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Wie ein Vogel im Wind

Kapitel 1Wie ein Vogel im Wind
Karin Harries-Hedder
Kapitel 2Systemfolgen
Renate Haußmann
Kapitel 3Hamburg, Leipzig, Nirgendwo
Marie Wedel
Kapitel 4Neustart
Karin Harries-Hedder

Wie ein Vogel im Wind

Ein Blick auf die Uhr, er würde es noch schaffen. Dann startete er den Motor, bewegte das Steuerruder, die Nase des kleinen Motorfliegers wendete sich dem Himmel zu. Ein breites Strahlen glitt über sein Gesicht. Das Metall des Flugzeugs glänzte im Licht der aufgehenden Sonne mit seinem Blick um die Wette. Unter ihm erlosch das Licht der Straßenlaternen, die Sonnenstrahlen übernahmen die Regentschaft. Das Scheppern der Mülleimer, das Aufheulen der Motoren, das Stimmengewirr der Kinder auf dem Weg zur Schule waren für ihn nicht mehr zu hören, nur das gleichbleibende Surren und Brummen seines Fliegers.

Er fühlte sich jetzt wie ein Vogel, der auf den Winden tanzt, frei und unabhängig. Wie gut, dass er heute Morgen beim Abschied rasch weggekommen war. Geweint hatte sie – wie immer – wenn er wegmusste. Es waren schwer auszuhaltende Momente, am liebsten hätte er sie abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt, sie hing ziemlich lange an seinem Hals, Tränen bedeckten seine Brust. Geduldig ertrug er es. Viel Schlaf hatte er nicht bekommen, sich mit ihr wie im Tanz umschlungen, die Feuchtigkeit ihrer Lust wie Manna genossen, die spitzen Brüste sanft massiert, der Tanz wurde immer wilder, ihre Körper glänzten von der Nässe des Schweißes. Die Ekstase genossen sie, bis sich der Springbrunnen der Liebe über sie beide ergoss.

Entspannt flog er eine weite Kurve, seine Gedanken kreisten um das Wort Liebe. „Ich habe wohl noch nie geliebt“, redete er laut vor sich hin. „Um eine Frau geweint auch noch nicht.“

Er näherte sich seinem Zielflugplatz Hamburg, langsam sank er in weiten Schleifen auf die Landebahn zu, die Räder fuhren aus den Klappen, er rollte aus und steuerte den Flieger auf den vorgegebenen Platz. Angekommen dehnte er seinen langen, schlanken Körper, eilte durch die Tür zur Kontrolle. Die Formalitäten waren rasch erledigt. Er suchte noch die sanitären Einrichtungen auf und hielt inne. Betrachtete sich einen Augenblick im Spiegel. Die blonden Haare waren voll und wellig, in Stufen geschnitten, sie umrandeten sein schmales Gesicht mit der geraden Nase, strahlenden, blauen Augen und den vollen nach oben geschwungenen Lippen. Er grinste sich spitzbübisch an: „Du siehst nicht nur verdammt gut aus, Jan“, dachte er, „du bist auch schon ein raffiniertes Kerlchen, das nichts anbrennen lässt.“ Jetzt musste er aber schleunigst weiter, um 9: 00 Uhr begann seine Konferenz im Büro. Bevor er sich ein Taxi nahm, rief er noch schnell seine Frau an. „Bin gut gelandet, Liebling, die Geschäftsbesprechung in Leipzig ging – wie befürchtet – gestern doch noch sehr lang.“

„Schön, dass du heil wieder angekommen bist“, antwortete sie. „Freu mich auf dich.“ Zufrieden mit sich und der Welt stieg er ins Taxi.

