war gefüllt mit Verenas Wäsche. Ein eisiger Blick taxierte jedes einzelne Wäschestück. Im nächsten Moment drehte sie sich um, riss die Tür zu Verenas Zimmer auf und verharrte ebenso starr, wie sie es beim Anblick der Wäsche getan hatte. Der widerliche Eigengeruch Verenas strömte ihr entgegen. Dieser modrige Gestank, der ihr den Atem raubte, nahm jetzt auch noch Besitz von der übrigen Wohnung. Sie schlug die Tür wieder zu und lief zurück in die Küche. Und hier bewahrheitete sich ihr eben gewonnener Eindruck: Sämtliche Flächen waren belagert mit Verenas Sachen.

Verena - überall Verena!

Erneut versuchte sie sich gegen das schmerzhafte, beklemmende Gefühl in ihrer Brust zu wehren. Sie fühlte sich völlig eingeengt, innerlich wie äußerlich. Wie lange kann man so etwas aushalten? So rundum beherrscht zu werden? Die Antwort wollte sie gar nicht wissen. Es musste etwas geschehen und zwar sehr schnell. Denn, wenn sie dem Ganzen jetzt keinen Einhalt gebieten würde, dann würde es ein jähes, schreckliches Ende für sie bedeuten. Und so geistesgegenwärtig war Hedda auf jeden Fall noch, um zu wissen, dass sie das nicht wollte.

Am liebsten hätte sie alles zu Boden geschleudert und für immer verbannt, um sich damit endlich Luft zu machen. Aber nach wie vor verbot ihr eine innere Schranke, eine dicke Barrikade im Kopf, derlei ungehörige Auswüchse. Doch irgendwas musste geschehen. Jetzt waren es schon Zwei, die sie nicht in Ruhe ließen. Nicht nur ihre Mutter, auch diese Frau hier in ihrer Wohnung raubten ihr die Luft zum Atmen. Verena verbreitete eine Atmosphäre, die angespannter nicht sein konnte. Bei Hedda hatte sich eine Frau - ein Ungetüm! - eingenistet, die dem eigenen Anspruch nach glaubte, eine ganze Wohnung gemietet zu haben.

Wie spät war es? Hedda blickte auf die Uhr. In Kürze würde Verena in der Tür stehen. Hedda ließ ein tiefes Stöhnen vernehmen. Sie musste sich etwas überlegen. Aber was? Wie konnte sie Verena dazu bewegen, dass sie ihre Wohnung für immer verließ, ohne ihr vor die Augen treten und es direkt aussprechen zu müssen? Eines war sicher: Hedda musste hier erst einmal raus und zwar ganz schnell. Noch bevor Verena nach Hause kam. Aber wo sollte sie hin? Ursprünglich sollte ihre kleine Wohnung ihr den Schutzraum vor allen Angriffen bieten, und jetzt empfand sie es als bedrohlich, sich hier aufzuhalten. Sie spürte deutlich ein böses Unheil auf sich zukommen, würde sie dem nicht etwas Gravierendes entgegensetzen.

Hedda versuchte sich zu konzentrieren. Hatte sie nicht erst kürzlich etwas gelesen, was ihr dienlich sein könnte? Angestrengt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, bis ihr schließlich der rettende Einfall kam, woraufhin sie sofort in hektische Geschäftigkeit fiel. Während sie eilig ihre Idee in die Tat umsetzte, musste sie sich zwischendurch immer wieder schmerzerfüllt an ihre Brust fassen. Zehn Minuten später dann trieb sie letztlich die Angst, qualvoll zu ersticken, nach draußen an die frische Luft.

Hedda irrte durch die Straßen. Es war bereits November, und ein kalter Wind sorgte für ziemlich ungemütliches Wetter. Es hatte geregnet und die feuchte Luft tat noch das ihrige dazu. Hedda schlug schützend ihren Mantelkragen hoch. Sie hatte weder an einen Schal noch an einen Schirm gedacht, einzig ihren Mantel hatte sie gegriffen, als sie sturzartig das Haus verlassen hatte.

