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Auf der Achterbahn

Kapitel 1Rote Rosen
Felizitas Peters
Kapitel 2Found and lost
Ursula Striepe
Kapitel 3Das Echo
Renate Haußmann
Kapitel 4Happy Valentine
Felizitas Peters

Rote Rosen

Welcher Knopf war es nur? Der grüne sicher. Aufmachen ist doch immer grün. Mit Rot schließt man. Aber halt – gestern hatte sie eine neue Fernbedienung für das Hoftor bekommen. Ob die wirklich genauso funktioniert? Entschlossen drückt sie auf Grün – nichts. Dann auf Rot – immer noch nichts. Sie hupt. Er muss doch gehört haben, dass sie vor dem Tor steht. Warum macht er denn nicht auf? Vermutlich ist er immer noch verärgert. Wie lange kann ein Mann denn schmollen? Länger als eine Frau offenbar. Es ist so heiß in diesem Auto! Die Klimaanlage liegt auch in den letzten Zügen. Hektisch drückt sie all die anderen kleinen Knöpfe, die sich auf dem streichholzschachtelgroßen Bedienfeld drängen. Der ganze Kofferraum ist voller Lebensmittel und es sind 35 Grad im Schatten. Wenn das nicht bald in den Kühlschrank kommt, war die ganze Aufregung heute Morgen für die Katz – vom Geld gar nicht zu reden. Da! Das Tor schwingt auf, endlich. Keine Ahnung, welcher Knopf es denn nun gewesen ist – aber egal. Schnell hinein, bevor das automatische Tor wieder schließt. Entschlossen legt sie den Gang ein, schaut über die Schulter, ob auch niemand dort steht, der sich hinter ihrem Auto hineinschleichen könnte und fährt wie gewohnt in dieser unnatürlich verrenkten Haltung auf den Hof. Geschafft. Und sie ist es auch. Was für ein Morgen!

Jetzt muss noch alles hochgeschleppt werden. Warum hatten sie nochmal ein Haus am Hang gekauft? Wegen der Aussicht? Wie oft wird sie heute wohl die Treppen hochgehen müssen, bis alles oben ist? Ob sie ihn noch mal rufen soll? Der Schweiß läuft ihr jetzt schon in die Augen und dabei hat sie noch nicht mal angefangen mit dem Auspacken. Mit dem Unterarm wischt sie sich übers Gesicht und stutzt: Da ist etwas Rotes! Und da auch. Eine Spur roter Punkte zieht sich die Treppenstufen hinauf. Schnell reißt sie die Autotür auf und rennt zum Fuß der Treppe. Blut, denkt sie. Das muss Blut sein. Ob er verletzt ist? Angeschossen? Oder Schlimmeres! Doch es ist kein Blut. Der warme Wind weht ihr rotes Konfetti entgegen. Es sind Rosenblätter. Rote Rosenblätter. Auf der steilen Treppe zu ihrem Vorstadthaus liegt eine Spur von zarten roten Blütenblättern, die bis hinauf ins Haus führt. Sie blickt sich um und sucht den Hof ab. Warum, könnte sie nicht sagen. Will sie schauen, ob dort jemand steht, der sie beobachtet? Wer sollte das sein? Vielleicht steckt Angst in ihr. Erst das Tor, dann die ‚Blutflecken‘, die keine sind. Sie atmet tief durch und geht langsam die Stufen hinauf.

Oben führt die Spur aus Rosenblättern auf die Terrasse. Dort wird sie dünner, zittriger, als sei der Fluss des Streuens unterbrochen worden, vielleicht ist jemand hin und her gegangen – oder gestört worden. Doch die Spur führt weiter ins Haus. Aber die Eingangstür ist zu. Warum ist die Tür zu? Wo ist er denn?