Das Taxi fuhr durch die Hamburger Rush Hour, beziehungsweise stoppte es mehr, als dass es fuhr. „Merde“, schimpfte der marrokanische Taxifahrer, „es gibt wohl keine Straße mehr ohne Baustellen.“ Sie fuhren an der Alster vorbei, die ersten Segler und Ruderer waren schon auf dem Wasser, ein weißer Alsterdampfer tutete. Um die Alster herum schwitzten schon die Jogger. Jan freute sich immer wieder über den Anblick dieses Flusses, der hier mitten in der Stadt zu zwei Seen gestaut war, umgeben von großzügigen Parks und luxuriösen weißen Prachtvillen an der Außenalster und an der Binnenalster von stattlichen Geschäfts- und Kontorhäusern. Das Sammelsurium von modernen Geschäfts- und Wohnhäusern in der Hafencity war für Jan nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Außer, dass sie alle ungefähr gleich hoch waren, wirkten sie wie zusammengewürfelt, eine Spielwiese der Architekten. Ihm wäre ein einheitlicher Baustil lieber gewesen.

Er schwang sich aus dem Taxi und ging schnellen Schrittes zur gläsernen Eingangstür. Der Pförtner öffnete. Er drückte auf die 9 im Fahrstuhl. „Der Chef residiert immer oben“, murmelte er grinsend vor sich hin. „Guten Morgen, Herr Vogler“, begrüßte ihn seine Sekretärin. „Der Kaffee und das Brötchen warten schon auf Sie. Die Unterschriftenmappe liegt auf Ihrem Schreibtisch.“ Er betrachtete sie in ihrem dezenten Kostüm, dunkelblau war es, die Knie bedeckt, die Bluse mit Stehkragen strahlte im hellen Weiß. Ihr blondes Haar war raffiniert hochgesteckt, an den Ohren schimmerten Perlen. Gekonnt lief sie mit wogendem Schritt auf ihren hochhackigen, spitzen Schuhen durch das Büro. Er betrat seine Arbeitsräume, stand erst einmal am Fenster und betrachtete das Leben im Hafen. Der Anblick war jeden Morgen ein Highlight für ihn: Containerschiffe, Elbfähren, Ausflugsdampfer, riesige rote Kräne auf der gegenüberliegenden Elbseite. Er roch förmlich das Wasser, hörte das Tuten der Schiffe. Über allem thronten die Elbphilharmonie und der grüne runde Turm des Michels. An den Landungsbrücken wimmelte es schon von Menschen.

Seine Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür. „Eine Frau aus Leipzig hat heute Morgen schon mehrfach angerufen. Es sei sehr dringend, dass sie zurückrufen. Sie meinte, ihre Telefonnummer haben sie.“ Jan blickte kurz auf und nickte. Als sich die Tür schloss, griff er zum Telefonhörer.

Systemfolgen

Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, war ein lebendiges Tier mitten auf einer großen Bühne. Ein riesiger bunter Papagei. Jan schloss wieder die Augen. Das Gesicht über ihm verschwamm zu einer olivgrünen Masse. Grün wie die Schwanzfeder des Vogels, der im Käfig des Vogelhändlers saß. Ein riesiges buntes Bild lebte für einen kurzen Moment in ihm auf und verblasste sofort wieder.

„Herr Vogler, können Sie mich hören?“ Von ganz weit weg kam die Stimme. Wieso sprach jemand zu ihm aus einem Urwald, in dem Papageien zu Hause sind? Er beschloss, sich erst mal nicht zu rühren. Irgendetwas verbot ihm, sich zu erkennen zu geben. Hier passierte etwas, was er nicht einschätzen konnte. Etwas außerhalb seiner Kontrolle. Und das konnte gefährlich werden. Das Konstrukt seiner Aktivitäten in einem sehr durchdachten System ist fragil. Wo war er? „Ist das Ihre Frau?“ Wieder diese Stimme. Sie wurde lauter. Das bunte Bild verschwand im Nirgendwo. Auch der Papagei war weg. Er traute sich, die Augen einen Spalt zu öffnen, nur um zu sehen, wer da mit ihm sprach. „Nein ich kenne diesen Mann nicht“, ganz leise kam es der Schönen, die dicht an der Tür stand, über die Lippen. Das war ganz offensichtlich gelogen. „Hier sind spezielle Verhältnisse im Spiel“, dachte die Krankenschwester. „Wir saßen zufällig nebeneinander in der Oper“, vollendete die Frau an der Tür die Schwindelei. „In der Oper?“ Aber wie kam er jetzt hierher und wo war hier? Wieder versank er in einer anderen Welt. Papageien tanzten wie Schmetterlinge. Schwerelos, mit olivgrünen Schwanzfedern flatterten sie platt und glänzend wie Oblaten, in einem Poesiealbum. „Kann ich jetzt gehen?“ Jan wusste nicht, ob er wach war oder träumte. Er öffnete die Augen. Ein Mann und eine Frau standen an seinem Bett. Der eine offensichtlich ein Arzt. Komisch, er fand gar nichts dabei. Er lag im Krankenhaus. Das war jetzt geklärt. Die Frau neben dem Arzt, die kannte er. Sie hatten nebeneinander gesessen in der Oper. Ja klar, sie roch so gut. Obgleich sie ein sehr teures Kleid anhatte, umgab sie ein Hauch bürgerlicher Betriebsamkeit. Er fand das irgendwie fürsorglich-erotisch. Ob sie etwas mit Escort zu tun hatte? Eine Escort Lady in der Zauberflöte? Er war sich sicher, dass sie sich schon einmal begegnet waren, bevor sie nebeneinander im Parkett saßen.