In ihrem Kopf schwirrte alles durcheinander. Fernab von jeglicher Realität taumelte sie vorbei an den Menschen, die ihr entgegenkamen. Die Geräusche drangen teilweise ohrenbetäubend an sie heran und verflüchtigten sich dann wieder in den Hintergrund. Mal hörte sie ganz deutlich Getuschel, Kindergeschrei, Gezeter von Erwachsenen, Hupen, Verkehrslärm, das Aufheulen von Sirenen, mal waren die Geräusche nur verzerrt aus der Ferne zu hören. Hedda hatte wohl die Augen und Ohren offen und sah und hörte dennoch nicht wirklich, was um sie herum vor sich ging.

Lange Zeit irrte sie ziellos durch die Stadt. Die Tage waren jetzt schon merklich kürzer, die Dunkelheit setzte bereits ein. Die Straßenlaternen wurden eingeschaltet, Leuchtreklame flimmerte von den Läden. Hedda lief unbeirrt weiter.

Sie musste viele Stunden herumgelaufen sein, denn die Nacht hatte mittlerweile ihren Einzug gehalten. Die Geräuschkulisse war verblasst, und die meisten Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.

Hedda spürte, dass ihre Beine langsam lahm wurden. Eine Pause, um sich etwas auszuruhen, würde ihr jetzt gut tun. Sie blieb stehen und schaute sich um. Die Gegend war ihr fremd hier. Sie steuerte auf eine Grünanlage zu, die sie vor sich erspähte. Vielleicht würde sie dort eine Bank entdecken, auf der sie ein wenig verweilen könnte.

Der Weg führte sie in einen großen Park hinein. Überrascht lief sie weiter. Das war genau das richtige, was sie jetzt gebrauchen konnte, eine Abgeschiedenheit weit weg von der Straße. Und je weiter sie in die Grünanlagen hineinging, umso bekannter kam ihr alles vor. Es war ihr Park, durch den sie lief, nur war sie diesmal von der anderen Seite hereingekommen. Ein freudiges Leuchten erhellte ihr Gesicht. Jetzt musste sie nur noch ihren einst so geliebten Platz finden, ihre Bank, die sie bisher nur aufgesucht hatte, wenn sie sich in Hochstimmung befand. Doch heute war es anders. Wie ein Magnet fühlte sie sich plötzlich von dieser Bank angezogen. Hier erhoffte sie, die ersehnte Balance für ihren inneren Frieden zu finden, die nötig war, um sich selbst wieder ein Stückchen näher zu fühlen.

Die Luft war mittlerweile klar und trocken, als Hedda ihren vertrauten Platz erreichte und sich erschöpft niederließ. Der Park war nachts nur schwach beleuchtet und der Lärmpegel auf ein Minimum reduziert, so dass Hedda sich erleichtert zurücklehnen konnte und die Anspannung sich mit jedem Atemzug allmählich mehr und mehr löste. In ihrem Körper und ihrer Seele kehrte allmählich wieder Ruhe ein.

Reglos und in sich versunken saß sie auf ihrer Bank und blickte in die Stille der Nacht. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie wieder zu klaren Gedanken kam und ein entscheidender Impuls sich aus dem Wirrwarr ihrer grüblerischen Phantasien herauskristallisierte: Es ist einzig und allein meine Wohnung, sagte sie sich immer wieder. Und so einfach wollte sie das Feld nicht räumen. Sie musste dringend zurück und die Sache klären, denn eines war jetzt sicher: Mit so einer Frau wie Verena wollte sie nicht länger zusammenleben. Die hatte ihre Chance endgültig verwirkt. Also, nicht Hedda musste weichen, sondern Verena.

Mit entschlossener Miene erhob Hedda sich von der Bank und trat den Heimweg an. Sie sehnte sich geradezu nach Hause. Ihr Zuhause war der einzige Ort, der ihr bisher eine gewisse Art von Geborgenheit verliehen hatte, und diesen Ort musste sie für sich zurückgewinnen. Plötzlich stutzte sie. Sie blieb einen Augenblick stehen und überlegte. Wie war das doch gleich mit dem Zurückgewinnen? Hatte sie das nicht heute schon mal gedacht? Nagende Zweifel streuten sich kurzzeitig in ihre Gedanken, verließen sie aber gleich wieder.