Sie folgt den Rosenblättern durch das Wohnzimmer zum Esstisch. Dort steht ein kleines, liebevolles Arrangement: zwei Sektgläser und eine Flasche. Auf dem Tisch ein paar Tropfen. Wasser? Die Flasche ist leer. In der leeren Flasche stecken zwei prachtvolle rote Rosen, die dem Schicksal ihrer Schwestern entkommen sind. Außerdem ein kleines, gebasteltes Schild mit ‚Happy Valentine!‘. Sie schluckt. Er ist doch einfach süß, wenn er will. Vermutlich ist das seine Art ihr zu sagen, wie leid es ihm tut, dass er heute Morgen so einen Aufstand gemacht hat. Oder – ob er den Aufstand nur gemacht hat, damit sie allein zum Einkaufen fährt? Egal, sie wird ihm verzeihen. Aber wo ist er nur? Diese ganze Inszenierung schreit doch danach, dass er hinter der Tür hervorspringt und „Überraschung“ ruft. Mit einer vollen Sektflasche in der Hand. Also? Wo bleibt er? Leise ruft sie ihn. Das müsste er doch hören. Warum sie leise ruft, kann sie selbst nicht erklären, aber das unheimliche Gefühl hat sie nicht verlassen. In der Küche ist er nicht und ein kurzer Blick durch das Küchenfenster zeigt ihr auch im Garten kein Lebenszeichen. Er ist nicht im Arbeitszimmer und nicht im Zimmer der Kinder. Vielleicht ist er im Schlafzimmer, denkt sie. Wer weiß, wie weit diese Überraschung noch geht – ihm ist alles zuzutrauen.

Okay, sie wird mitspielen. Die letzten Meter zum Elternschlaftrakt schleicht sie jetzt. Behutsam setzt sie Schritt für Schritt, damit die Dielen vor der Schlafzimmertür nicht knarren und sie verraten. Leise drückt sie die Türklinke herunter und öffnet die Tür – da! Hier liegen wieder Rosenblätter – allerdings keine Spur mehr, nur ein paar versprengte Blättchen, die sie wieder an dicke Blutstropfen erinnern.

Nur noch drei kleine Schritte und dann kann sie um die Ecke schauen auf das Bett.

„Oh, mein Gott!“ Ihr wird eiskalt.

Found and lost

Sie steht einen Moment lang da und versucht, zu begreifen, was sie sieht. Nein, das kann nicht sein. Die Hitze. Das muss eine Halluzination sein. Sie tritt einen Schritt zurück. Vielleicht sollte sie etwas trinken. Dann schaut sie erneut um die Ecke und sieht: nichts. Das Schlafzimmer ist praktisch leer. Das Hauptmöbelstück, das Bett, ist weg. Auch das Bettzeug und die Nachtschränkchen und das große Bild an der Wand. Der Einbauschrank ist noch da, registriert sie aus den Augenwinkeln. Die Ironie dieses Gedankens wird ihr nicht bewusst. Sie ist geschockt. Wie kann das sein? Da! Ein Zettel liegt mitten im Raum auf dem Boden. Ein Brief? Sie hebt ihn mit zitternden Händen auf und faltet das Blatt auseinander. „Es tut mir leid. Robert“, steht darauf. Mehr nicht? „Es tut mir leid. Ist das alles?“ Sie ist verwirrt. Wut steigt in ihr auf. Das kann doch nicht wahr sein! Ihr wird übel.

Die Tür zum Balkon steht weit offen. Sie geht hinaus und schaut hinunter. Breite, grobe Reifenspuren sind auf dem trockenen Sandweg hinter dem Haus zu erkennen und in dem frisch angelegten Beet liegen ihre Geranien wie zertrampelt. „Tut ihm das auch leid?“ Sie geht wieder hinein und öffnet hektisch die Schranktüren. Seine Sachen sind weg. Nur eine Krawatte hängt noch an der Stange. Es ist die, die er von ihr zu Weihnachten bekommen hat. Die mit den Kätzchenmotiven. Er mag sie nicht. Deutlicher hätte er das nicht zeigen können. Wenigstens aus Anstand hätte er sie mitnehmen können! Jetzt ganz ruhig bleiben und nochmal von vorn, beschwört sie sich. Sie atmet tief durch, so wie sie es beim Yoga gelernt hat. Sie haben sich heute Morgen gestritten. Mal wieder. Aber davor lange nicht mehr. Doch wenn sie ehrlich ist, lief es schon einige Zeit nicht rund.