„Ja, gehen Sie ruhig, aber hinterlassen Sie Ihre Adresse an der Anmeldung, falls es noch Fragen gibt.“ Das war jetzt wieder der Arzt. „Ist schon gut Chef. Ich mach das schon, Chef.“ Das war eindeutig die Stimme seiner Sekretärin, die nun wie gewohnt in den Fürsorgemodus geschaltet hatte. Nun erkannte er sie. Sie wirkte verkleidet auf ihn. Ihm wurde wieder etwas schlecht, aber die Erinnerung funktionierte.

Carina wollte sich nicht beruhigen, als er sie zurückrief. „Leipzig und Hamburg sind einfach nicht kompatibel“, schrie sie ins Telefon. „Mir ist dein Erscheinen zu zufällig“, ihre Stimme erstickte. „Du weißt es doch, ich bin wie eine Wolke. Nicht greifbar und doch treu. Immer in Bewegung, aber verlässlich wiederkehrend“, säuselte er zurück. Das geht schief‘, dachte er im nächsten Moment und bevor er die Strategie der Schwalbe für einen Sommer, die mal hoch und dann mal wieder ganz tief segelt, bis sie in den Süden zur Liebsten zieht, auspacken konnte, hatte sie wütend aufgelegt. Das würde Folgen haben, da war er sich sicher.

Der nächste Anruf kam von seiner Frau. „Hallo Schatz“, er erkannte die schmallippige Ironie. „Der Chauffeur bringt dir unsere Opernkarten und das Kleid, das du mir zum Hochzeitstag geschenkt hast. Mach Deiner Sekretärin eine Freude. Im Restaurant La Opera ist auf Deinen Namen ein Tisch reserviert. Sie empfehlen heute Miesmuscheln in Weißwein.“

Hamburg, Leipzig, Nirgendwo

„Hallo Windröschen, du bist ja schon wieder gewachsen.“ Dünne Ärmchen schlingen sich um seinen Hals, drücken ganz fest zu und mit aufgeregter quietschender Stimme erzählt sie in seiner Halsbeuge. Von der neuen Kita, von Lea, die nicht mehr ihre Freundin sein will, davon, dass Brokkoli wirklich eklig schmeckt und dem Frosch, der jetzt im Wassereimer auf der Terrasse wohnt. Rosas Stimme überschlägt sich fast, Jan nickt und grummelt zustimmend.

Glück erfasst ihn von oben bis unten oder ist es kreuz und quer? Egal, schießt es ihm durch den Kopf. „Onkel Jan, den Bernhardinertanz“, fordert das Windröschen. Und so tanzen, stampfen und brummeln sie zusammen durch die Wohnküche. „Lauter“, fordert Rosa und Jan röhrt rau und heiser, „Ich bin ein Wiener Bernhardiner, wuf wuf wuf – wuf – ich trinke Rum und esse Hühner, wuf wuf wuf – wuf.“ Mehr Text gibt es nicht, also beginnen sie immer wieder von vorne und bei den Hühnern schaut er Rosa super hungrig an. Dann lassen sie sich erschöpft und lachend aufs Sofa plumpsen.

