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Vollstreckung

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Es war im August 1993, als der Vollstreckungsbeamte kam. Ich hatte keine Ahnung, welche Folgen sein Besuch haben würde. Ich wusste nicht einmal, was ein Vollstreckungsbeamter ist.

Im Zentrum der Stadt betrieb ich einen kleinen Laden. Einen sehr kleinen Laden. Ich saß am Schreibtisch, trank Kaffee, hörte Radio und las ein Interview mit Henry Maske. Das Interview erstreckte sich über drei große Zeitungsseiten, und ich las es bereits zum zweiten Mal. Ich interessierte mich für berühmte Menschen, egal ob Sportler, Wissenschaftler oder Künstler. Ich glaubte, wenn ich nur genügend Aussagen von diesen Leuten sammelte, würde ich eines Tages selbst berühmt sein. Ein heißer Sommer war vorbei. Noch immer strahlte die Sonne ungebrochen auf das Pflaster des Holländischen Viertels. Kein Baum in dieser Straße, der Schatten spenden könnte. Jahrelang waren die Häuser verfallen. Sie sollten abgerissen werden, dann doch wieder nicht.

Selten durchquerten Potsdamer das Gebiet, denn dafür gab es keinen Grund. Kaum Geschäfte oder Büros. Zugenagelte Häuser und Ruinen schreckten Spaziergänger eher ab.

Touristen aus dem Westen kamen am Wochenende, zeigten sich gegenseitig, was sie sahen, redeten laut und filmten die Häuser mit der Kamera. Einige Leute wohnten noch im Viertel, einzelne Häuser waren saniert. Neues Leben regte sich. Es gab zwei Kneipen, eine Arztpraxis, einen Notar, einen Porzellanladen. Und mich. Das Ambiente. Mit einem Angebot von Kunst bis Trödel.

Kurz und gut, es kam der Vollstrecker. Die Tür stand offen und als der Mann eintrat, erkannte ich sofort, dass er Unheil bedeutete. Ein großer Mann mit Glatze. Er trug einen schwarzen Aktenkoffer, dick wie eine Nähmaschine, und blieb auf der Türschwelle stehen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht hätte ich ihn für einen Vertreter halten können. Aber der Mann war kein Vertreter. Er blickte streng:

”Sind Sie Nora Simon?”

”Ja”, sagte ich prompt.

”Sind Sie die Inhaberin des Geschäfts?”

Ich nickte knapp. Der Mann ergriff die Klinke.

”Ludwig, Finanzamt Potsdam, ich bin Vollstreckungsbeamter, schließen Sie bitte die Tür ab.”

Ich stand auf, schloss die Tür und drehte den Schlüssel herum. ”Ich muss Sie leider pfänden”, sagte der Mann.

”Ach?”

Der Fremde musterte unverwandt und aufmerksam die Regale, Schränke und Vitrinen. Er hob seinen Koffer etwas an, fand aber keinen Platz, ihn abzustellen. Ich betrachtete mein Geschäft nun ebenfalls, als sähe ich es zum ersten Mal. Es war ein lang gestreckter Raum, höchstens fünfzehn Quadratmeter in der Fläche, aber drei Meter hoch. Die Regale reichten bis unter die Decke, waren angefüllt mit Kunstgegenständen und Kunsthandwerk aller Gattungen und Zeiten, altes Porzellan, neue Keramik, handgefertigte Notizbücher, gewebte Stoffe, Stickereien. Bücher. An den Wänden hingen Bilder, kunstverzierte Spiegel, Mosaiken aus Glas. Der Schmuck war in den Vitrinen. Die wenigen Antiquitäten, ein Sekretär, eine Kaminuhr und eine Kommode waren unverkäuflich, sie dienten als Dekoration. Auf den Dielen standen alte Tontöpfe. Man konnte kaum treten.

Ludwig verkündete, dass ich dreitausendneunhundert Mark Schulden beim Finanzamt hätte, die sich aus der Schätzung des Umsatzes ergäben.

Ich bewegte mich zur hinteren Wand. Dort stand ein ovaler Tisch aus Metall, olivgrün, einige Male überstrichen, etwas eingebeult und zerkratzt. Jugendstil. Ich räumte ihn soweit frei, dass der Beamte seinen Koffer abstellen konnte. Dabei registrierte ich das RAF-Zeichen, das jemand eingeritzt hatte, als der Tisch noch zum Inventar des Hofcafés gehörte. Ich wollte es zudecken, aber das tat bereits der Vollstrecker, indem er sich auf einen Stuhl zwängte, den Koffer auf das Symbol der Organisation stellte und ihn öffnete. Ich ging zum Schreibtisch und blieb dort angelehnt stehen.

Er brachte eine Mappe zum Vorschein.

”Dreitausendneunhundertdreiundsiebzig Mark und fünfzig Pfennig genau”, verkündete er.

”Viertausend?” sagte ich.

”Ja, wie gesagt, ich muss Sie pfänden.”

Er sah sich erneut im Raum um.