Neue Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn und laufen langsam in Rinnsalen an ihren Schläfen hinunter. Sie wischt sie energisch weg. Kann es sein, dass er sie verlassen hat? Einfach so und ohne Vorwarnung? Dass er die Frechheit besessen hat, einen Streit vom Zaun zu brechen, damit sie allein zum Einkaufen fährt und er sich in der Zeit, in der sie weg ist, aus dem Staub machen kann? Mit all den Möbeln? Das müsste er von langer Hand geplant haben. So einfach kann man hier nämlich nicht mit großen Autos vorfahren. Was für ein abgebrühter Feigling! So etwas hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Empörung steigt ihn ihr auf und paart sich mit ihrer Wut. „Dieser …“, ihr fehlen die Worte, „Schuft“, platzt es aus ihr heraus.

Aber was sollte das mit den Rosenblättern? Sie steht auf und geht die Spur entlang zurück bis zur Haustür. Er hat eine andere! Ja, das muss es sein. Er hat der anderen bestimmt sofort Bescheid gegeben, als sie weg war. Dann ist diejenige hergekommen und hat Rosenblätter verteilt. Für ihn, heute ist Valentinstag, der 14. Februar. Das wäre ja eine bodenlose Unverschämtheit! Dies ist ihr Haus und ihr Mann! Sie geht zurück in die Küche und trinkt ein Glas Wasser. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Sie sieht den Korb mit den Einkäufen, den sie auf die Anrichte gestellt hat. Es tropft aus ihm heraus, rot. Es sieht aus wie die Rosenblätter oder Blutstropfen. Aber es ist Himbeersaft. Sie hatte auf dem Markt frische Himbeeren gefunden, und die haben der Hitze und der Enge des Einkaufskorbes nicht Stand gehalten. Sie starrt auf die mit jedem Tropfen größer werdende Saftlache am Boden. Heute ist Valentinstag. Sie wollte einen leckeren, besonderen Nachtisch zaubern. Für ihn. Die Kinder würden nächste Woche aus den Ferien zurückkommen. Sie wollten das Procedere besprechen. Ruckartig dreht sie sich um und läuft die Treppe hinauf ins Bad. Tatsächlich, auch hier fehlen seine Sachen. Sogar die ausgefranste Zahnbürste hat er mitgenommen. Er scheint es ernst zu meinen. Beim Hinausgehen registriert sie eine Männerunterhose unterhalb des Waschbeckens. Es ist ein Stringtanga mit Leomuster. Sie stutzt kurz, denn so etwas hat sie bei ihm noch nie gesehen. Dann geht sie ins Schlafzimmer zurück. Sie steht einen Moment einfach nur da und schaut sich um. Wo soll sie denn jetzt schlafen? Nein, so geht das nicht. Sie mobilisiert all ihre Kräfte. Das lässt sie sich nicht bieten. So kommt er ihr nicht davon. Sie sucht ihr Handy. Sie wird ihn anrufen und zur Rede stellen. Sie wird ihn anschreien. Sie wird toben. Nein, vielleicht sollte sie das nicht tun, vielleicht wäre es besser, so zu tun, als hätte sie noch gar nicht bemerkt, dass die Sachen weg sind. Sie könnte sich von den beiden Rosen in der Vase entzückt zeigen und fragen, wo er denn sei. Wo ist bloß das verdammte Handy!? Wahrscheinlich ist es noch im Auto. Bestimmt hat sie es dort liegen lassen, als sie mit der neuen Fernbedienung für das Tor hantierte. Als sie beim Auto ist, bemerkt sie, dass sich das Hoftor nicht richtig geschlossen hat. Es steht einen großen Spalt offen. Blödes Ding! Wahrscheinlich klemmt es mal wieder. Die Fernbedienung liegt griffbereit neben dem Handy auf dem Fahrersitz und sie drückt wieder wahllos auf alle Tasten. Nichts rührt sich. Sie schnappt sich das Handy und wählt mit zittrigen Fingern seine Nummer. Verdammt – vertippt. Sie hat diese Touchscreen-Oberflächen schon immer gehasst – also nochmal. Eine Windbö wirbelt ein paar rote Rosenblätter von der Terrasse auf den Parkplatz. Endlich hört sie ein Freizeichen.