Dieses Mädchen mit dem blassen, durchscheinenden Gesichtchen und der kleinen, blauen Ader über der Nase, hat sich in seinem Herzen ausgebreitet. Er erinnert sich an die vielen unfassbar müde durchtanzten Nächten. Und je schwerer das kleine Wesen in seinen Armen wurde, desto schwerer fühlte er auch die Verantwortung und die Bindung an dieses kleine Kaff im Nirgendwo, dort wo er immer willkommen war und es auch bleiben würde, bedingungslos. „Onkel Jan hat Besuchsrecht auf Lebenszeit, ein Zimmer und die Lizenz zum Gehen“, so formuliert es seine Schwester. „Wetterwolken kann man nicht einfangen, sie schenken auch nichts zu Weihnachten. Wenn sie zu Besuch sind, sind sie wie eine leichte Decke. Zieht man sie bis zum Kinn, werden die Füße kalt. Umhüllt man die Füße, bekommt man Gänsehaut an den Armen. Wetterwolkenmänner taugen nur als Brüder.“ Sie lacht und schaut ihm warmherzig spöttisch in die Augen.

„Komm Windröschen, wir fahren zu Hagenbeck und dann werfen wir dich den Ziegen zum Fraß vor“, schlägt Jan vor.

Neustart

Eine Woche war er bei seiner Schwester und seiner Nichte Rosa, ein Labsal für seine geschundene Seele. Jetzt ist er wieder zurück in der Klinik. Seit einem Jahr ist er in der Privatklinik, die den Namen ‚Auszeit‘ trägt.

Damals nach dem Zusammenbruch in der Oper hatte sich seine Frau getrennt, sie lebt jetzt mit den Kindern in einer anderen Stadt. Carina, seine Geliebte in Leipzig, hatte auch das Weite gesucht.

Sein Körper hatte gestreikt. Er bekam unvorhersehbare Schwindelanfälle. Die Ärzte untersuchten ihn und diagnostizierten ein psychosomatisches Leiden. Ambulante Versuche, die Krankheit zu beherrschen, scheiterten, arbeiten konnte er kaum noch. So hatte er seinem Stellvertreter die Geschäfte für zwei Jahre übergeben und war in die Klinik gegangen, in eine teure Privatklinik voller wohlhabender Menschen, die wie er ihr Leben nicht mehr im Griff hatten.

Jetzt sitzt er im grauen Ledersessel mit Blick auf den Park. Er fühlt sich wohl in dieser geschützten Welt. Die Schwindelanfälle sind nach eineinhalb Jahren verschwunden.

Die Teilnehmer seiner ‚LSS-Gruppe‘ (Lebenssinnsuche-Gruppe) – in normalen Kliniken heißen sie Therapiegruppen – haben ihm den Spitznamen ‚Teflonflieger‘ gegeben, weil an der Oberfläche alles von ihm abperlt. Als er daran denkt, seufzt er. „Ja, es ist schon ein schwieriger Lernprozess, sich von anderen Menschen auch seelisch berühren zu lassen.“ Einen dicken Schutzpanzer hatte er um sich aufgebaut, der langsam etwas durchlässiger wird.

„Merkwürdig ist das schon“, denkt er, „mit Geld kann man sich zwar keine Liebe, aber Aufmerksamkeit, ehrliche Rückmeldung und Interesse an der eigenen Person kaufen.“ All dies hat er hier erfahren. „Andererseits ist das auch gut“, schmunzelt er vor sich hin. „So wie ein Vogel im Wind.“

Wie sollte sein Leben weitergehen?

Die LSS-Gruppenberater sagen, er habe jetzt die Wahl, wie er Beziehungen weiter gestalten wolle. Auf jeden Fall sollte er das Schwindeln lassen, keine Lügenwelten mehr aufbauen und – seine Beziehung zu Rosa zeige es doch – Nähe zulassen.

Seine Augen strahlen: „Auf jeden Fall werde ich fliegen und dabei frei sein.“

Jetzt wird es spannend

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