”Kann ich alles nicht gebrauchen”, murmelte er. ”Das hat alles keinen Wert.”

Ich nickte irritiert.

”Frau Simon, wie sieht es in Ihrer Wohnung aus?”

”Ist offen”, sagte ich, wandte mich zum Fenster und nickte über die Straße hinweg. ”Sie können hochgehen, ich besitze nichts.”

Während der Beamte mit einem Kopfschütteln das Angebot ausschlug, dachte ich blitzschnell darüber nach, ob ich ganz ehrlich war.

”Ach doch, einen Fernseher und einen Videorecorder habe ich.”

”Das hat alles keinen Wert”, sagte Ludwig und schüttelte betrübt den Kopf.

”Wie sieht es in Ihrer Kasse aus?”

Etwas benommen ob der Bewertung meines Eigentums drehte ich mich um und zog die Schublade des Schreibtisches auf. Hatte er die Antiquitäten nicht gesehen oder nicht als solche erkannt oder hatten sie tatsächlich keinen Wert mehr? Die einzigen Stücke, die ich aus der Ehe mitgenommen hatte. Wie auch immer. Der Schreibtisch war ein einfaches, schwarz gestrichenes Modell aus Holz, das Mona mitgebracht hatte, als wir den Laden noch gemeinsam betrieben hatten. Er stand direkt vor dem Fenster. Ein grüner Drahtkasten beherbergte die Einnahmen. Herr Ludwig erhob sich etwas zu hastig, wobei der Stuhl an einen Spiegel stieß, der lose durch Angelsehnen befestigt war. Mit einer Hand brachte er ihn wieder in Ruhestellung, und wir blickten gemeinsam in die Schublade. Ich klappte den Deckel der Kasse auf und zählte die Scheine vor. Es waren neunzig Mark.

”Gut. Geben Sie mir sechzig, dreißig muss ich Ihnen lassen.”

Er nahm das Geld, und während er in seinen Unterlagen blätterte, schob ich die Lade mit dem Hintern wieder zu.

”Warum haben Sie sich denn nie bei uns gemeldet? Das hätte sich doch vermeiden lassen können.”

”Ich weiß nicht, ich dachte, ich hätte nichts zu bezahlen.”

”Aber Sie wissen doch, dass Sie trotzdem die Steuerformulare auszufüllen haben?”

Ich blickte ihn aufmerksam an.

”Die haben Sie doch bekommen?”

”Nein, keine Ahnung.”

Er schüttelte den Kopf.

”Ihr hier im Osten denkt, es geht alles so gemütlich weiter.”

Er fingerte wieder in seinen Unterlagen. ”Ich gebe Ihnen eine Quittung über die sechzig Mark”, sagte er.

”Wohin sind die denn geschickt worden, die Formulare?” fragte ich.

Der Mann gab mir den Beleg in die Hand und sah in seinem Ordner nach.

”Reiterweg eins", sagte er.

”Ach, da wohnt mein Mann, da wohne ich schon lange nicht mehr.”

Ich betrachtete die Quittung.

”Kann ich die von der Steuer absetzen?”

Ludwig lachte kurz und trocken, machte aber sofort wieder auf steinerne Miene.

”Ich gebe Ihnen einen Rat”, sprach er, während er seine Papiere sortierte, den Koffer schloss; und ich auf dem Schreibtisch saß und ihm dabei zusah.

”Wenn Sie morgen früh, gleich ganz früh zum Finanzamt kommen, vielleicht lässt sich dann noch etwas machen. Melden Sie sich bei Frau Engels, pünktlich um acht Uhr. Aber Sie müssen wirklich kommen.”

Ich nickte, und Ludwig betrachtete kritisch, mehr oder weniger abschließend den Laden.

”Hoch kann der Umsatz ja hier nicht sein”, sagte er. „So was verkauft sich doch heutzutage überhaupt nicht.“

”Schwacher Umsatz”, bestätigte ich. ”Ich glaube, ich sehe mir erst mal meine Bücher an, bevor ich zu Ihnen komme.”

”Machen Sie das.”

Er ging zur Tür; und ich folgte ihm, um aufzuschließen.

”Auf Wiedersehen, Frau Simon, und kommen Sie wirklich.”

Als wir uns auf der Straße verabschiedeten, zögerte er, hob den Finger und sagte:

”Ich gebe Ihnen noch eine Empfehlung.” Er blickte mir direkt in die Augen.

”Ich glaube, der Laden hier bringt nichts, geben Sie ihn auf, beantragen Sie Sozialhilfe und werden Sie nie wieder selbständig, einverstanden? Also, auf Wiedersehen.”

Er drehte sich um und ging.

Sprachlos blieb ich an der Tür stehen und sah ihm nach.

Schließlich kehrte ich zurück zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, nahm die vier Einhundertmarkscheine, die unter der Kasse lagen und steckte sie in die Brusttasche meiner Latzhose.

Ich schloss den Laden von innen ab, setzte mich an den Tisch und starrte aus dem Fenster. Ich hatte einen Schock.

Die Faulheit der Frauen

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