Das Echo

Leonie starrt aus dem Fenster. Es regnet. Wie an Bindfäden sinken dicke Regentropfen vom Himmel in den Hudson-River. Ihre Enkel haben angerufen. Sie vergessen nie den Valentinstag, aber sie konnte die Rufe nicht annehmen, wie sollte sie ihre Sehnsucht verbergen? Der Anrufbeantworter speichert die geliebten Stimmen für den Tag danach. Leon ist 18, kurz vor dem Abitur. Mit dem ersten Gedanken am Morgen schickt sie ihm liebevolle Gedanken, damit sie ihn stärken, wenn sie bei ihm ankommen. Lena macht jetzt ihren Master in Medical Engineering. Das hört sich so international an, und hatte ihre Hoffnung beflügelt, Lena würde hier bei ihr, an der Columbia Universität, in Manhattan studieren.

Mit ihren Kindern gab es seit Jahren keinen Kontakt. Sie haben ihr die Trennung nie verziehen. „Du hast unsere Familie zerstört. Du hast ihn gezwungen, die besten Jahre seines Lebens in Lüge zu leben. Du hast ihn ruiniert.“ Sie sieht das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Jüngsten vor sich, sie war gerade 14, als sie so bitter mit ihr abrechnete. Und noch heute sieht sie die tieftraurigen dunklen Augen der 16-jährigen, die schweigend den Ausbruch ihrer Schwester ertrug.

34 Jahre ist es her. Sie trafen sich beim Notar. Eine Woche vor dem Scheidungstermin. Er wollte unbedingt das Haus am Hang haben. „Für die Kinder, damit sie ihr Zuhause behalten“, sagte er. Dort zog er dann mit Christian ein. Die Kinder waren vernarrt in ihn und sie konnte es nicht leugnen, er wurde zum Anker für die heranwachsenden Mädchen. Ein liebevoller Mentor. Unaufdringlich, klug und interessiert an allem, was sie umtrieb. Das Verhältnis der Mädchen zu den Eltern blieb belastet. Sie trauten sich nicht, offensiv mit ihnen im Kontakt zu sein. Immer in Angst, den einen oder die andere zu verletzen. Nach der Scheidung lebten sie noch drei Jahre bei ihr in der Stadtwohnung – wegen der Schule. Mit dem Abschlusszeugnis in der Hand zogen sie aus. Ins Studium nach Hamburg und in die Ausbildung nach Verona. Wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, wohnten sie am Hang. Das konnte sie schwer ertragen. Mit ihrer Flucht nach Manhattan riss die Verbindung gänzlich.

Die Brücke in die Heimat bauten ihre Enkelkinder. Lena und Leon liebten es, mit ihrer Großmutter die Sommerferien zu verbringen. Besonders die Nächte im Riverside-Park, wenn die Augusthitze die Menschen aus den Häusern trieb.