Es musste inzwischen schon sehr spät in der Nacht sein, die Straßen waren wie leer gefegt. Hedda fröstelte plötzlich. Wie hatte sie es nur so lange in der Kälte ausgehalten? Zielstrebig nahm sie nun schnellen Schrittes den direkten Weg nach Hause. Sie hatte schon ein ganzes Stück zurückgelegt, da bemerkte sie, dass der Himmel vor ihr hell erleuchtet war. Der beginnende Tag konnte es noch nicht sein, dann wäre die Stadt längst aus ihrem Tiefschlaf erwacht. Es war auch nur ein geringer Ausschnitt, der die dunkle Nacht durchbrach.

Zu ihrem Erstaunen wurde dieser immer heller je weiter sie sich ihrer Wohngegend näherte. Hinter der sich abzeichnenden Silhouette einiger Häuserzeilen durchschnitt deutlich ein Lichtschein den übrigen schwarzen Nachthimmel. Es sah gespenstisch aus und hatte gleichzeitig etwas Faszinierendes. Kurz vor der Einbiegung in ihre Straße hörte sie dann auch schon seltsame, tumultartige Geräusche, die sehr unpassend waren für diese nachtschlafende Zeit. Motorenlärm und Stimmengewirr störten die sonst übliche Nachtruhe.

Je näher sie kam, umso lauter wurde es. Als sie dann um die Ecke bog, wurde sie es gewahr: In ihrer Straße brannte es. Aus einem Fenster im dritten Stock eines Hauses quoll loderndes Feuer heraus. Mehrere Feuerwehrlöschzüge waren im Einsatz, und die Feuerwehrleute waren emsig damit beschäftigt, den Brand zu löschen. Die ganze Straße war in hellem Aufruhr. Eine Menschenmenge aus den umliegenden Häusern hatte sich schon angesammelt, und die Polizei versuchte jetzt, die umstehende Menge auf Entfernung zu halten. Die Straße hatte sie bereits für den Verkehr abgesperrt.

„Was ist denn hier los?“ erkundigte sich Hedda bei einer herumstehenden Passantin.

„Es soll eine Explosion im oberen Stockwerk gegeben haben“, berichtete die Frau, „es hat auch fürchterlich geknallt, wir waren schon im Bett. Wir wohnen da drüben, gleich gegenüber.“ Sie wies mit einer Hand auf einen Hauseingang.

Hedda wurde es ziemlich mulmig. Es war ihr Haus, wo die Feuerwehr beschäftigt war.

„Ist schon irgendwie merkwürdig. Nach Aussage der Spurensicherung muss der Fernseher implodiert sein, aber so ohne weiteres ist dies eigentlich nicht möglich, vor allem nicht bei den heutigen Geräten.“ Ein Polizist stand mit einem Feuerwehrmann in Verenas Zimmer und begutachtete den Schaden. „Obwohl, das neueste Modell scheint es ja nicht gewesen zu sein“, fügte er Stirn runzelnd hinzu. „Und die Rückwand ist auch nur noch halb dran.“

Es war bereits heller Tag. Hedda hatte Stunden auf der Straße ausharren müssen, bis die Löscharbeiten beendet waren und die Brandstelle endlich freigegeben wurde. Sie betrat vorsichtig das Zimmer und schaute sich um. Es sah schrecklich aus. Die Möbel waren verkohlt, Scherben lagen verstreut im Zimmer, alles war schwarz von Ruß, und in der ganzen Wohnung stank es furchtbar verbrannt.

„Auf jeden Fall muss irgendwas im Fernseher entflammt sein, was einen Kurzen oder so was ausgelöst hat“, grübelte der Feuerwehrmann weiter. „Sonst wäre auch kaum das ganze Zimmer ausgebrannt, von der Frau ganz zu schweigen.“

„Wir haben Wachsreste gefunden“, sagte der Polizist, der sich noch einmal zu den Überresten des Fernsehers hinunter beugte und die defekte Rückwand vorsichtig mit den Fingern abzog.

„Sie hatte immer eine Kerze auf dem Fernseher stehen“, mischte Hedda sich in das Gespräch ein.

Der Feuerwehrmann drehte sich zu ihr um. „Ja, aber auf dem Fernseher ist das uninteressant, junge Frau, die muss, wenn schon, im Fernseher herunter brennen, um etwas anzuschmurgeln. Und das ist ja wohl höchst unwahrscheinlich, nicht wahr?“

Hedda presste ihre Lippen zusammen und nickte nur stumm.

Die Untermieter

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