Wenn nur nicht jedes Jahr am Valentinstag die Anrufe der Enkel kämen! Sie machen es ihr unmöglich, die Erinnerung zu verdrängen. Jedes verdammte Jahr läuft derselbe Film vor ihren Augen ab, als wäre es heute: Sie steht mit dem Auto vor dem Tor, das den Weg nach oben zum Haus öffnen soll. Einer der Knöpfe an der Fernbedienung hat die Schließautomatik ausgelöst, und das war’s. Nichts bewegt sich. Sie kommt nicht mehr rein in das halbleere Haus, aus dem ihr Mann gerade ausgezogen, oder besser gesagt, geflüchtet ist. Mehr aus Gewohnheit denn aus logischer Konsequenz, wählt sie seine Nummer, damit er ihr dieses Problem löst.

„Hallo, hier ist Christian.“ Eine warme, weiche Stimme am anderen Ende nimmt ihr den Atem. „Hallo, wer ist denn da, kann ich weiterhelfen oder Robert etwas ausrichten?“ Ohne Ungeduld kommt die freundliche Nachfrage und der sanfte Ton legt sich wie eine in Jod getunkte Watte über ihre frischen Wunden. Sie drückt ganz sacht auf den roten Hörer der Tastatur. So als wollte sie keinen Laut verursachen keine verräterische Bewegung.

„Christian also“, sie merkt nicht, wie sie mit sich selbst redet. „Christian ist der Stringtanga, der Rosenblätter streut.“ Nur kurz beißt sie die Zähne zusammen, dann richtet sie sich kerzengerade auf und fährt mit Schwung gegen das Tor, das sich danach willenlos öffnet. „Dafür wird er zahlen.“ Das war damals ihr erster Gedanke. Heute weiß sie, nicht Geld entscheidet darüber, ob man zum Gewinner oder zur Verliererin wird.

Sie wusste es damals doch längst. Robert war nur mit halbem Herzen bei ihr. Er machte ihr das Leben leicht, sie fühlte sich verwöhnt und wertgeschätzt, aber er selbst? Er blieb immer etwas unglücklich. Seine Melancholie bereitete ihr Schuldgefühle. Sie spürte etwas Unerfülltes, unheimlich Sehnsuchtsvolles. Ihr Misstrauen wuchs. Sie spionierte in seinem Handy und in seinen Taschen. Wurde zickig, rücksichtslos und fordernd. Sie wollte erzwingen, was nicht zu haben war. Dabei war sie sich seiner sicher. Und doch hatte sie eine Wandlung gespürt, wenn Männer in seine Nähe kamen. Seine Körperhaltung veränderte sich. Sie sah etwas, für das sie keine Worte hatte. Etwas, was sie so vermisste. So eine unbestimmte Vertrautheit, die sie von ihm nicht kannte. Ja, sie hatte es längst geahnt. Ihre Gereiztheit breitete sich wie Gift im ganzen Haus aus und machte allen das Leben zur Hölle.

Die Scheidung war für sie die logische Konsequenz. Als die Kinder aus den Ferien zurückkamen, hatte sie bereits eine Wohnung in der Stadt bezogen. Dann wurde es schmutzig. Sie konnte alles von ihm verlangen. Die lange Zeit der Geheimnisse hatte ihn fast in seinen Schuldgefühlen ertrinken lassen. Er war ihr ausgeliefert und am Ende ruiniert. Mit knapper Not konnte er das Haus am Hang retten. „Das bin ich meinen Kindern schuldig“, hatte er damals gesagt und zog dann mit Christian dort ein.

Leonie starrt in den Regen. „Ich freue mich auf den Sommer“, laut in die Stille rufend bekräftigt sie ihre Gedanken. Die Freude bleibt als Wort im Kopf hängen, aber sie spürt sie nicht, nirgendwo. Sehnsuchtstränen laufen über ihr Gesicht. Sie wählt die Handynummer ihres Enkels, der gerade im Haus am Hang ist. Nur ein Klingelzeichen und dann hört sie eine warme weiche Stimme, „Leonie, hier ist Christian. Bitte leg nicht auf, lass uns miteinander reden.“

Happy Valentine

Die automatische Tür vor der Intensivstation öffnet sich mit einem leisen hydraulischen Stöhnen, allerdings nur einen schmalen Spalt weit, bevor sie sich seufzend wieder schließt. Noch einmal drückt er auf das Bedienfeld neben der Tür, versucht, die Gummitasten einzeln und genau in der Mitte zu treffen. So, wie man es ihm am Empfang erklärt hat. Es gibt schon lange kein Personal mehr, das ihn begleiten würde. Sie sind froh, dass er kommt und sich zu ihr setzen wird. Niemand anderes hätte Zeit dafür, niemand die Energie. Fünfmal setzt die Tür zum Öffnen an und schließt sich, bevor er hindurch schlüpfen kann, fünfmal hat er sich schon bereitgemacht, nach der Tasche mit den Blumen gegriffen und sie wieder abgesetzt, doch nun ist es ihm endlich gelungen, mit seinen behandschuhten Fingern die Kombination richtig einzugeben. Oder die Götter haben ein Einsehen, denkt er. Sie haben mich wahrlich genug gequält. Wie es ihr wohl heute geht? Wenn sie nicht bald aufwacht …

Er biegt um die Ecke und sieht als erstes den riesigen Strauß roter Rosen, der neben ihrem Bett steht. Voll erblühte Baccara-Rosen mit samtigen dunkelroten Blättern, die fast wollüstig aussehen in ihrer Üppigkeit. Wer hat die denn am Empfang vorbeischmuggeln können, und wie lange stehen sie wohl schon hier? In der Hitze der Krankenstation haben sich die Blüten weit geöffnet, einige haben schon Blätter verloren, eine Spur wie von Blutstropfen zieht sich vom Waschbecken in der Ecke zum Bett. Wie armselig sein kleiner Wiesenblumenstrauß dagegen ist, denkt er und stellt die Tasche achtlos in die Ecke. Vorsichtig setzt er sich aufs Bett und streicht ihr sanft über die Stirn. Sie ist heiß. Noch immer glüht sie im Fieber, in diesem Fieber, dessen Ursache sie nicht kennen und für das sie einfach kein Heilmittel finden. Und sie suchen auch nicht mehr, da ist er sich sicher. Wer alt ist, der soll einschlafen, soll Platz machen für die jungen Kranken. Wenn es sein muss, dann soll man eben am Fieber sterben. Niemand gibt es zu, aber er ist sicher, dass das viele hier denken. Er geht zum Waschbecken, benetzt einen Waschlappen mit kaltem Wasser und beginnt vorsichtig, ihr den Schweiß abzuwischen, der in langen feuchten Bahnen an ihr herunterläuft – vom Gesicht ziehen sich die glänzenden Spuren über ihren Hals, das Dekolletee bis zwischen ihre eingefallenen Brüste. Und wie immer beginnt sie zu murmeln, wenn er das tut. Sie wirft ihren Kopf hin und her, und aus ihrem Mund, dessen aufgesprungene Lippen niemand außer ihm mehr an ihre einstige Schönheit erinnern, dringen leise Wortfetzen. Heiß, meint er zu hören und fragt sich, ob sie doch noch da ist, ob sie alles wahrnimmt, was um sie herum vorgeht. Niemand glaubt das außer ihm. L, l, l. Was will sie ihm nur sagen, welches Wort will so gar nicht mehr den Weg über ihre Lippen finden? Leben? Lena, Leon oder vielleicht auch einfach „lasst mich!“? Versucht sie, ihm etwas zu sagen, oder ist sie gefangen in einem dieser Fieberträume, in denen sie sich verzweifelt hin und her wirft, versucht mit zittrigen Händen irgendetwas zu drücken, und dabei versucht, sich das schweißnasse Nachthemd herunterzureißen? Vielleicht sollten wir dich gehen lassen, murmelt er zurück, aber ich kann nicht. Er haucht einen Kuss auf ihre Stirn. „Happy Valentine, Leonie!“

Jetzt wird es spannend

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